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Der dritte Prasident

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Wie oft kommt es vor, daß man auf eine Entwicklung spekuliert, einen Vorfall erwartet, und sich dann ziemlich hilflos zeigt, sobald das prophezeite Ereignis eingetroffen ist! Seit Wochen und Monaten wurden Gerüchte kolportiert und Überlegungen zu verfrühten Präsidentschaftswahlen in Frankreich angestellt. Als Georges Pompidou, der mit großer Tapferkeit und einem bewundernswerten Stoizismus gegen eine so tückische Krankheit ankämpfte, ihr dann schließlich zum Opfer fiel, zeigte sich das politische Paris überrascht und unvorbereitet.

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Wie oft kommt es vor, daß man auf eine Entwicklung spekuliert, einen Vorfall erwartet, und sich dann ziemlich hilflos zeigt, sobald das prophezeite Ereignis eingetroffen ist! Seit Wochen und Monaten wurden Gerüchte kolportiert und Überlegungen zu verfrühten Präsidentschaftswahlen in Frankreich angestellt. Als Georges Pompidou, der mit großer Tapferkeit und einem bewundernswerten Stoizismus gegen eine so tückische Krankheit ankämpfte, ihr dann schließlich zum Opfer fiel, zeigte sich das politische Paris überrascht und unvorbereitet.

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Wie immer die einzelnen Persönlichkeiten das Werk Pompidous beurteilen mögen — heute verneigen sie sich mit Takt und Mitgefühl vor der Bahre jenes Mannes, der als würdiger Nachfolger General de Gaulles angesehen werden kann.

Man ist sich in Paris bewußt, daß der Gaullismus sich nun von Grund auf gewandelt hat. Als der Gründer der V. Republik nach den Mai-Juni-Ereignissen von 1968 an eine Demission dachte, konnte sich sein jahrzehntelanger Mitarbeiter Pompidou als legitimer Nachfolger präsentieren. Er war in den Reihen der Mehrheit unangefochten und seine starke Persönlichkeit strahlte so viel Sicherheit aus, daß er auch gewisse Teile der Mitte anziehen konnte. Dies war um so schwieriger, als Georges Pompidou 1969 einen Gegenkandidaten hatte, der gerade diese Mittelschicht in vorzüglicher Weise inkarnierte. Es war Senatspräsident Poher, Freund und Schüler des großen Europäers Robert Schuman, der damals wie jetzt, gemäß der Verfassung, die interimistische Leitung des Staates übernommen hatte. Georges Pompidou war weder Gaullist der ersten Stunde noch Kämpfer der Widerstandsbewegung und niemals Parteimitglied der UDR. Obwohl er die außenpolitischen Optionen General des Gaulles übernahm — im Mittelpunkt steht dabei die Wahrung der staatlichen Souveränität —, nuancierte er doch gewisse Elemente dieser Politik. Seiner persönlichen Initiative war es zu “erdanken, daß Großbritannien in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aufgenommen wurde. Der verstorbene Präsident leitete die Epoche der Gipfeltreffen europäischer Staats- und Regierungschefs ein und glaubte aufrichtig an die Möglichkeit, eine Konförderation der westeuropäischen Staaten schaffen zu können.

Es ist klar, daß die orthodoxen Gaulldsten einen Politiker auf ihr Schild heben wollen, der weiterhin im Stil de Gaulles denkt und handelt. Aber sie sind in der eigenen Gruppierung bereits eine Minorität und müssen mit den Aspirationen der liberalen Flügel rechnen. _Als aussichtsreicher Kandidat eines zeitgemäß gewandelten Gaullismus stellt sich der frühere Ministerpräsident und jetzige Bürgermeister von Bordeaux, Chaban-iDetoas, vor. Es fällt auf, daß er kürzlich im Elysee-Palast überaus lange empfangen wurde. Chaban-Delmas erfreut sich der Gunst seiner Partei und kann der Unterstützung seines Kollegen Michel Debre sicher sein. Außerdem pocht er auf die positiven Erklärungen des Generalsekretärs der UDR, Sanguinetti. Man wird unwillkürlich die Frage stellen, Wieweit die seinerzeitige Steueraffäre diesem Aspiranten für das höchste Amt nachgetragen wird. Aber Chaban-Delmas kann, und damit kommen wir zum Schlüsselpunkt der französischen Innenpolitik, die seit Jahren konstant ist, nicht unmittelbar auf jene Mitte zählen, die im März 1973 der Regierung neuerlich den Sieg geschenkt hat. Dieses Zentrum ist in verschiedene Parteien aufgespalten, es sei an die Unabhängigen Republikaner Giscard d'Estaings, die Männer und Frauen um Duhamel und Fontane* und an die Reformbewegung gedacht, die zwei sich nicht gerade gutgesinnte Chefs besitzt, Jean Lecanuet und Jacques Servan-Schreiber. Diese für jede Wahl ausschlaggebende Mitte erkennt sich jedoch auch in zwei anderen . Persönlichkeiten wieder. Es sind dies Senatspräsident Alain Poher und Kammerpräsident Edgar Faure. Letzterer ist Mitglied der UDR, hat sich aber im Rahmen der Partei eine lose parlamentarische Gruppe von etwa 60 Volksvertretern geschaffen und weiß sich der Freundschaft zahlreicher liberaler Politiker sicher. Der amtierende Finanzminister ist trotz Steuerdruck und galoppierender Inflation weiterhin der populärste Mann der Regierung.

,Wäil jdas Regime die harte Probe des WaMktampfes überleben, so muß es die liberale Mitte für sich gewinnen. Im März 1973 war es Jean Lecanuet, der buchstäblich in letzter Minute seine Anhänger von der Notwendigkeit überzeugte, die drohende Volksfront zu besiegen. Aber die wirtschaftlichen Spannungen und die sozialen Bedrohungen haben seine-3,5 Millionen Wähler gekränkt und verärgert. Bis jetzt steht noch offen, ob die Reformbewegung, wie Servan-Schreiber es wünscht, eine eigene Persönlichkeit aufstellt. Wie immer die Namen lauten, Poher, Lecanuet oder der Herausgeber des Wochenmagazins „L'Express“, sie alle bedrohen dde Mehrheit, die keineswegs geschlossen in den Wahlkampf zieht. Es ist bedauerlich, daß der jetzige Ministerpräsident Mess-mer, dessen persönliche Integrität und Arbeitskraft nicht in Frage gestellt werden kann, unfähig ist, weite Volkskreise anzusprechen.

Die Linksparteien, die Sozialisten, Kommunisten und Linken Radikalsozialisten halben gewisse ideologische Diskussionen, wie etwa den Fall Solschenizyn, ausgeräumt und bieten sich als Alternative zum konservativ-liberalen Regime an. Der erste Sekretär der Sozialistischen Partei, Mitterrand, hat in den letzten Monaten .so sehr an Gewicht gewonnen, daß er für die Linke der Allein-befähigte zu sein scheint, der dritte Präsident der V. Republik zu werden. Doch diese Überlegung sei sofort zensiert. Ein Wahlsieg Mitterrands würde ohne Zweifel das Ende jenes Systems bedeuten, das General de Gaulle 1958 konstruiert hat. Uber kurz oder lang würde er in einer VI. Republik enden.

Denn die Wähler, die entsprechend dem Grundgesetz mindestens 20 Tage, längstens aber 35 Tage nach der Vakanz zu den Urnen gerufen werden, entscheiden nicht nur über den neuen Präsidenten der Republik, sondern im letzten auch über eine liberale oder sozialistische Gesellschaftsordnung. Mit anderen Worten, die Frage, die im März 1973 der französischen Nation gestellt wurde, drängt mit noch größerer Schärfe auf eine Antwort. Es gehört nicht sehr viel Phantasie dazu, um die Auswirkungen abzuschätzen, die im Falle eines Wahlsieges des linken Kandidaten in der europäischen und der Weltpolitik zu verzeichnen sein würden.

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