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Der Horizont ist rot geworden

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"Die rechte Seite in Deutschland wird so lange regieren, bis eine Mehrheit links von der Mitte zustande kommt. Das ist mit der diesjährigen Wahl eindeutig geschehen.“ Gustav Heinemann, früher Christdemokrat und Bundesminster unter Adenauer, jetzt Sozialdemokrat und Bundespräsident der Ära Brandt, nach dem Wahlsieg der Sozialdemokraten und der Liberalen in der BRD am 19 Nnvp.mht>r 1979.

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"Die rechte Seite in Deutschland wird so lange regieren, bis eine Mehrheit links von der Mitte zustande kommt. Das ist mit der diesjährigen Wahl eindeutig geschehen.“ Gustav Heinemann, früher Christdemokrat und Bundesminster unter Adenauer, jetzt Sozialdemokrat und Bundespräsident der Ära Brandt, nach dem Wahlsieg der Sozialdemokraten und der Liberalen in der BRD am 19 Nnvp.mht>r 1979.

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Nicht nur Deutschland ist auf Linkskurs gegangen. Europa wird der „rote Kontinent“. Im Osten hat der Kommunismus im Jahr 1972 endgültig die Wacht an der von ihm 1945 erkämpften Demarkationslinie seiner Macht in Mitteleuropa bezogen. Im Zusammenhang mit dem momentanen Ereignis des Wählsiegs der SPD und der FDP in der BRD am 19. November 1972 hat der sozialdemokratische Bundeskanzler Brandt von „einem gewissen Abschluß der Nachkriegszeit“ gesprochen. In Wirklichkeit ist ein Jahrtausend europäischer Geschichte zu Ende gegangen. An diesem Novem-bertag 1972 hat eine Mehrheit des Wählervollkes in der BRD unter dem Beifall der übrigen Welt bekräftigt, daß die Ostgrenze der freien Welt hinter jene Linie zurückgenommen worden ist, die vor genau 1000 Jahren Ostgrenze des Fränkischen Reiches war. Die seither bestandene europäische Ordnungsmacht in der Mitte des Kontinents hat zu bestehen aufgehört. Europa ist unter das Kommando der beiden Vormächte in den Brückenköpfen Ost und West getreten. Dieselben Massenmedien der freien Welt, die 1968, im Falle der CSSR, die dortigen Exzesse eines Panzerkommunismus als Gefahr für Frieden und Freiheit verdammten, werben jetzt für .den Glaube an eine künftige Friedensordnung, deren stärkster Faktor die politische und militärische Ordnungsmacht des kommunstischen Ostens ist.

Zum Umschwung des geistigen und politischen Klimas in Europa gehört auch die Tatsache, daß jetzt in der öffentlichen Meinung der freien Welt eine Gegnerschaft zum Kommunismus, ja vielfach zur Linken an sich, vielfach gleichgesetzt wird mit: Feindschaft gegen den Frieden, Hang zum Revanchismus, Neofaschismus usw. Nicht nur in der kommunsisti-schen Propaganda, sondern in fast allen Massenmedien der freien Welt wird den USA der direkte Vorwurf gemacht, sie seien nicht imstande, den Selbstbehauptungswillen der Gegner des Kommunismus in Südvietnam zu brechen und diese zu zwingen, einer Löwenlösung des Vietnamkonflikts zuzustimmen, der-zufolge sich die Betroffenen errechnen könnten, wann sie das bekannte Schicksal erleben werden, das Gegner des- Kommunismus unter der Herrschaft von Kommunisten erlei-den.müssen.

In diesem Vorwurf an die USA tut sich der sozialdemokratische Ministerpräsident Schwedens Olof Palme hervor. Er kann sich in der freien Welt des Westens eine solche Politik erlauben, weil in Schweden, so wie in den drei anderen skandinavischen Staaten, die politische Linke in der Lage ist, dank besonderer Umstände auch bei nur geringer Parlamentsmehrheit oder als Minderheitsregierung an der Macht zu bleiben: Weil die dortigen NichtSozialisten (Konservative, Agrarier, Liberale usw.) mit bürgerlichem Freiheitsstolz die „Eigenständigkeit“ ihrer politischen Splittergruppen zelebrieren und außerdem die „loyalen Kapitalisten“ herausgefunden haben, daß ihnen die Linke gewisse vorteilhafte Renditen beläßt, sowie sie nur auf eine ausschlaggebende politische Macht verzichten.

Nicht nur im europäischen Norden ist der politische Horizont rot. Auch im Königreich der Niederlande gelang es zu Jahresschluß der Linken bei der Wahl in die Kammer mit der Mandatsstärke ihrer Gegner in der bisherigen Regierungskoalition gleichzuziehen. Ohne den erklärten Abfall der „progressiven Katholiken“ von der dortigen „Katholischen Volkspartei“ und ohne das Auftreten dieser „progressiven Katholiken“ als eigene wahlwerbende Partei wäre die politische Linke in den Niederlanden nicht in die Lage gekommen, mit ihrer Minderheit die Regierung auszumanövrieren. Im benachbarten Belgien sah sich König Baudouin fast gleichzeitig gezwungen, nunmehr einen Sozialdemokraten mit der Bildung einer anderen Regierung zu betrauen. In Frankreich aber wiederholt sich in diesen Tagen eines der fatalsten Experimente der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts: noch einmal ist es dort den Kommunisten gelungen, um sich eine „Volksfront“ unter Einbeziehung von Sozialdemokraten, Linksliberalen und sonstiger „progressiver Kräfte“ zu vergattern. Eilends attestieren die Meinungsforscher dieser neuen Volksfront in Frankreich, sie hätte vom Fleck weg mehr Anhänger als die amtierende Regierung. Gleichzeitig bestätigten Parlamentswahlen in Italien, daß die dortige KP, die stärkste KP in der freien Welt, ihren Vormarsch zur Macht „mit kleinen Schritten“ fortsetzt. Es war die KPI, die unter dem beifälligen Nicken der freien Welt den unerläßlichen Beitrag zum Einfädeln der Verhandlungen über die Bonner Ostverträge geleistet hat. Die KP Italiens tat das erklärtermaßen wohl nur im Interesse des Friedens. Sie, die 1968 Tränen des Zornes über die Opfer in der CSSR vergossen hat. Nun, diese Opfer waren engagierte Kommunsiten. Für andere politische Opfer vergießt ein Kommunist keine Träne. Bleibt noch zu sagen, daß der Sozialismus in aller Welt über die Toppen flaggte, als sich 1972 das sozialistische Experiment in Deutschland und Österreich so erfolgreich und ausstrahlend erwies.

Zu den reellen Zukunftserwartungen der Kommunisten und der Linken gehören insbesondere jene, die sie in einen baldigen Sturz der jetzigen Regierungen in Athen, Madrid und Lissabon setzen. Dabei kommt der Linken zugute, daß auch rechts von ihr vielfach die Erwartung besteht, wonach dem Ende dieser „Exzesse der politischen Rechten“ ein Regime der radikalen Linken folgen wird. Nicht wenige Katholiken verbinden ihre eigenen politischen Erwartungen mit dieser von ihnen gern erhofften Wendung nach links. Schließlich: ist nicht eine Diktatur,namentlich eine Militärdiktatur, so ziemlich das abscheulichste in der Politik? Ausnahmen von dieser Ansicht bestehen natürlich im Falle einer abgestützten Diktatur der Linken. Ein wegen seiner eher liberalen und humanan Gesinnung in aller Welt geschätzter europäischer Sozialist erklärte unlängst dem Wochenmagazin der vereinigten Linken in der BRD „Der Spiegel“: Möglicherweise werde für viele südamerikanische Staaten eine „militärisch verbrämte Mischform zwischen Castro (Kuba) und Allende (Chile) zum Modell werden“. Die Katholische Jugend dieses Landes, ansonsten gegenüber putschenden Militärs und Diktaturgelüsten äußerst mißtrauisch, fand in diesem Fall keinen Anlaß zur Kritik. Inzwischen hat der Marxist Allende tatsächlich die Generalität der nach preußischem Vorbild einexerzierten Armee Chiles als Stütze in seine Regierung geholt, um sich mit der Gewalt der Tatsache vor der Volkserhebung gegen das von seinem Regime erzeugte wirtschaftliche Chaos zu schützen. Allende kann sich übrigens auf die in seinem Regime tätigen „progressiven Katholiken“ ebenso stützen wie auf Moskau, das dem chilenischen Präsidenten im Dezember 1972 an Ort und Stelle sein Signum laudis erteilt hat.

Der nunmehrige Erfolg der Linken in Europa war in den meisten Fällen keine Prämie für eine wachsende Qualität des Sozialismus, sondern unvermeidbare Folge gewisser Qualitätsverluste ihrer Gegner. Nach wie vor gelingt es der „Arbeiterpartei“, das Image des Garanten für die Sache der Schwächeren, der Mittellosen, der ins Unrecht gesetzten für sich zu haben. Weder den liberalen Technokraten, noch den christlichen Sozialreformern ist es, als sie im Nachkriegseuropa an der Spitze der Regierungen standen, gelungen, den Massen bewußt zu machen, daß sie in Staat und Wirtschaft die Basis für eine Existenz des einzelnen in Wohlstand und Sicherheit gelegt haben. Heute übersteigt in den industriellen Ballungsräumen, so auch in Wien, die Zahl der Angestellten vielfach jene der Arbeiter^ Und doch besteht der Glamour der „Arbeiterpartei“ weiter. Wer das Parteibuch einer Partei erwirbt, hört auf, ein Kapitalist, ein Ausbeuter, ein Arbeiterfeind zu sein. In der SPD ist Bundespräsident Gustav Heinemann, der sein Leben lang Hirnprothese, das heißt Justitiar und Bergwerksdirektor der Rheinischen Stahlindustrie war, ebenbürtiger Genosse der Genossen der ersten Stunde.

Simone de Beauvoir, begüterte Erfolgsschriftstellerin und Linksintellektuelle, Gefährte des begüterten Kommunisten Jean-Paul Sartre, wundert sich in ihren Lebenserinnerungen, daß „nur die Vertreter der politischen Rechten ihr den Wohlstand zum Vorwurf machen“ und fährt wörtlich fort: Nie nimmt man in Linkskreisen einem Linken (sie)sein Vermögen übel, selbst wenn er Milliardär ist. Oh, gewiß doch, kann unsereins nur hinzufügen. Es sind ja immer Abkömmlinge der Besitzenden, die die Habenichtse auf die Barrikaden treiben, damit sie ihnen die Pfründen der Macht aus dem Feuer reißen.

Die in Frankreich formulierte Parole der Neoliberalen: „Ni Marx — ni Jesus“, hat ebensowenig gezogen wie die gleichzeitig in Österreich verlautete Formel des Freiheitlichen: kein sozialistischer Bundeskanzler — keine Mehrheit der Christdemokraten. So wenig in Österreich die Linke ohne die Hilfe der Freiheitlichen ans Ruder gekommen wäre, so wenig hat in Frankreich die neuformierte Volksfront ohne die Hilfe der Linksliberalen eine echte Chance. Es war Otto von Bismarck, der frühzeitig auf die Gefahr des Linksdralls des Liberalismus hinwies: seit den Tagen der liberalen Girondisten in der Französischen Revolution waren es demnach „stets „Liberale, die den Staatswagen bis an den Rand des Abgrundes schoben... im liberalen, humanen Sinne schließlich immer über ihr Ziel hinausgeraten ... die Wucht der Millionen, wenn diese einmal in Bewegung geraten, nicht anhalten (können), wo sie wollen.“ Bismarck spricht hier von jenem Linksliberalismus, der nach der Formel: „II n'y pas d'ennemie ä gauche“ politisch existieren möchte. Und in diesem Sinne gibt es jenen systembedingten Übergang vom Liberalismus zum Marxismus, der im Lebensbild so vieler Sozialisten — und Kommunistenführer zutage kommt.

Vor dem Feind im Stich gelassen fühlen sich nicht wenige Christdemokraten angesichts gewisser krisenhafter Vorgänge in ihrer Kirche. In der Tat: Theologieprofessoren und (Hinweis: Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance, Herder-Bücherei 1972) geben zwar zu, es gäbe politische Parteien, deren „Programm in sich und vor allem auch in seiner praktischen Akzentuierung mit einem christlichen Gewissen objektiv unvereinbar ist“, sie nennen diese Parteien aber nicht beim Namen und so lebt die Linke unter dem Krummstab ungeschoren und zuweilen unerkannt wie das Rumpelstilzchen im Märchen. Indessen stehen die nämlichen gelehrten Herren nicht an, den Christdemokraten ausdrücklich ins Gesicht zu sagen, es gäbe überhaupt kerne Partei, gegen „deren faktisches Verhalten von einem radikal christlichen Gewissen kern Bedenken angemeldet werden müßte.“ Wann aber haben Hugo Rahner und andere katholische Intellektuelle zuletzt aus demselben „radikal christlichen Gewissen“ öffentlich ihre Bedenken gegen jenen eklatanten Atheismus der Linken angemeldet, der hic et nunc dem geistigen Klima innerhalb und außerhalb der Hochschulen das Gepräge gibt? Kann für einen Christen Kriterium des Politischen wirklich nur noch die Antwort auf die Frage „des geringeren Übels“ sein, wie dies Rahner zuletzt ausklügelte?

Als Student und Mitarbeiter in der Katholisch-deutschen Hochschülerschaft Österreichs erlebte ich 1933 jene Tagung in Graz, in deren Verlauf uns Jungen von damals die Leuchten katholischer Intelligenz glaubhaft versichern wollten, der Nationalsozialismus in Deutschland sei ein „politisches Phänomen“ und daher kein Betreff für uns in den katholischen Verbindungen und Vereine, die sich satzungsmäßig verpflichtet haben, daß ihnen „politische Bestrebungen fernliegen“. Wären alle von uns in dem folgenden Jahrzehnt nach dieser Orientierung ihren politischen Weg gegangen, wir hätten uns zunächst wohl vieles erspart. Uns erspart, nicht aber Österreich, der Kirche und unserem Glauben. Theologen verdienen den Respekt hochgebildeter Persönlichkeiten. Aber ihre Lehre ist eine rein akademische, keine kirchliche und wohl auch nur selten eine, die politisch zutreffend ist. Unter einem Himmel, der sich gerötet hat, wird man das bedenken.

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