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Als sich im Mai 1968 die ersten Unruhen im Pariser Studentenviertel Quartier Latin bemerkbar machten, wurden sie von Frankreich und dem übrigen Europa noch nicht ernst genommen. Es schien sich um eine Revolte der studentischen Jugend zu handeln, wie sie in den ausgehenden sechziger Jahren in Berlin, Madrid, ja auch in Warschau und Prag üblich waren. Kurz darauf folgte die Staatskrise mit ihren zehn Millionen (allerdings nicht insgesamt freiwillig) Streikenden, die das wirtschaftliche Leben einer ganzen Nation wochenlang lähmten. Nun wurde allerdings erkannt, daß sich die Gesellschaftsordnung der V. Bepublik in einer Mutation befand. Die Autorität des Staatspräsidenten Charles de Gaulle blieb jedoch ungebrochen.

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Als sich im Mai 1968 die ersten Unruhen im Pariser Studentenviertel Quartier Latin bemerkbar machten, wurden sie von Frankreich und dem übrigen Europa noch nicht ernst genommen. Es schien sich um eine Revolte der studentischen Jugend zu handeln, wie sie in den ausgehenden sechziger Jahren in Berlin, Madrid, ja auch in Warschau und Prag üblich waren. Kurz darauf folgte die Staatskrise mit ihren zehn Millionen (allerdings nicht insgesamt freiwillig) Streikenden, die das wirtschaftliche Leben einer ganzen Nation wochenlang lähmten. Nun wurde allerdings erkannt, daß sich die Gesellschaftsordnung der V. Bepublik in einer Mutation befand. Die Autorität des Staatspräsidenten Charles de Gaulle blieb jedoch ungebrochen.

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Die von ihm aufgebauten staatlichen Einrichtungen zeigten sich der schweren Prüfung gewachsen. Einige gut eingeleitete Reformen — insbesondere auf dem Universitätssektor — ließen die Sturmsignale einer herannahenden Revolution wieder verstummen. Alle jene, die in diesen aufregenden Wochen die Säle der Sorbonne und das Diskussionsforum im Odeontheater bevölkerten, werden sich noch an die Reden der Studentenvertreter erinnern, die verkündeten: „Das ist nur der Anfang!“ Die Cohn-Bendits und Geismars sind von der politischen Bühne abgetreten. Andere begeisterte Barrikadenkämpfer aus jener Zeit rückten inzwischen in verantwortliche Stellungen auf. Sie sehen nun die Zeit gekommen, um ihre damaligen Pläne grundlegender gesellschaftlicher Änderung zu verwirklichen.

Die EWG-Partner der V. Republik zählten auf die Beständigkeit und die bemerkenswerte Stabilität des gaullistischen Regimes. Erst Anfang 1973 begannen sie, sich zu beunruhigen. Denn im Fegefeuer eines harten Wahlkampfes kristallisieren sich Konturen eines Frankreich heraus, die sich von den seit 14 Jahren zur Gewohnheit gewordenen vollkommen unterscheiden. Wird also im März eine die bisherigen Begriffe von diesem geographisch und kulturell so wichtigen Land in Frage stellende Rechnung präsentiert werden? Vor Jahren gestellte Prognosen, Frankreich werde sich am Ende des 20. Jahrhunderts unter den ersten vier Industriemächten befinden und Deutschland überrundet haben, wurden einst sehr skeptisch aufgenommen. Amerikanische Experten des Hudson-Institute verkündeten jedoch vor 14 Tagen: „1985 wird Frankreich eine der stärksten Industrienationen der Welt sein.“ Am 10. Jänner prophezeite das sowjetische Institut für internationale wirtschaftliche Beziehungen, im Jahre 1990 werde Frankreich nach den USA und Japan die dritte Industriemacht der Erde sein. Dieser ungeheure Aufschwung ist einer gezielten Grundlagenforschung zu verdanken. Sie kann der V. Republik ein außergewöhnliches politisches und wirtschaftliches Gewicht im Weltgeschehen sichern. Zu erwarten ist aber auch, daß die Nation ihre Physiognomie bedeutend verändern und daß die soziologische Umstrukturierung neue politische Ausdrucksformen suchen wird.

Als General de Gaulle nach dem algerischen Putsch der Armee an die Regierung kam, konnte er sich im wesentlichen auf drei, damals noch unbeirrbare Kräfte stützen: die katholische Kirche, das kleine und mittlere Bürgertum (seit 1789 tragende Säule des Staats) und einen wohl schon in Bewegung geratenen, aber immer noch intakten Bauernstand. Auf dem Höhepunkt der gaullistischen Herrschaft zählte die französische Landwirtschaft 7 Millionen Personen, Ende 1971 nur noch 6 Millionen. Jedes Jahr wandern ungefähr 2,3 Prozent aller Bauernfamilien vom Land ab. Sie integrieren sich in die Industriearbeiterschaft und erweitern die Großstadtvororte. Diese Auswanderer verlieren automatisch ihre religiösen und sozialen Bindungen; sie suchen andere Horizonte, entdek-ken neue Aspirationen und schließen sich jenen Parteien an, die ihr Los zu verbessern trachten. Statistisch steht fest, daß ihre Mehrheit — soweit sie politisch interessiert ist — der sozialistischen und kommunistischen Partei, manchmal auch linksextremen Gruppen angehört. Die starke katholische Landjugendorganisation fördert diese Tendenz, weil sie selbst in das sozialistische Lager eingeschwenkt ist.

Damit treffen wir auf eines der eigenartigsten Phänomene der französischen Gegenwart. Noch in der IV. Republik war die katholische Kirche mit ihren unzähligen speziellen Institutionen ein Fels in der oft aufgewühlten politischen See, eine scheinbar aus Granit gebaute Burg. In den letzten zehn Jahren fächerte sie sich auf: Nicht ganz zu Unrecht konstatierte ein Beobachter, in Frankreich gebe es keine katholische Kirche mehr, sondern nur noch katholische Christen. Die einst glorreiche Partei der christlich-demokratischen Volksrepublikaner (MRP) mußte ihre Existenz einbüßen, und zwar durch den Verlust breiter Wählermassen (sie gaben de Gaulle ihre Stimme) und infolge ihrer eigenen Unfähigkeit zur Ausarbeitung zukunftsweisender Doktrinen. Seit diesem Untergang löste sich die politische Einheit des französischen Katholizismus allmählich auf.

Am 15. Jänner 1973 bestätigte eine Meinungsumfrage des Instituts IFOP, was man eigentlich schon wußte: von 100 Priestern unter 40 Jahren werden 64 für die linke Union stimmen — 42 für die Sozialisten, 15 für die PSU und 7 für die Kommunistische Partei. (Beim Befragen von Priestern aller Altersstufen verschiebt sich das Bild, denn dann bekennen sich 50 zur Mehrheit, 34 zur Linken und 16 zur Reformbewe-wegung.) Die jungen Vikare, die sich für die Verheißung einer sozialistischen Gesellschaft begeistern, können die ihnen anvertrauten Jugendorganisationen sehr wesentlich beeinflussen. Und diese stellen zum großen Teil die Kader der erneuerten sozialistischen Partei. Nachdem dar Linksextremismus an Boden verloren hat, kann sich Mitterrands Partei neben der PSU rühmen, mehrheitlich von Katholiken geleitet zu werden. Weder ein Jaures noch ein Guesde hätten sich das je träumen lassen!

Die dritte Stütze des gaullistischen Regimes war ohne Zweifel das kleinere und mittlere Bürgertum. Es huldigte den Traditionen der Großen Revolution und fand eine Erfüllung in der republikanischen Staatsform. In den Gesellschaftsromanen des 19. Jahrhunderts und in den Karikaturen des 20. Jahrhunderts wurde ihnen ein Denkmal gesetzt. Ob man will oder nicht, diese Mittelklassen — einst Stolz der radikalsozialistischen Partei, dann des MRP und der Unabhängigen — sind durch die Steuerpolitik der Regierung und durch die technologische Evolution zum Aussterben verurteilt. Zwar werden noch hartnäckige Nachhutgefechte geliefert und bildeten sich militante Gruppen von Kleinkaufleuten unter Girard Nicaud, aber ihre Macht ist gebrochen. Der selbständige Kaufmann verschwindet, weil er Handelsketten Platz machen muß. Die neue technische Intelligenz will von eiher Zugehörigkeit zu den Mittelklassen nichts wissen. Aber aus diesen Reihen stammten einst die treuesten Mitkämpfer de Gaul-les. Seit 1958 bildeten sie das Reservoir für die diversen Wahlsiege der Sammelpartei UNR (jetzt UDR). Temperamentsmäßig liebten diese Klassen die politische Mitte, in der sie sich daheim fühlten. Mit ihrem teilweise von den Gaullisten geförderten Verschwinden setzt die Polä-risierung in der Innenpolitik mit noch größerer Vehemenz ein.

Denn auf der einen Seite stehen die Massen der Arbeiter. In gut organisierten Gewerkschaften sehen sie ihre Rechte vertreten und können in der kommunistischen, nun auch in der sozialistischen Partei ihre politischen Probleme vorbringen. Und was steht dem gegenüber?

Selbst dem jetzigen Regime gut gesinnte Freunde müssen zugestehen, daß der Staat zu einer Monarchie von Notabein wurde. Diese haben alle Hebel der Gesellschaft in der Hand und ignorieren einen der letzten Wünsche de Gaulies, nämlich die Realisierung einer Partizipation des Bürgers. Die Linksparteien greifen dieses System als ein „spätes“ oder „neokapitalistisches“ an. In der Tat beherrschen die Großbanken das wirtschaftliche und damit auch das politische Geschehen der Nation. Großkonzerne wie „Renault“ und „Aerospatiale“ dienen wegen ihrer unmöglichen Arbeitsmethoden immer wieder als Zielscheibe aller linken Angriffe. Nur etwas wird vielfach übersehen: die Großbanken — ob BNP, Credit Lyonnais oder Societe Generale — sind alle ebenso verstaatlicht wie die wichtigsten Versicherungsgesellschaften, die „Regie Renault“ oder die Werke, in denen das Projekt des Überschallflugzeugs „Concorde“ verwirklicht wurde.

Der als Prototyp des Kapitalisten verschriene Generaldirektor der großen französischen Automobilwerke hat zwar große Befugnisse, aber letzten Endes ist er ein Lohnempfänger wie der algerische Fremdarbeiter am Fließband. Allerdings gehört Monsieur Dreyfus (Generaldirektor bei Renault) zu den Männern, die heute die staatliche und politische Macht in Frankreicht inkarnieren. Nachdem der Staat bis auf das äußerste zentralisiert ist (auch in diesem Punkt wollte de Gaulle am Ende seiner Regierungszeit Reformen schaffen), handelt es sich um eine erschreckend kleine Elite von Führungspersönlichkeiten. Diese kultiviert einen wilden Staatskapitalismus und betrachtet sich nicht als Hüterin des Volkseigentums, sondern als dessen Besitzerin.

Die Verfassung von 1958 war auf die Figur einer einmaligen historischen Persönlichkeit zugeschnitten: obwohl General de Gaulle sogenannte reservierte Domänen beanspruchte (Außenpolitik, Algerien, Verteidigung), ließ er seinem Kabinett aber doch relative Freiheit. Dagegen forderte sein Nachfolger — eben durch die Verfassung bestärkt — weit größere Prärogativen. So kümmert sich Georges Pompidou nicht nur um die französische Außenpolitik oder initiiert die Europäische Gipfelkonferenz, sondern bestimmt ebenso den Bau eines Museums für moderne Kunst in Paris und trifft allein die Entscheidungen über die Konstruktion einer Schnellstraße am Seine-Ufer. Eines scheint das Frankreich von 1973 vergessen zu haben: die Delegierung von Verantwortung und das Subsidiaxitätsprinzip.

Auch der sozialistische Bürgermeister von Marseille, Gaston Defferre, und Francois Mitterrand zählen zu dieser zahlenmäßig geringen Führungsschicht. Sie rekrutiert sich aus den Hohen Schulen und im besonderen aus der Verwaltungsakademie ENA. Diese Funktionäre, Diplomaten, Parteipolitiker und Journalisten konzentrieren sich hauptsächlich auf Paris. Sie bilden eine Art Freimaurerloge, zu der ein Zugang ohne entsprechende Beziehungen und Empfehlungen so gut wie unmöglich ist. Lebenswichtige Entscheidungen werden autoritär gefällt und Modelle verschiedenster Art auf dem Reißbrett entworfen. Die Gesellschaft soll so aussehen, wie sie sich diese Leute da vorstellen. Immer wieder kommt es zu psychologischen Pannen, da dieses System echte Kommunikationsmöglichkeiten mit dem Volk vernachlässigt oder ihnen gar bewußt ausweicht.

Die Masse der Lohnempfänger und die mit ihr verbundene technische Intelligenz ist im Begriff, einen Block zu bilden, wie dies der exkommunistische Philosoph Garaudy schon vor Jahren voraussah. Eigentlich wären die oppositionellen Parteien der Mitte dazu berufen, die Traditionen eines Zentrums zu pflegen und zu modernisieren. Sie fanden aber bisher zu wenig Anklang, da ihre Aussagen oft unklar und ihre Slogans zu schwach sind. Freilich sprechen sie von einer verstärkten Demokratisierung des Staats, von einer Neuverteilung der öffentlichen Gelder und einer strikten Regionalisierung. Diese Programme erscheinen jedoch häufig im aktuellen gesellschaftspolitischen Stand als überholt.

Der bekannte, an sich maßvolle und regierungsfreundliche Publizist und Sprecher des Luxemburger Senders, Jean Ferniot, veröffentlichte vor einigen Tagen ein Pamphlet mit dem vielsagenden Titel „Das genügt“. Darin klagt er die Prinzen des Regimes an, die Grundsätze der Demokratie nicht befolgt zu haben, die daher vom Volk nicht mehr respektiert werden könnten. „Das genügt“, sagen sich Millionen Franzosen und wollen nichts mehr hören von den Skandalen, von der gigantischen Inflation und von den unwahrscheinlichen Ungerechtigkeiten der Justiz, die unfähig war, die Sitten- und Moralbegriffe unserer Zeit anzupassen.

Diese Millionen wollen partizipieren, mitgestalten, mitreden und den seit 1968 um die Gesellschaft gelegten Ring sprengen. Und das versprechen ihnen die sozialistische und die kommunistische Partei. Die Führer dieser Gruppen versichern dabei, daß der französische Sozialismus 1973 absolut nicht mit jenen Experimenten zu vergleichen sei, wie sie in den östlichen Staaten Europas durchexerziert und im Stalinismus pervertiert worden sind.

Wenn auch die Linkskoalition keinen Sieg in den Märzwahlen davonträgt, so werden doch in der Phase des Wahlkampfes Kräfte freigelegt werden, die nicht mehr in das starre Eisengewand der gegenwärtigen Regierungsform eingezwängt werden können. Seitdem die Pariser Bürger die Bastille erstürmten, hat Frankreich nicht aufgehört, Reformen zu erarbeiten und auszuprobie-

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