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StraBburgs Chance

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Die politische Debatte der Beratenden Versammlung des Europarates in Straßburg beschäftigte sich —- wie oft schon? — auch in ihrer letzten Session mit dem Zustand der Zusammenarbeit in Europa. Und neuerlich faßten die Parlamentarier in einer Entschließung ihre Vorstellungen zusammen: man solle doch den Europarat als politisches Organ, als wirksames Instrument für den politischen Willensbildungsprozeß in Europa nutzen. Adressat des Appells: die nationalen Regierungen.

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Die politische Debatte der Beratenden Versammlung des Europarates in Straßburg beschäftigte sich —- wie oft schon? — auch in ihrer letzten Session mit dem Zustand der Zusammenarbeit in Europa. Und neuerlich faßten die Parlamentarier in einer Entschließung ihre Vorstellungen zusammen: man solle doch den Europarat als politisches Organ, als wirksames Instrument für den politischen Willensbildungsprozeß in Europa nutzen. Adressat des Appells: die nationalen Regierungen.

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Wie immer man auch realistisch die Dinge in Europa sieht, so muß doch klargestellt werden, daß der Straßburger Europarat auf Grund seines Schwergewichts als parlamentarisches Forum heute mehr denn je eine moralische Autorität gewannt, wenn es in Fragen der europäischen Zusammenarbeit um mehr geht als um das nackte ökonomische Interesse. Tatsächlich ist der Europarat heute das einzige Forum, in dem sowohl Kritik wie Konstruktives in aller Offenheit ausgesprochen wird. Ja, in dem überhaupt noch ein Forum Europas existiert, das nicht permanent auf den Sacro Egoismo der Regierungen Rücksicht nehmen muß.

Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft zeigt in den letzten Monaten ganz deutlich eine Tendenz, derzufolge die Kommission als eigentlicher Hüter des Vertrages von Rom, als wohl „originellstes Stück der Gemeinschaftsorgan i-saition“ (wie Walter Haustein sie bezeichnet), an integrativem Gewicht verliert; die Alleingänge der Regierungen in Paris, London und auch Bonn markieren deutlich die sichtbare Machtverschiebung vom Brüsseler Zentrum in die Souveränitätsreservate der Regierungen zurück. Dieser deutliche politische Gewichtsverlust der Gemeinschaftsorgane macht klar, daß die Phase der politischen Einigung der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft weiter denn je entrückt ist. Ist die Kommission nur noch der Notar der Unvereinbarkeitserklärungen der EG-Mitglieds-regierungen?

Mit der durch den letzten Ortcli-Bericht über den Zustand der Gemeinsohaft eingestandenen Schwächung der Kommission ist auch die — fast ist man versucht zu sagen — Utopisierung der parlamentarischen Ausgestaltung der EG verbunden. Gelingt es nicht einmal, das exekutive Gemeinschaftsorgan gewichtig im Status quo zu erhalten, wie soll es da zu einer gewichtigen Mandaitserteilung gar für das Parlament kommen, wie es im Vertrag vorgesehen ist? Kritiker der bisherigen EWG mußten schon feststellen, daß sich die Mitgliedsstaaten zwar ausnahmslos zur parlamentarischen Demokratie bekennen, daß sie die EWG aber institutionell sehr wohl als unterentwickelte demokratische Einrichtung belassen. So wählt (bestellt) das Europäische Parlament keinesfalls die „Regierung“, weil die Exekutive ja zwischen Kommission und Ministerrat

— der wiederum von den nationalen Regierungen beschickt wird — geteilt ist. Vor allem aber fehlt eine echte legislative Kompetenz, vielmehr darf es nur als parlamentarischer „Ratgeber“ fungieren. Auch das Recht der parlamentarischen Kontrolle ist in der EWG entscheidend reduziert, vor allem durch das Fehlen eines Haushaltsfoewüligungs-rechtes; was bleibt, hat demokratische Feigenblattfunktion.

Angesichts der Situation in Europa im allgemeinen, in der EWG im besonderen, darf man getrost feststellen, daß die Frage ja wohl derzeit auch Nachrang vor vielen anderen, erheblich dringlicheren und dramatischeren hat. Was freilich nicht der Aufgabe enthebt, die Konsequenzen der Frage einer „Parlamentarisierung“ zu prüfen.

Anders als die EWG hat der Europarat schon seit seiner Gründung ein Schwergewicht auf die parlamentarische Arbeit legen können — oder müssen (je nachdem, wie sehr man diesen Zustand begrüßt oder angesichts der Effektivitätsgrenze bedauert). Immerhin haben der Beratenden Versammlung seit 1949 bereits fast 2000 Abgeordnete der nationalen Parlamente angehört. Diese Abgeordneten wurden mit europäischen Problemen vertraut, schufen sich übernationale Kontakte, trugen europäische Gesichtspunkte in ihre nationalen parlamentarischen Institutionen. Längst ist auch der gravierende Gegensatz zwischen den „Föderalisten“ und den Anhängern einer „intergouvernementali-stischen“ Integrationsmethode beigelegt. Denn der Weg der Verschmelzung Europas zu einem Bundesstaat mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen für die parlamentarische Ausgestaltung einer solchen supranationalen Konföderation war doch wohl nur aus der spezifischen politischen Situation des „Kalten Krieges“ zu verstehen, in der der Druck aus dem Osten die militärische, wirtschaftliche und politische Union (in dieser Reihenfolge) besonders nachdrücklich nahelegte. Die Konzeption, einzelne Souveränitätsrechte zugunsten von Behörden mit begrenzten Funktionen, aber Vollmachten, durch Entschluß der einzelnen Nationalstaaten abzugeben, war das eigentliche Vorstellungsprinzip im Europarat — und ist als prozessuales Element auch in die EWG-Konzeption eingegangen (weshalb sich der Europarat auch so positiv zum Integrationsprozeß stellte, obwohl ganz offensichtlich ja doch ein Parallelorgan — noch dazu mit einem exklusiven Teilnehmerkreis, geschaffen worden war).

Daß sich der Europarat angesichts der Fortschritte in der EWG sozusagen — weil überflüssig — auflöst, ist jedenfalls aus zwei Gründen nicht eingetreten: erstens hat es die EWG auf Grund der Zielsetzungen in den Römischen Verträgen einigen Staaten, vor allem den Neutralen, unmöglich gemacht, beizutreten; zum anderen hat die mangelhafte parlamentarische Ausgestaltung der EWG wesentlich dazu beigetragen, daß auf die Beratende Versammlung des Europarates als einigermaßen funktionierendes parlamentarisches Beratungsinstrument nicht verzichtet werden kann.

Wenn man dem Europarat angesichts aller Beschneidung, die er im Laufe seiner Geschichte hinnehmen mußte, Kritik widerfahren lassen will, dann die, daß er zwar als inte-gratives' Element-auf unteren Ebenen einiges leisten konnte — daß er aber bei der Mobilisierung der Öffentlichkeiten in den Staaten Europas versagt hat.

Tatsächlich schlägt die graue Stimmung der Mutlosigkeit deutlicher denn je durch die Führungseliten bis zur breiten Masse durch. Man mache sich keine Illusion über die Ermüdung, mit der die Europaidee zu kämpfen hat — auch beim europäischen Durchschnittsbürger. Das Hochschrauben der Erwartungen, insbesondere angesichts der Vergrößerung der EWG nach der Ablöse von General de Gaulle, die Verstärkung der Kontaktfelder zwischen den europäischen Staaten, die ständigen — langfristig immerhin — Erfolgsmeldungen aus Brüssel, die Gipfelkonferenzen in Paris, Den Haag und Kopenhagen — das alles hat die Einigung einem scheinbaren Automatismus unterworfen, dessen Ende nicht ganz so einfach zu erklären ist.'

In allen diesen Jahren hat der Europarat zuwenig spektakuläre Anlässe gesucht und wahrgenomimen, den Einigungsvorgang einerseits von der Brüsseler Szene abzulenken, anderseits insbesondere im Bereich der Public Relations für die europäische Idee auch im nicht (unmittelbar) politischen Raum zu werben.

Hier aber liegt ja doch am ehesten die Stärke des Europarates: etwa im Kulturellen, im Bereich der Massenkommunikation, der wissenschaftlichen Integration. Man muß es den Massenmedien, den Hochschulen und den anderen kulturellen Trägern zugute halten, daß sie es eigentlich waren und noch immer sind, die am stärksten die geistige Einheit dieses Kontinents nützen — und damit betonen. Jedes Fernseheuropaquiz, jede Rundfunkaustauschsendung, die (vor allem vom Europarat getragenen) Großausstel-lungen, der Austausch von Wissenschaftlern, die Bestrebungen zur Angleichung der Schulbücher — das alles war und ist doch der eigentliche Motor im Entstehen eines Gemeinschaftsgefühls der breiten europäischen Massen. Zählt man auch noch den Massentourismus zu den starken Integrationsquellen, dann zeigt sich ein Hebelarm, den man künftig in Straßburg vermehrt ansetzen könnte.

Aber selbst solche Aktivitäten werden den eingetretenen Rückschlag nicht auffangen können, wenn der Europarat von sich aus nicht auch politische Anliegen stärker — und selbständiger — verfolgt. Der Vorschlag, die Delegierten zum Europarat in einer Direktwahl jedes europäischen Wahlberechtigten zu entsenden, ist etwa ein starker und reizvoller Ansatzpunkt für denkbare neue Wege.

Die Uberwindung nationaler Enge und die Bindung an nationale Regierungen ist allerdings erst dann denkbar, wenn es gelingt, Parlamentarier gleicher politischer Gesinnung zu übernationalen Fraktionen zusammenzubinden. Hier ist der Vergleich mit bundesstaatilichen Organisationsformen erlaubt. Noch im altösterreichischen Abgeordnetenhaus erwies sich die Nationalität der Abgeordneten als stärker denn ihre Parteienbindung. Im österreichischen Nationalrat gab es nur kurzfristige Bundesländereinheiten — sehr bald machten diese den Parteienfraktionen Platz. (Das Konstruktionsmodell des Bundesrates basiert noch auf dem Irrigen Schluß, daß Delegierte von Landtagen eher im Sinne ihrer Entsendungsorgane als nach parteipolitischen Fraktions-zwängen entscheiden würden.)

Der Nationalstaatlichkeitsanspruch ist dort zu umgehen, wo es in Europa zwischen den Sozialdemokraten in europäischen Angelegenheiten eine stärkere Zusammenarbeit und Affinität gibt als zwischen Regierungspartei und nationaler Opposition

Was wir in der gegenwärtigen Phase noch vor allen weiteren Versuchen zur Zusammenarbeit von Regierungen in Europa brauchen, ist eine Bildung und Stärkung europäischer Parteienbewegungen. Die sozialistische Internationale ist hier am weitesten entwickelt. Nach anfänglichem Mißtrauen gegen das „konservative“ Europa der Adenauer, Schumann und de Gasperi ist der Prozeß der Konsultation und Kooperation unter den Sozialdemokraten in Europa relativ stark ausgebaut worden; wenngleich sich ein rein europäisches Exekutivorgan noch nicht gebildet hat. Von den Sozialdemokraten gehen derzeit aber wohl die stärksten Impulse zur Europäisierung der nationalen Standpunkte aus; Österreichs Burf-deskanzler Kreisky ist dabei ein erfolgreicher Motor, gleichgültig, ob es sich um die Meinungsbildung in bezuig auf Nahost, die Europäische Sicherheitskonferenz oder auch nur die Gastarbeiterfrage handelt (so vor allem durch die „Alpen-Internationale“ von Igls).

Die nichtsozialistischen Gruppierungen sind derzeit arg ins Hintertreffen geraten. Innerhalb der Union christlich-demokratischer Parteien tobt seit Jahren ein heftiger Kampf zwischen „Fortschrittlichen“, die vor allem von dem linken Flügel der italienischen DC geführt werden und den „Konservativen“ unter der weitgehenden Federführung von CDU/CSU und Schweizer CVP. Seit Jahren kann man sich auch nicht über einen Brückenschlag zu den Konservativen Englands und der skandinavischen Staaten einigen; eine Kooperation zwischen Christdemokraten und Gaullisten verhinderte bisher einerseits das völlig aufgeriebene MRP Frankreichs, dessen einziger populärer Repräsentant der Senatspräsidenf (und Gegner Pompidous bei den letzten Präsidentschaftswahlen) Poher ist, anderseits der stark gouvememental denkende Block von Alt-Gaullisten, die lieber mit einem starken, aber gewählten deutschen Kanzler Brandt, als mit einer Opposition verhandeln wollen.

Die liberalen Parteien haben sich in einem Forum finden können, in dem naturgemäß die Freidemokraten Walter Scheels die dominierende Rolle spielen. Aber auch Englands Liberade und die Freisinnigen in der Schweiz bieten bereits eine natürliche Basis der Kooperation an. Die Kommunisten haben ihre „Integration“ wohl bereits am weitesten vorangetrieben. Ist das kürzlich stattgefundene Treffen der westeuropäischen KP in Brüssel der Weckruf, in die europäischen Institutionen als Fraktion einzuziehen?

Fassen wir zusammen: Europas Integration ist durch die derzeitige Krise der EG vorläufig abgestoppt. Sie über Brüssel wieder in Gang zu setzen, ist angesichts der differenzierten Interessenlage der Mitgliedsregierungen vorläufig zumindest — in terminlicher Hinsicht — fraglich.

Will Europa aber die Zeit nützen, dann müßte und könnte der Straßburger Europarat seine Chance erkennen, überall dort den Hebel anzusetzen, wo man ihm sogar die Schrittmacherfunktion anträgt: im Bereich der Kultur, der Medien, der Wissenschaft und Forschung, zum Teil auch des Tourismus. Der Europarat sollte seine Presse- und PR-Aktivitäten explosionsartig verstärken, und die Offensive auf die öffentlichen Meinungen in Europa eröffnen. Der Druck dieser öffentlichen Meinungen wird die Regierungen am ehesten zum Nachgeben zwingen. Und selbst wenn diese Vorhaben als Donquichoterie erscheinen sollten, müßten sie ausgeführt werden (daß hier der Persönlichkeit des neu zu wählenden Generalsekretärs besondere Bedeutung zukommt, braucht nur am Rande angeführt zu werden).

Schließlich aber müßten sich die europäischen Unionen der Parteien — vor allem die Sozialdemokraten, Christdemokraten, Konservativen und Liberalen stärker herausbilden. Es müßte gelingen, jede nur denkbare Basis der Zusammenarbeit zu nützen, jede Chance solcher parteipolitische, aber internationaler Kommunikation zu verstärken. Daß hier aber Prestige zu holen ist, kann den Parteipolitikern nebenbei gesagt werden. Gerade aus diesem Grund ist auch die Fahrt des österreichischen Bundeskanzlers als Beauftragter der europäischen Sozialisten in den Nahen Osten zu werten. Es wäre zu wünschen, daß auch die anderen Gruppen in Europa solche vorgezeichneten Möglichkeiten nützen.

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