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In Straßburg eine Schanz'?

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KALTE WINDSTÖSSE fahren durch die mächtigen Baumkronen der Straßburger Orangerie. Von Zeit zu Zeit prasseln Regenschauer herunter. „Die Eismänner“ sind in der letzen Aprilwoche dieses Jahres auch in den Elsaß verfrüht eingebrochen. Durch die regennasse Blätterwand des frischen Grüns werden rote Backsteinziegel sichtbar. Der auf der Suche nach dem Europahaus ein wenig vom Weg abgekommene Besucher steht plötzlich vor den letzten Resten einer alten Befestigungsanlage. Dunkel gähnen die Schlünde der Kasematten. Es ist ein Fort der alten Festung Straßburg, die General Uhrich „pour honeur du drapeau“ noch verteidigte, als 1870 die deutschen Armeen schon tief in Frankreich eingedrungen waren. In Straßburg eine Schanz'... Wir waren ausgezogen, die europäische Zukunft aufzuspüren, und sehen uns plötzlich mit der Vergangenheit nicht nur dieses schönen, vielumworbenen und -umkämpften Landes zwischen Vogesen und Rhein, sondern ganz Europas drastisch konfrontiert. Aber vielleicht sollte jeder „Europapilger“, bevor er in den weißen, leichtgefügten Bau des nahen Europahauses eintritt, die Begegnung mit den harten, bald ein Jahrhundert überdauernden Zeugnissen des Gestern nicht scheuen. Hat er etwa hochfliegende Erwartungen und Höhlungen mitgebracht, so werden sie ihm den Weg zu einer nüchternen Schau zurückfinden helfen; neigt er dagegen eher zur Skepsis gegenüber allem, was sich unter der blauen Fahne mit den zwölf goldenen Sternen seit dem Kongreß in Den Haag 1948, in dem die unartikulierte Sehnsucht der einer Weltkatastrophe eben entronnenen Menschen nach einem neuen politischen Hochziel das erste Mal zu organisatorischen Formen drängte, sich an Aktivitäten entfaltete, so wird er allen Meter um Meter seither errungenen Erfolgen seinen Respekt nicht versagen können.

IM „WEISSEN HAUS“, an der Straße nach Robertsau, empfängt den Besucher der zwölften Session der Beratenden Versammlung des Europarates — so die etwas langatmige offizielle Bezeichnung dieses Konvents von Parlamentariern aus den zwölf Mitgliedsstaaten des Europarates — der übliche zeitgenössische Kongreßbetrieb. Ein scheinbar zielloses Kommen und Gehen, das sich erst allmählich entschlüsselt. In den Wandelgängen promenierende Gesprächspartner, kleine diskutierende Gruppen. Ein Klingelzeichen, das eine Abstimmung ankündigt, scheucht sie in den Plenarsaal. Journalisten der verschiedensten Länder bevölkern

„ihr“ Quartier ... Daneben — natürlich! — die unvermeidlichen, überall gleichen Typen der Schlachtenbummler und internationalen Adabeis. 13 5 Abgeordnete haben in der lichten Glashalle des Plenarsaales ihre Plätze. Die Zahl der Abgeordneten der einzelnen Länder richtet sich ungefähr nach der Bevölkerungszahl der Mitgliedsstaaten. Ein Blick auf die offizielle Liste gibt nicht nur Auskunft über die Mitgliedstaaten, sondern auch einen ersten Einblick in die Probleme dieser Versammlung.

Österreich................... 6

Belgien ..................... 7

Dänemark .................. 5

Frankreich ................... 18

Bundesrepublik Deutschland..... 18

Griechenland ................. 7

Island ...................... 3

üübt tuai' tu mwni 151 r sbbntosc ru hpwf!....................•• .4

Italien . •,................... 18

Luxemburg.................... 3

Niederlande .................. 7

Norwegen................... 5

Schweden ........... ....... 6

Türkei ....................... 10

Großbritannien ............... 18

Zu der nationalen Gliederung kommt noch die nach weltanschaulichen Gruppen, wobei es natürlich kein so klares Schema gibt. Neben den großen Klubs der Christlichen Demokraten, der Sozialisten und der Liberalen gibt es auch die große Fraktion der — wegen des Mangels an anderen Sammelbegriffen — kurz „Unabhängige“ Genannten, wo man so heterogene Elemente wie englische Konservative und Parteifreunde des eben gestürzten türkischen Regierungschefs finden kann. Doch der „Klubzwang“ ist hier nur eine Hilfskonstruktion, die leicht durch wirkungsvolle Persönlichkeiten durchbrochen werden kann. Diese Erfahrung mußten in dieser Session vor allem die Sozialisten bei der Wahl des neuen Präsidenten der Versammlung machen. Sie hatten gewisse Hoffnungen, einen Gesinnungsfreund mit Hilfe christlich-demokratischer Stimmen auf den Präsidentenstuhl zu bringen. Allein der Kandidat — der englische Labourabgeordnete Henderson — konnte außer dem gut-renommierten Namen seines Vaters wenig in die Waagschale werfen. Ergebnis: Der umgängliche dänische Liberale Per Federspiel machte für dieses Jahr das Rennen.

„MONSIEUR LE PRESIDENT!“ Der laute Ruf des Saalordners und das Erheben der Abgeordneten begrüßt nach dem Zeremoniell jedesmal das Erscheinen des Präsidenten. Die Tagesordnung ist lang und nicht immer sehr erregend. Berichte ... Berichte ... Berichte ... Eintönig plätschert Rede und Gegenrede. Einiges Leben kommt in die Versammlung, wenn — gleichsam als „Einlage“ — irgendeine Regierung das Bedürfnis fühlt, durch einen Sprecher eine Erklärung abzugeben und für ihren Standpunkt in dieser oder jener Frage internationale Sympathien zu werben versucht. So war es diesmal--zum Beispiel die Deutsche Bundesrepublik, die es nicht versäumte, durch den Mund von Minister Merkatz ihren Standpunkt vor dem Pariser Gipfeltreffen auch vor diesem Forum auszubreiten. Steinerne Gäste in der weiten Runde sind natürlich EWG und EFTA. Die mit diesen wirtschaftlichen Gruppierungen verbundene Problematik schafft sich natürlich — beim Namen genannt oder auch unausgesprochen — immer mehr Raum in dem Haus am Rande der Straßburger Orangerie.

UNSER GESPRÄCHSPARTNER ist ein „Europäer der ersten Stunde“. Er war schon mit'dabei in Den Haag, als 1948 der Ruf zur Sammlung erschollen war. Er war auch aktiv beteiligt an der Ausarbeitung des „Statuts“ des Europarates, das am 5. Mai 1949 in London unterzeichnet wurde. Es ist etwas von der Wehmut alter Veteranen in seiner Erzählung, als er von den „Europajahren“ um 1950 spricht, von der Zeit, als in diesem Haus in Straßburg kühne Pläne geschmiedet wurden und sich die führenden Staatsmänner des westlichen Europa hier ein Rendezvous gaben. „Damals, als Robert Schu-man...“ „Wie De Gasperi sagte...“ „Als Adenauer meinte ...“ Gesprächsfetzen, die doch wie ein einziger Abgesang klingen. Zweifellos: Jene Europakonzeption, als deren Ausdruck der Ministerrat und die Beratende Versammlung ins Leben traten, ist steckengeblieben. Andere, von massiveren Kräften gestützte Formeln übernationaler wirtschaftlicher Kooperation wurden in dem vergangenen Jahrzehnt gesucht, entdeckt und der Verwirklichung zugeführt — beziehungsweise derselben nahegebracht. Alle diese Bestrebungen nahmen von einem Ort ihren Ausgang: dem Europarat!

„WIRD KRONOS DIESMAL VON SEINEN SÖHNEN VERSPEIST?“ Ein um ein Apercu nie verlegener, scharf beobachtender Diplomat hat im Hinblick auf die Zukunft des Europarates und die von ihm entsprungenen Aktivitäten, die unter anderem in der OEEC, der EWG und auch der EFTA ihren Niederschlag fanden, diese Frage gestellt. Niemand aus der Runde kann sie zur Stunde beantworten. Tatsache ist ohne Zweifel, daß die Aktivität des Europarates zur Zeit etwas in luftleere Gefilde abzugleiten Gefahr läuft. Das war nicht immer so, das muß nicht immer so sein. Liegt nicht die große Zukunftsaufgabe des Europarates gerade darin, das unverfälschte föderalistische Gedankengut der europäischen Einigung gegenüber allen offenen oder verdeckten Hegemonietendenzen oder Sonderbundbestrebungen zu bewahren und aller Ungunst der Stunde zum Trotz auf einen neuen Tag hin überzuretten? In Straßburg eine Schanz'... Bis dahin bleibt aber auch noch genug nicht zu unterschätzende Kleinarbeit. Mag das Plenum der Versammlung-auch vielleicht immer stärker v den Charakter von Pflichtübungen annehmen, so bleibt die Funktion der „Tribüne“, die vielen Kommissionen und Sonderaktionen — nicht zuletzt auf dem Gebiet der Kulturpropaganda. Und es bleiben schließlich und endlich: die Couloirs. Ihnen möchten wir im gegenwärtigen Zeitpunkt die größte Bedeutung zuerkennen. Straßburg als Ort der Begegnung einer europäischen Politikergeneration ist nicht nach Soll und Haben zu messen. Wer Vorkämpfer der EWG und Anwälte der EFTA, hochkultivierte, aber beinharte italienische Nationalisten und Südtiroler Politiker, prominente belgische Katholiken und nordische Sozialisten an einem Ort antreffen will, statt von einem zum anderen kreuz und quer durch Europa zu reisen — der löse eine Fahrkarte nach Straßburg; wann immer die blaue Fahne mit den zwölf Sternen gemeinsam mit den Fahnen der 15 Nationen hier gehißt wird.

DER REGEN HAT AUFGEHÖRT. Es beginnt zu dämmern. Die einfallende Nacht verhüllt die nahen alten Festungsanlagen, deren Anblick uns am Morgen besinnlich stimmte. Noch von weitem aber nimmt der Blick die Konturen des weißen Hauses am Rande der Orangerie aus.

Straßburg 1960: ein Schemen?

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