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Frankreich — Deutschland — Europa

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Wie kein anderes Problem beschäftigt die Eingliederung des deutschen Volkes sowie der endgültige Ausgleich mit seinem französischen Nachbarn die Politiker und die Theoretiker der europäischen Einheit. Der vom Nationalsozialismus begonnene Krieg mit seinen entsetzlichen Grausamkeiten, Verschleppung von Millionen Zwangsarbeitern, zeitweiliger Versklavung des Großteils Europas, entfesselte Wellen des Hasses und der Abneigung gegen das deutsche Volk, welches als allein verantwortlich für die Ereignisse zwischen 1938 bis 1945 angesehen wurde.

Das Abklingen der Kriegsgefühle und die immer stärker werdende Bedrohung aus dem Osten führte zwangsweise zu einer Revision der Deutschlandpolitik der Alliierten. Deren erste sichtbare Zeichen sind die Gründung der deutschen Bundesrepublik, das Petersberger Abkommen und der Eintritt Deutschlands in den Europarat. Wenn auch nicht als souveräner Staat, so spielt doch die neue Republik kraft ihrer industriellen Leistungsfähigkeit, des bevölkerungsmäßigen Potentials, der geograpischen Lage eine Rolle im Spiel der europäischen Kräfte. Früher als erwartet, machte sich die deutsche Konkurrenz auf den internationalen Märkten bemerkbar. Aus dem Chaos in der Mitte Europas beginnen sich die Strukturen einer neuen politischen Ordnung abzuzeichnen, und es ist selbstverständlich, daß die beiden großen Völker des Kontinents zu einer Stellungnahme gegenüber den Problemen und Lebensnotwendigkeiten des Nachbarn gezwungen werden.

Drei Kriege stehen zwischen Deutschland und Frankreich, dreimal Besetzung Frankreichs durch Deutschland, zweimal wird deutscher Boden durch französische Truppen okkupiert. Die Bürger der beiden Nationen kennen sich nur als Sieger oder Besiegte. Mögen sie auch gegenseitig die militärischen Tugenden, die Hingebung und Todesbereitschaft anerkennen, die Tapferkeit des Gegners ritterlich im ersten Weltkrieg preisen — die Vernichtungsmaschine des zweiten

Weltkrieges ließ wenig Raum übrig, um noch etwas Gutes in dem Volk anzuerkennen, das dafür verantwortlich gemacht werden mußte. Während jedoch 1918 ein verzehrender Haß in Frankreich glühte, das Schlagwort vom ewigen Reichsfeind in Deutschland lebendig blieb, waren die Leiden und Opfer der vergangenen Jahre zu groß, als daß man zu sehr an die Ursachen zu denken vermag, solange die Wirkungen derartig jedes Leben bedrücken. Wir stehen im Augenblick vor der ein-# m a 1 i g historischen Tatsache, daß sich die beiden Völker wie nach einer Verzauberung von einem Jahrhundert wieder in die Augen sehen können. Freilich beschränkt sich dies vorläufig noch auf einen kleinen Kreis. Die bisherigen Begegnungen erlauben den Schluß, daß keine unüberwindlichen Hindernisse bestehen, um von einem Gespräch zu einer Verständigung zu kommen. Man erinnere sich schließlich, daß auch England und Frankreich durch Jahrhunderte miteinander Krieg führten, daß auch zwischen Frankreich und Spanien ein Kampf um die kontinentale Vormacht ausgefochten worden war. Die französisch-deutsche Verständigung entspricht heute derselben historischen Notwendigkeit, wie die Englandpolitik Delcasses den Interessen Frankreichs im 19. Jahrhundert diente.

Es wäre jedoch nicht sehr real gedacht, wollte man sofort greifbare Ergebnisse erwarten. Die Erinnerung an die deutsche Invasion, nicht nur des Jahres 1940, ist in Frankreich noch sehr lebendig, besonders in gewissen Teilen der Provinz, welche traditionell viel mehr die französische Politik beeinflußt als die Weltstadt Paris. Durch mehrere Generationen hindurch zog man dort vielfach eine Abneigung gegen Deutschland groß, wobei Deutschland und Preußen sehr oft gleichgesetzt worden waren. Ohne Zweifel haben die Blutopfer, die Frankreich in zwei Weltkriegen bringen mußte, die Nation aus den Reihen der Weltmächte verdrängt, wohl ist sie noch angesehen und sitzt im Dreierrat, aber sie bedarf eben doch der wirtschaftlichen und militärischen Hilfe. Vor 1914 Bankier der Hälfte Europas, zwischen 1918 bis 1933 beliebter (und einzig möglicher) Bündnispartner der mittleren und kleineren Mächte Osteuropas, sieht sich Frankreich jetzt in eine Stellung gedrängt, für die in erster Linie Deutschland verantwortlich gemacht wird.

Allerdings müssen wir auch von französischer Sicht aus positive Elemente vermerken, die — wenn vorläufig nur wirtschaftlicher Natur — doch sehr ins Gewicht fallen. Die Industrien der beiden Länder ergänzen einander vielfach, die französische Landwirtschaft hat einen nahen und günstigen Absatzmarkt in den Industriezentren Deutschlands. Die Notwendigkeit, die lothringischen Erze mit der Ruhrkohle zu verbinden, läßt den Gedanken einer französisch-belgisch-luxemburgischen-deutschen Kohlen- und Eisenorganisation als mögliche Lösung aller Probleme hinstellen, die sich derzeit der europäischen Schwerindustrie stellen. Jedem einsichtigen Franzosen ist darüber hinaus klar, daß die Frage der Sicherheit sich 1949'50 mit einem anderen Vorzeichen stellt als zwischen den Weltkriegen. Auch die Reparationen, das Krebsgeschwür der französisch-deutschen Beziehungen nach Versailles, sind diesmal nicht zur Basis der französischen Deutschlandpolitik geworden. Hinsichtlich Frankreichs kann also gefolgert werden, daß sich in erster Linie psychologische und gefühlsmäßige Momente einem Ausgleich entgegenstemmen und nicht so sehr reelle Erwägungen. Außenminister Schuman hat mehrfach die Notwendigkeit betont, daß man der Bonner Republik jene Chance des Lebens und der Entwicklung zu geben habe, die Weimar versagt wurde, während Hitler Konzessionen auf Konzessionen ernten konnte.

Auch in Deutschland stellen sich psychologische Schwierigkeiten einer endgültigen Verständigung entgegen. Der deutsche Durchschnittsnationalist war gewohnt, in Frankreich nur ein dekadentes, von Finanz- und politischen Skandalen erschüttertes Land zu sehen, den ewigen Erbfeind Deutschlands, der gierig nach deutschem Boden trachtet und die „Lichtsendung“ des deutschen Menschen nicht verstehen wolle. Auch diese Auffassung ist keineswegs schon ausgerottet. Die unglückliche Ruhrpolitik Poincares, einzelne persönliche Erlebnisse von Kriegsgefangenen, all das wird zu sehr verallgemeinert. Mit besonderer Heftigkeit wurde die vorläufige Lösung der Saarfrage kritisiert. Die scharfe Erklärung des Chefs der SPD, Schumacher, ist noch lebhaft in Erinnerung. Es verdient festgehalten zu werden, daß die Saar in einigen politischen Kreisen Deutschlands als Zeichen dafür betrachtet wurde, daß Frankreich die deutschen Lebensinteressen nicht berücksichtigen wolle. Ohne Zweifel, figuriert in Adenauers außenpolitischem Programm als Hauptpunkt die deutsch-französische Annäherung. Der Bundeskanzler will sich dieses große Konzept nicht durch eine Frage zerstören, die im Rahmen Europas ihre selbstverständliche Lösung finden könnte. Die feierliche Versicherung der französischen Regierung, die Saar weder offen noch versteckt zu annektieren, das heißt ihres deutschsprachigen Kulturcharakters zu entkleiden, hat doch unüberwindliche Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt. Es kann allerdings nicht geleugnet werden, daß der unfruchtbare Besuch Schumans in Deutschland sowie die Versteifung der deutschen Haltung in dieser Frage in Frankreich überrascht und sehr unangenehm berührt hat. Eingeweihte Kreise sprachen bereits von einem Versagen der Schumanschen Außenpolitik und wollen die Ersetzung des kranken und müden Ministers durch eine Persönlichkeit der „starken Hand“ vorschlagen. So wurde bereits der Name Jules Mochs genannt, was letztlich nichts anderes bedeuten würde, als die Politik der Verständigung durch eine eher nationale und allein den eigenen Interessen dienende zu ersetzen. Das wäre um so bedauerlicher und für Europa gefährlicher, als unter Schumans umsichtiger Leitung die französische Außenpolitik entschlossen sich vom Programm eines Bainvilles oder Maurras abgewendet hat.

Die im Dezember 1949 begonnenen Wirtschaftsbesprechungen zwischen Frankreich und Deutschland, welche zu dem Abschluß eines Vertrages führten, weisen den einzig richtigen Weg einer endgültigen Abklärung. Damit wird eine Tradition wieder aufgenommen, die, durch Rathenau inauguriert, zu den Akkorden von Wiesbaden führte, das heißt auf eine Verflechtung der wirtschaftlichen Interessen der beiden Länder hinzielte. Diese ernst zu nehmenden Vorschläge Adenauers hinsichtlich einer Beteiligung französischer Kapitalien in der deutsdien Industrie verdienen größte Aufmerksamkeit. Eine engere Verflechtung der beiden Wirtschaften muß selbstverständlich zu einer Harmonisierung in den Bereichen der Produktion und des Absatzes führen, damit auch zu der Interessengemeinschaft der beiden Partner.

Die Teilnahme Deutschlands an der Straßburger Versammlung eröffnet weitere Aspekte eines französisch-deutschen politischen Gespräches. Die deutsch-französischen Beziehungen scheinen in ein Stadium eingetreten zu sein, in dem praktische Auswirkungen erwartet werden können. So bleibt noch als Frage offen: die Verteidigung Europas. Die Neuaufstellung . einer deutschen Wehrmacht wird von Frankreich mit Recht abgelehnt und die Begeisterung dafür ist auch in Deutschland nicht sehr groß.

Dafür war die militärische Niederlage doch zu eindrucksvoll und nachhaltig. Aber bereits „Le Monde“ fragte sich in seinem Leitartikel vom 7. Dezember 1949: Wenn die Verteidigung des Kontinents in der Hauptsache Frankreich obliegt, muß es nicht der erste sein, eine deutsche Beteiligung daran zu verlangen? Der Wunsch Adenauers, deutsche Kontingente in ein europäisches Heer einzugliedern, fanden in Frankreich viel weniger Ablehnung als in England. Auf die Dauer muß ein Weg gefunden werden, um die Kräfte des deutschen Volkes in der einen oder anderen Weise für Europa nutzbar zu machen. Und Ressentiments sind nicht am Platz, wenn die gesamte europäische Gemeinschaft in Frage gestellt ist.

Ein Mißverständnis kann allen europäischen Völkern die Freiheit kosten. Darum wird sich die europäische Politik mehr als bisher der vornehmen Aufgabe eines französisch-deutschen Ausgleiches widmen müssen. Er ist eine der elementarsten Voraussetzungen für die Gründung einer europäischen Union; diese wiederum würde in entscheidender Weise die derzeitige Konstellation der Welt verändern. Unter solchen Gesichtswinkeln betrachtet, erscheinen die Schwierigkeiten auf beiden Seiten eher als ein Streit in einer Familie, der wohl tiefer und aufwühlender ist als zwischen Fremden — aber im entscheidenden Moment siegt doch das Fami-1 i e n g e f ü h 1, das Bewußtsein seiner körperlichen und geistigen Gemeinschaft über die kleinen Motive vorübergehender Gegensätze.

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