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Kühne Pariser Akrobaten

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Mit Melancholie erinnern sich alle, die bei der europäischen Gipfelkonferenz vom 19. und 20. Oktober 1972 in Paris anwesend waren, an diese Tage zurück. Am Vorabend eines neuen Treffens der Staats- und Regierungschefs der EWG-Gemeinschaft in Kopenhagen muß der Beobachter an die Beschlüsse und Versprechungen denken, die Präsident Pompidou im Namen seiner Kollegen nach einer dramatischen Nachtsitzung den Vertretern der Weltpresse gemacht hat. Auf der Tribüne thronten ein lächelnder Pompidou, ein zufriedener Brandt und ein stolzer Heath, während die sogenannten „Kleinen“ aufmerksam den Erklärungen des Meisters folgten. Im nächsten Dezennium werde, proklamierte der französische Staatschef, die bisherige Gemeinschaft der neun Länder in eine echte politische Union verwandelt werden. Einheitliche Wirtschaft und Währung würden den Völkern Europas eine Epoche des Friedens und der Prosperität sichern. Aus den Erklärungen konnte allerdings nicht herausgehört werden, welche staatsrechtliche Form diese Union annehmen soll. Nachdem weder Großbritannien noch Frankreich aine Föderation akzeptierten, ergab sich der Gedanke an eine lose Konföderation als erster Schritt zur Einheit von selbst. Es herrschte nicht die große Begeisterung, die europäische Mystik, die entstanden. war, als Robert Schu-man, am 9. Mai 1950 die Basis für eine europäische Ordnung legte. Trotzdem wurde der Wille der Neun im Oktober 1973 als genügend positiv gewertet, um einen Fortschritt in der Integrationspolitik erwarten zu lassen.

Im Oktober 1973, anläßlich einer Debatte über den Nahostkrieg, mußten die Sprecher der französischen Par^ffe*— abgesehen .Von' den Kommunisten — mit Bedauern feststellen, daß Europa in einer dramatischen Situation weder fähig war, als Gemeinschaft weltpolitisch aufzutreten, noch den Supermächten eine Aufgabe abzunehmen, die den Traditionen und Interessen der EWG entsprochen hätte. Hatte schon das Suezkanal-Abenteuer von 1956 den Franzosen und Engländern gezeigt, daß sie nicht mehr in der Lage sind, eine internationale Politik zu entwickeln, so beseitigte die Nahostkrise diese Hoffnung für lange Zeit. Durch mehrere Jahre wollte die französische Diplomatie den Konflikt zwischen den arabischen Staaten und Israel mit Hilfe einer Konferenz der vier Mächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich bereinigen. Aber Kissinger flog nach Moskau, Kossygin nach Kairo, und weder Washington noch der Kreml kümmerten sich um Reaktionen aus Paris oder London. Nun stehen die Europäer an einer Klagemauer.

Der Kenner muß den Kopf schütteln, wenn er den Katalog der Maßnahmen studiert, die auf der zweiten Europäischen Gipfelkonferenz ausgearbeitet wurden. Bundeskanzler Brandt hatte seinen Kollegen das Projekt eines „sozialen Europa“ vorgelegt. Die anwesenden Staatsmänner zeigten sich bereit, diesen Weg zu beschreiten. Für Juni 1973 war eine Ausspräche mit den Sozialpartnern der Gemeinschaft geplant. Sie fand jedoch nicht statt. Die technologische Zusammenarbeit, wie jene auf dem Sektor des Transportwesens, ist nicht einmal in den Ansätzen zu erkennen. Wie steht es mit einem europäischen Energieplan? Der viel gepriesene Umweltschutz sollte ebenfalls der Gemeinschaft anvertraut, die diesbezüglichen Belange der Nationen sollten zurückgedrängt werden. Es gelang, ein Aktionsprogramm auszuarbeiten. Frankreich wollte jedoch der Brüsseler Kommission nicht zu große Vollmachten erteilen. Mit bewundernswerter juridischer Spitzfindigkeit versuchten die franzosischen Delegierten, der Exekutive des Gemeinsamen Marktes den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Erweitert man diese Analyse, vermißt der Beobachter sämtlicne Vorbereitungen für die zweite Etappe der Wirtschafts- und Währungsunion. Diese war für den 1. Jänner 1974 vorgesehen. Nachdem Großbritannien, Irland und Italien nicht zu einem fixen Wechselkurs zurückgekehrt sind, erklärten Frankreich, die Niederlande und die Bundesrepublik, daß die Voraussetzungen für eine zweite Etappe vorläufig nicht gegeben seien.

Die Beziehungen zu den afrikanischen Staaten verlangen eine Revidierung. Die Emissäre von 34 Regierungen südlich der Sahara warten in den Vorzimmern der Brüsseler Kommission. Diese hat aber bisher vom Ministerrat kein klares Mandat zu Verhandlungen erhalten. Der französische Außenminister Jobert hat vor nicht allzu langer Zeit in den Mittelpunkt der gemeinschaftlichen europäischen Politik das Problem der Verteidigung gestellt. Bisher ist es allerdings nicht einmal geglückt, in den diplomatischen Verhandlungen zwecks Reduzierung der Truppen in West- und Osteuropa eine einheitliche Linie zu finden. Mit masochistischer Genüßlichkeit zählen die westlichen Militärfachleute auf, um 'wieviel mehr Panzer, Flugzeuge und SAM-Raketen die Warschauer-Pakt-Mächte besitzen als die Länder der NATO. Gelegentlich wird es als Schande bezeichnet, daß 240 Millionen Westeuropäer ihre Verteidigungskapazität auf die Hilfe von 210 Millionen US-Bürgern stützen.

Zieht man die Bilanz des europäischen Jahres 1972/73, so wird der Mangel an politischem Willen klar. Man ist nicht geneigt, Opfer zu bringen, auf Souveränitätsrechte zu verzichten und Solidarität mit den Partnern in der Gemeinschaft zu zeigen. Ein „heiliger Egoismus“ triumphiert und hat sich noch nie so zynisch vorgewagt wie in den vergangenen Wochen. Paris blickt auf die tapferen Holländer und beteuert, daß eine Gefahr der. Energieversorgung für die V. Republik nie in Frage komme. Der Umstand wird verschwiegen, daß die Niederlande einen beachtlichen Beitrag zur französischen Energieversorgung durch Erdgaslieferungen leisten. Das Dog-

ma der französischen Außenpolitik seit General de Gaulle wurde auf den einfachsten Nenner reduziert: „Absolute ' staatliche. Souveränität und keinerlei Abhängigkeit von fremden Mächten.“ Deshalb baute man eine eigene Atomstreitmacht auf, verließ die integrierten Stäbe

der NATO und ist stolz auf die eifersüchtig gehütete Eigenständigkeit. Mit kühner Akrobatik hofleren die- Pariser Diplomaten arabischer Staaten, wobei die Lebensrechte Israels fast nicht berücksichtigt werden. Die V. Republik zittert, daß ein Tropfen Petroleum weniger nach Marseille und Dünkirchen fließen könnte. Es würde zur nationalen Katastrophe führen, wenn der Bürger seine Benzinkutsche nicht mehr verwenden könnte! So entsannen sich also in letzter Minute die französischen Staatsmänner wieder Europas. Aber sind sie bereit, das Experiment einer übernationalen Gemeinschaft zu gestatten?

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