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Ein neuer Frühling bei den Gaulliste

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Eine der machtvollsten politischen Kundgebungen, die je die V. Republik gesehen hat, fand am 5. Dezember in den Pariser Messehallen statt. Der frühere Ministerpräsident Jacques Chirac hatte einen nationalen Kongreß der gaullistischen Bewegung einberufen und Tausende, Abertausende fanden sich ein, um an der Gründung dieser neuen politischen Partei teüzu-nehmen. Doch nein - es handelt sich nicht um eine Partei im klassischen Sinn. Eine Bewegung ist entstanden, die über Klassen hinweg das französische Volk in dem festen Willen vereinen soll, die Prinzipien des Regimebegründers lebendig zu erhalten. In diesem Zusammenhang bleibt der Ausspruch des Generals unvergessen: jeder Franzose war, ist oder wird Gaullist sein. Keine Organisation wurde schon so oft totgesagt wie jene, die am 18. Juni 1940 von General de Gaulle in London geschaffen wurde. Damals ging es darum, die Nation nach einer schmählichen Niederlage zu einen, alle vorhandenen Energien zu sammeln und den Krieg Seite an Seite mit den Alliierten fortzuführen. Soweit die Bevölkerung nicht zu Marschall Potain stand, konnte sie als gaullistisch bezeichnet werden. Der Chef der „Freien Franzosen“, de Gaulle, dachte jedoch damals noch nicht daran, eine politische Partei ins Leben zu rufen. Ihm ging es nur darum, dem Lande die Freiheit wiederzugeben. Er fragte also nicht, ob seine Anhänger Christliche Demokraten, Sozialisten oder Kommunisten seien, sondern wollte nur wissen, ob diese Leute gewillt waren, bedingungslos den Kampf fortzusetzen. In den Kriegswirren entstand dann so etwas wie ein gaullistischer Mythos, der bis in unsere Tage nachwirkt.

Als die traditionellen Parteien nach der Befreiung ihr altes Spiel wieder aufnahmen und eine Verfassung durchsetzten, die den gesetzgebenden Versammlungen alle Macht, der Exekutive dagegen wenig Befugnisse einräumte, zog sich de Gaulle 1946 mit großer Geste zurück und hinterließ im Palais Bourbon nur eine kleine Gruppe von Abgeordneten, die sich „Gaullistische Union“ nannte. Zahlreiche Gefährten aus der Kriegszeit hielten jedoch die Flamme auch in anderen Parteien am Leben. Längere Zeit hindurch schien die mächtige Christlich-Demokratische Partei, die zur Überraschung aller zunächst die stärkste Parlamentsfraktion stellte, das Vertrauen des Generals zu besitzen. Sie nannte sich „Partei der Treue“ und konnte auf die Stimmen der meisten Gaullisten rechnen. Das MRP integrierte sich allerdings sehr bald dem Parteiensystem der' IV. Republik und der „lothringische Einsiedler“ sah sich veranlaßt, im Jahre 1947 eine eigene Bewegung, das RPF, zu gründen.

Nach verheißungsvollen Anfangserfolgen - die Gemeinde ratswahlen von 1947 waren ein wahrer Triumph - versandete die Partei im ungesunden politischen Klima der IV. Republik. Die Legislativwahlen von 1951 und der Versuch des Ministerpräsidenten Pi-nay, die rechte Mitte zu vereinen, trugen das Ihrige dazu bei, um der Gründung de Gaulies die Substanz zu rauben. 1956 zählte man nur noch 30 gaullistische Abgeordnete, darunter den späteren Ministerpräsidenten Cha-ban-Delmas.

Als de Gaulle von der in voller Auflösung sich befindenden Republik 1958 wieder an die Macht gerufen wurde, entstand, sogar gegen seinen Willen, eine neue gaullistische Sammelbewegung, die UNR. Der spätere Präsident der Republik wollte ursprünglich mit den bestehenden Parteien auskommen und hatte als die Achse seiner Mehrheit die Sozialistische Partei, die in der Mitte stand, ausersehen. Trotzdem wurde die UNR (später UDV und schließlich UDR) die Plattform, von welcher aus der Staatschef siegreich vier Wahlkämpfe in den Jahren 1962,1967,1968 und 1973 führte. Im Jahre 1969 demissionierte der erste Staatschef der V. Republik, nachdem zum erstenmal ein Referendum gegen seine Pläne entschieden hatte, und Georges Pompidou benützte nun seinerseits die UDR, um eine Majorität zu bilden. Es hatte sich die Sitte herausgebüdet, daß der jeweilige Ministerpräsident auch Parteichef war, ohne daß er dazu erst hätte gewählt oder offiziell bestimmt werden müssen.

Eine ganz andere Situation entstand, als 1974 zum ersten Mal ein Präsident der Republik gewählt worden war, der nicht aus dem Gaullistischen Lager stammte. Nicht zahlenmäßig, aber moralisch rückte die gaullistische Partei in die zweite Linie und die an sich schwache Partei der Unabhängigen Republikaner beanspruchte die Führungsrolle. Wohl wurde ein Gaullist Ministerpräsident, aber die staatlichen Einrichtungen funktionierten nicht so, wie sie von den Vätern der Verfassung konzipiert worden waren. Relativ schnell entwickelte sich ein Konflikt zwischen den beiden ersten Männern im Staate und Jacques Chirac erhielt nicht jene Vollmachten, die er sich erwarten durfte. Die Gaullistische Partei distanzierte sich immer schärfer von Giscard d'Estaing und nahm eine abwartende Haltung ein. Vom Dynamismus Jacques Chiracs, der zeitweise das Generalsekretariat der Partei übernahm, empfing die UDR bald neue Impulse. Der Partei kam es dabei zugute, daß sie nach wie vor eine breitgestreute Mitgliederschaft aufzuweisen hat. Sie besitzt als einzige Partei der Regierungsmehrheit einen zahlenmäßig starken Anhang unter den Industriearbeitern. Jüngsten Erhebungen zufolge sind von den Mitgliedern 34,8 Prozent Arbeiter, 15,8 Prozent Angestellte, 14,4 Prozent mittlere Angestellte, 10,6 Prozent Kaufleute und Handwerker, 5,5 Prozent Industrielle und leitende Angestellte. Die UDR vertritt also wesentlich mehr Arbeiter als beispielsweise die Sozialistische Partei, die ihre Anhänger hauptsächlich aus dem Unterrichtswesen und aus dem Heer der staatlichen Angestellten rekrutiert. Die UDR ist ein wahrer' Spiegel der französischen Gesellschaft und ihrer Tendenzen, vor allem des Wunsches, einen Chef an der Spitze zu sehen, der unterschwelligen bonapartistischen Gefühlen gerecht wird. Dem früheren Ministerpräsidenten Chirac kann nun nicht abgesprochen werden, daß er eine Persönlichkeit ist, die dem Geschmack der französischen Rechten entspricht. Auch der hochgestimmte Nationalismus, der Wunsch nach größerer sozialer Gerechtigkeit findet sich in sämtlichen Erklärungen Jacques Chiracs, der innerhalb weniger Wochen die Metamorphose der UDR durchgeführt hat. Damit hat sich Jacques Chirac ein Instrument geschaffen, das im Gegensatz zur derzeitigen Staatsführung steht. In den Gründungsakten der neuen Bewegung finden sich keine Hinweise auf den Staatspräsidenten. Der neue Präsident der Organisation hingegen besitzt umfassende Vollmachten und kann die Partei nahezu autoritär lenken. Selbst die Kernschichten der Gaullisten, die vielzitierten „Barone“, haben sich, mit Ausnahme von Chaban-Delmas, ohne Bedenken in die neu gegründete Partei integriert.

Die Zukunft der gaullistischen Bewegung hängt von dem Umstand ab, ob es gelingen wird, die frohe Botschaft in jene Volkskreise hineinzutragen, die gegenwärtig die Sozialisten als Alternative zur bisherigen Majorität ansehen. Mit anderen Worten: Parteipräsident Chirac muß mindestens 10 Prozent der sozialistischen Wähler zurückgewinnen, um zu einem nachhaltigen Erfolg zu gelangen. Zahlreiche Beobachter und Politologen vertreten die Ansicht, daß ein so reicher Fischfang durchaus möglich wäre. Viel hängt auch davon a'b, ob Jacques Chirac zumindest bis zu den Legislativwahlen von 1978 ein leidlich gutes Verhältnis zum Präsidenten der Republik herstellen kann. Ist dies nicht möglich, sind vorverlegte Wahlen nicht auszuschließen. Sie würden zu einem Zeitpunkt stattfinden, in dem der Aufbau und die Konsolidierung der gaullistischen Bewegung noch nicht abgeschlossen sind. Das wäre ein Schritt in eine Welt voll der Abenteuer und würde voraussichtlich mit einem Sieg der linken Union enden.

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