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Bonn in Frankreich offensiv?

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Das deutsch-französische Verhältnis ist seit einigen Jahren auf Moll gestimmt. Erkenntnisse der Nachkriegszeit über den Wahnsinn einer historischen Nachbarschaftsfehde und die Bewahrung gemeinsamer Wirtschafts- und Handelsinteressen im Rahmen der EWG haben die beiden Länder ohne viel Pathos und Dramatik aneinandergerückt und die einst künstlich am Leben erhaltenen Ressentiments wie den Hexenglauben in das Dunkel einer überwundenen Vergangenheit herabsinken lassen. Die Faszination, die de Gaulle auf Dr. Adenauer ausübte, der glänzende Empfang des ehemaligen Bundeskanzlers in Paris, die Begeisterung der deutschen Massen beim Besuch des französischen Generals in der Bundesrepublik und der deutsch-französische Freundschaftsvertrag waren die Sanktionierung eines längst vollzogenen Tatbestandes, an dem die Tagespolitik nicht mehr zu rütteln vermochte.

Anderseits zeigte aber auch die Tagespolitik ihre Eigengesetzlichkeit, die von Feiern, Empfängen, spektakulären Treueschwüren und Volkskundgebungen unbeeinflußt blieb. Die wechselvollen Ambitionen des französischen Staatschefs, seinem Lande die Stellung einer unabhängigen Weltmacht zu erobern, und das Bestreben Deutschlands, die politische und wirtschaftliche Solidarität des Westens über den Atlantik hinaus zu erhalten und weiter auszubauen, ließen sich nicht immer koordinieren. So konnten Vorwürfe, Verstimmungen, gelegentliche Pressionen und Resignationen nicht vermieden werden und die bereits vor Jahresfrist als unzeitgemäß empfundene Euphorie machte einem zwar höflichen und das nationale Prestigegefühl des Partners schonenden, deshalb jedoch nicht minder hartnäckigen Meinungsstreit über die weltpolitische Orientierung Platz.

Nichts wäre jedoch falscher, wollte man behaupten, daß dieser Meinungsstreit verhärtete und gar versteinerte Fronten geschaffen hätte. Der Besuch des neuen Bundeskanzlers, Prof. Erhard, in Paris, der in Begleitung eines beachtlichen Ministerteams zu einer deutschfranzösischen Arbeitstagung an die Seine kam, bewies durch eine Fülle planvoller und konstruktiver Verhandlungen, daß man sich nicht nur unüberbrückbaren Auffassungsunterschieden gegenübergestellt sieht, sondern fest entschlossen ist, Elemente des gemeinsamen Interesses im Rahmen der Möglichkeiten, entsprechend c'em Freundschaftsvertrag, zu entwickeln. Es fehlt natürlich in Frankreich nicht an Skeptikern, die in der Vorantreibung des Jugendaustausches — sein Volumen soll verdoppelt werden —, im Beschluß über eine bessere Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Information, in der Koordinierung der Entwicklungshilfe, in der Einsetzung einer zweiseitigen wirtschaftlichen Studienkommission zur Beobachtung der konjunkturellen Entwicklung und Abwendung gefährlicher inflationärer Strömungen reine Ablenkungsmanöver erblicken, mit denen man die schwerwiegenden Gegensätze maskieren wolle. Doch mag man auch über den realen Wert dieser Vereinbarungen geteilter Meinung sein, so steht außer Frage, daß die deutsche Delegation es diesmal nicht unterlassen hat, General de Gaulle und seinen Ministern diesmal in aller Freimütigkeit ihre Bedenken hinsichtlich der französischen Außenpolitik — Schwächung der NATO, Anerkennung Rotchinas, Annäherung Frankreichs an südamerikanische Staaten (die von Washington als unfreundlicher Akt gegenüber Nordamerika ausgelegt werden könnte), die leidige Argoud-Affäre und Reisen französischer Parlamentarier nach Ost-Berlin — zum Ausdruck zu bringen. Weitgehende Bereitschaft zur Zusammenarbeit und freundschaftlichen Kritik, so wie es unter Alliierten einem selbstverständlichen Realismus entsprechen sollte, hielten sich also die Waage.

Darüber hinaus glauben also Pariser Beobachter, daß die Bundesregierung ihre bisherige passive Haltung gegenüber Frankreich aufgegeben hat und nunmehr offensiv werde. Henri Marque schrieb in einem Kommentar: „In Deutschland verdächtigt man de Gaulle vielleicht deshalb weniger, die Führung Europas anzustreben, weil man sich selbst genug stark fühlt, ihm Widerstand zu leisten. Das Streben nach Unabhängigkeit, das für das neue Deutschland charakteristisch Ist, zeigt sich auch in der Haltung gegenüber Washington. Was Paris angeht, so fürchtet man nach der deutschen Konzession in Brüssel nicht mehr, daß sich eine deutschamerikanische Annäherung.^ B j au| Kosten europäischer Interessen voll-' liehen werde ..

Sicher sind in Bonn gewisse neue Tendenzen, mögen sie auch noch so verklausuliert vorgebracht worden sein, nicht überhört worden. Aus Gesprächen mit regierungsnahen Kreisen konnte man in den letzten Wochen schließen, daß de Gaulle neuerdings einer europäisch politischen Union, mit einer gewissen Annäherung an die Supra-Nationa-lität nicht abgeneigt schien — freilich unter der Voraussetzung, daß das politisch geeinte Europa volle Unabhängigkeit gegenüber den USA bewahrte. Die Bundesregierung hält aber dieses Stadium bereits für überholt und strebt eine Ausdehnung Europas auf England, Skandinavien und die Länder der Freihandelszone an. Sie verbirgt nicht ihr Anliegen, den Gemeinsamen Markt so weit wie möglich nach dem Atlantik zu öffnen.

Hier zeichnet sich vorerst noch kein Kompromiß mit dem französischen Staatschef ab. Aber man fragt sich in Paris bereits jetzt, ob Bonn durch seine grundsätzlich wohlwollende Haltung gegenüber den Entwicklungshilfewünschen des Generals — er bezeichnete bekanntlich die Hilfe für die „Dritte Welt“ (le tiers monde) als „von jetzt ab eine der großen Ambitionen Frankreichs“ — die Absicht verfolge, politische Gegenkonzessionen einzuhandeln. Freilich dürften die Möglichkeiten der Bundesrepublik auf materiellem Gebiet kaum ausreichen, um einen so ehrgeizigen Plan, wie ihn der französische Staatschef verfolgt, zu realisieren. Ganz zu schweigen von den politischen Auswirkungen dieser Extratour, die sehr sorgfältig bedacht und erwogen werden müßten. Eine objektive Wertung der in Paris kursierenden Hypothesen wird erst mit einigem Abstand zum Erhard-Besuch möglich sein.

Im Augenblick Ist nur eines sicher: Sowohl Erhard als auch de Gaulle hielten den Zeitpunkt für die Lancierung des politischer Europas für wenig zweckvoll. Da; Thema wurde deshalb auch nach kurzer Beratung aus den Gesprächen ausgeklammert und auf später vertagt. Die geschworenen „Europäer“ Frankreichs verbergen natürlich nicht ihre Verbitterung. Sie sind davon überzeugt, daß konkrete Vorschläge einer geschlossenen Front der fünf EWG-Partner Frankreichs de Gaulle in die Defensive getrieben und ihn schließlich zum Nachgeben gezwungen hätten — freilich unter der Voraussetzung des Verzichts auf die Aufnahme Englands als conditio sine qua non.

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