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Das Echo im Osten

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Der größte polnische Dichter, Adam Mickie-wicz, der die zweite Hälfte seines schöpferischen Wirkens in Paris verbrachte, hat einmal gesagt, jeder Mensch habe zwei Vaterländer, das eigene und Frankreich. Allen Umwälzungen zum Trotz, die sich seit einem Jahrhundert ereignet haben, gilt dieses Wort auch heute für die geistige Elite des sogenannten Zwischeneuropa: Kommunisten, Revisionisten, Liberale, Katholiken und sogar viele Anhänger rechtstotalitärer Lehren suchen noch immer Vorbilder und Anregung in Frankreich. Die einen verehren es als Heimat des modernen Sozialismus und als Urquelle der Revolutionen, die anderen als die Zufluchtsstätte des Freidenkertums, die Dritten dagegen als das Land der Kathedralenerbauer und als älteste Tochter der Kirche, als Nährboden katholischer Erneuerung. Die „Faschisten“ aber entsinnen sich weder Baboeufs und Marats, Proudhons und Louis Blancs. noch Robespierres und Dantons, weder Voltaires und Diderots, Guizots und Toequevilles, weder de Maistres und de Muns, Jacques Maritains und Peguys, sondern Sorels und seiner Verherrlichung der Gewalt, Charles Maurras' und der „Action Francaise“. Kurz und gut, die Intellektuellen des Donauraums und der Balkanhalbinsel wie die Polens finden stets in einem Frankreich, das sie für das einzig wahre ansehen, Ursache und Bestätigung ihrer Doktrinen. Je nach der Weltanschauung und der Parteizugehörigkeit werden die französischen Ereignisse gedeutet und dargestellt.

Das konnte man neuerdings am Nachhall verfolgen, den der Untergang der Vierten und das Entstehen der Fünften Republik bei den sowjetischen Satelliten geweckt hat. Das parlamentarische Regime, das an der Seine in trägem Marasmus dahinvegetierte, als hinfällig zu bezeichnen, war in ganz Osteuropa längst üblich. Niemand hätte jedoch einen Zusammenbruch von so gründlichem Ausmaß und von so verwirrender Schnelle erwartet, wie er im heurigen Frühjahr geschah. Der 13. Mai und seine Auswirkungen, die mit der Berufung de Gaulies den dramatischen Höhepunkt und mit dem Plebiszit vom 28. September einen vorläufigen Halt erreicht haben, ist den Zwischeneuropäern trotz allem überraschend gekommen. Niemand beklagte ihn. Nicht die Kommunisten, denen das Scheitern jedes bürgerlichen, „kapitalistischen“ Systems willkommen ist. Nicht die zum Schweigen verurteilten antimarxistischen Mehrheiten östlich des Eisernen Vorhangs, die von einem entschieden den Kommunismus bekämpfenden Kurs in Frankreich Günstiges für die Weltlage und für sich selbst erhofften. Des weiteren bestand Uebereinstimmung darin, daß man über die Absichten de Gaulies im dunkeln tappte. Die brennende Frage galt vor allem dem künftigen Verhalten des Generals zur Sowjetunion.

Moskau war anscheinend nicht besser informiert als seine Vasallen. Zwar hatte de Gaulle, geraume Zeit vor seiner Machtübernahme, doch zweifellos schon in deren Erwartung, eine vielbemerkte Unterredung mit dem Botschafter der UdSSR gehabt. Dieser muß aber, was wir rückblickend erschließen, aus dem deutlichen Streben de.? stolzen Hüters der französischen Traditionen, sich vor jeder, also besonders von der amerikanischen Vorherrschaft freizuhalten, falsche Hoffnungen abgeleitet haben. So erklärt sich die relative Mäßigung, mit der de Gaulle anfangs in der Sowjetpresse behandelt wurde, während sich über seine Wegbereiter sofort die Schalen des Zornes der echten, nämlich der kommunistischen Demokraten ergossen. Derlei Zweigleisigkeit spiegelte sich selbstverständlich in Rundfunk und Zeitungen der Satelliten wider.

Freilich durften wir da erhebliche Unterschiede im Ton beobachten. In der DDR, in der Tschechoslowakei und in Bulgarien überwog das Mißtrauen gegen den Erkorenen der „Aufrührer von Algerien“; Rumänien und Ungarn blieben vorsichtig, und in Polen war die Sympathie für den einstigen Führer der französischen Widerstandsbewegung unverkennbar. Diese Stimmung griff zeitweilig auch auf andere offizielle Kreise in den Volksdemokratien über, als vom Kreml her die Weisung kam, die Gemeinsamkeit der Auffassungen des Generals und der Sowjetführer in bezug auf die Gipfelkonferenz zu unterstreichen. De Gaulles Weigerung, nach New York zu reisen, war den Russen sehr erwünscht. Sogar seine energischen Bemühungen, Frankreich als neue Atommacht durchzusetzen, wurden in der Sowjetunion begrüßt. Wähnte man doch rings um Chruschtschow, dieses hartnäckige Verlangen nach Ebenbürtigkeit in der Bewaffnung könne die atlantische Allianz lockern oder am Ende sprengen, damit aber das heißeste Ziel der Moskauer Diplomatie fördern. Bald erlebten allerdings die russischen Staatslenker eine schwere Enttäuschung.

Ihr Optimismus im Urteil über de Gaulles Pläne fußte auf der Meinung, dieser betrachte Adenauer und die Bundesrepublik Deutschland mit ähnlichen Augen, wie das die Oligarchie um Chruschtschow tat oder zu tun vorgab, als gefährliche, revanchelustige Friedensstörer, die Hitlers Ziele mit anderen Methoden zu verwirklichen trachteten. Der General hatte jedoch in der Beschaulichkeit von Colombey-les-Deux-Eglises in doppelter Hinsicht seine weltpolitischen Ansichten revidiert: er sah in der UdSSR d i e zerstörende Kraft, die den algerischen Aufstand angezettelt und ihn aufs nachdrücklichste unterstützt hatte, die ferner das soziale Grund-gefüge des französischen Mutterlandes aushöhlte; er bekannte sich zu einer durchaus westeuropäischen Konzeption eines freien, unabhängigen Europa.

Je mehr dies offenkundig wurde, je schärfer sich die engere Equipe de Gaulles gegen die Kommunisten wandte, je weniger eine diplomatische Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, auch nur in begrenztem Umfang, möglich erschien, um so heftiger wurde der Ingrimm der maßgebenden russischen Kreise. Er erklomm seinen Siedepunkt, als Chruschtschow wenige Tage vor der Volksabstimmung die Franzosen einlud, ihre Freiheiten zu retten und sich vor dem Faschismus zu hüten. Diese Einmischung in die innersten Angelegenheiten Frankreichs, die durch die Versicherung des Nikita Sergiejewitseh

Chruschtschow, er mische sich nicht in eben diese Angelegenheiten ein, um nichts verminderte wurde, hatte einen den Erwartungen des Redners entgegengesetzten Effekt; sie brachte de Gaulle statt einer großen eine überwältigende Majorität. Und nun kannte der Zorn der um Frankreichs Freiheit trauernden Sowjetgewaltigen so wenig Grenzen, wie das bei ihrer Propaganda Brauch war.

Fortan ist de Gaulle als Faschist, als neuer „Prinz-Präsident“ abgestempelt, der gleich Napoleon III. nach einer von ihm regierten absoluten Monarchie begehrt. Seine Helfer sind Klerikale, Reaktionäre, Großausbeuter, die protestantische Bank, die Jesuiten, Wallstreet, der Vatikan, der Verräter Mollet, der Renegat Mal-raux, der Schuft Soustelle, die neuhitlerischen Befehlshaber der NATO. Die Volksabstimmung war Gewalt, Betrug, Volksverführung. In das gleiche Horn stoßen wie zuvor Pankow, Prag, Sofia jetzt auch Budapest und Bukarest. Doch “-wie sonderbar klingen die Stimmen aus Warschau! Wir zitieren die bemerkenswerteste und fügen hinzu, daß sie ein weit getreueres Bild der wahren Ansichten der urteilsfähigen Intelligenzler auch in Ungarn, Rumänien, dann sehr vieler geistig Schaffender in der DDR, in der Tschechoslowakei und in Bulgarien wiedergibt als das parteiamtliche Gezeter. Hier also das wesentliche des an der Spitze des Blattes erschienenen Berichts der angesehensten polnischen Zeitung „Zycie Warszawy“ (Nr. 234/1958):

„Der Sieg General de Gaulles im sonntägigen Referendum übertraf die Erwartungen der meisten französischen und ausländischen Beobachter ... Es ist schwer, dieses Ergebnis zu bezweifeln ... Die 17,666.82$ Franzosen, die bei einer Gesamtzahl von 22,291.308 gältigen Stimmen ja gesagt haben, sind unbestreitbar Menschen von ausgeglichenen politischen Anschauungen. Sie haben General de Gaulle aus mannigfachen Ursachen gewählt, von denen folgende als wichtigste zu nennen sind: 1. die Person des Generals . .. wuchs in den Augen vieler Franzosen zum Symbol. . . zum unparteilichen Beobachter, der über den kleinlichen Streitereien der Politiker der Vierten Republik zu stehen vermag. 2. Nein hieße Rückkehr zu den verachteten Regierungen der Vierten Republik, die ihre Ohnmacht in den verflossenen zwölf Jahren gezeigt haben. 3. Die französische Linke vermochte nicht, zeitgerecht ein positives Programm aufzustellen. 4. Viele Wähler fürchteten, ein Nein werde zum Chaos und zum Bürgerkrieg in Frankreich führen. Sogar Leute, die normalerweise links stimmten, vermochten sich nicht zur Aufnahme eines entschiedenen Kampfes gegen die übernationalistische Rechte aufzuschwingen. Das kann nur jemand tun, der nichts oder fast nichts zu verlieren hat, und die Franzosen, sogar der große Teil der Arbeiter, haben etwas zu verlieren: nämlich den relativen Wohlstand, der — ungeachtet des Absinkens des Lebensstandards im letzten ]ahre — in Frankreich herrscht. 5. Die Reihe der französischen Niederlagen in den Kolonialkriegen haben eine Welle des Nationalismus und Chauvinismus ausgelöst, die auch einen Teil der Arbeiterklasse miterfaßt hat. Die Regierungen der Vierten Republik waren für den Verfall des Ansehens Frankreichs in der Welt verantwortlich. De Gaulle wird die Größe Frankreichs erneuern.“

Der Verfasser dieser unbefangenen und wahrheitsgetreuen Analyse der Volksbefragung vom 28. September und der französischen Gesamtlage wurde zwar mit sofortiger Abberufung von seinem Posten bestraft und durch einen behutsameren, wendigeren Korrespondenten ersetzt, der bereits zwei Tage später ermutigende Trostworte über die besseren Aussichten der Linken bei den kommenden Parlamentswahlen in die Kammern aus Paris meldet, doch auch er enthält sich der Schimpforgien und der verzerrenden Darstellungen, die über die Situation in Frankreich bei den Zeitungen der anderen Satellitenstaaten zu finden sind (sofern man dort nicht das sowjetische Beispiel befolgt und sich in Schweigen hüllt, wie z. B. die „Prawda“, die in einer ganzen Nummer über de Gaulle und die Folgen nichts, außer einer, übrigens pessimistischen Erklärung Togliattis druckt).

Das aber scheint uns das „mot de la fin“, die Quintessenz der Betrachtungen in den politisch reifen, nichtstalinistischen Kreisen der Volksdemokratien Osteuropas: man rechnet mit einem internationalen Wiederaufstieg Frankreichs und irgendwie damit, daß dieses unter de Gaulle, ohne sich mit dem Kreml auf gefährliche Gemeinschaft einzulassen, in Moskau dahin wirken wolle, könne und werde, daß Chruschtschow den Satelliten wenigstens soviel Spielraum gewähre wie bisher und daß anderseits gewisse Sonderinteressen der nichtsowjetischen Staaten des Warschauer Paktes durch den neuen Kurs des Generals bei den Angelsachsen und vor allem in Deutschland eher gefördert werden als durch seine Vorgänger. Das gilt insbesondere für das deutsch-polnische Verhältnis und im größeren Bereich für die Entspannung der gesamten internationalen Atmosphäre.

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