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Randhemerkungen zur woche

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DER STARKE WIDERHALL DES LEITAUFSATZES der „Oesterreichischen Furche“ Nr. 25, „Oesterreichischer Realismus“, reflektierte sich in den letzten Tagen noch in einem Leitaufsatz des Wiener „Organs der demokratischen Einigung“, das nach einigen freundlichen Bemerkungen aus einem Satz der „Furche“ den Schluß zieht: „Also erst, wenn die Probleme von Korea, Vietnam, Berlin, Triest und die ganzen Randstaatenprobleme ins Rollen kommen, erst dann könnte man auch an Oesterreich denken“ — Hier liegt ein Mißverständnis vor, das Aufklärung verlangt. Eine solche Interpretation entspricht nämlich keineswegs unserer Auffassung: wir betonten zwar die Verflochtenheit Oesterreichs in die weltpolitischen Komplexe — nur ein Blinder dürfte sie übersehen — um aber nur noch nachdrücklicher die Forderung herauszustellen nach einer eigenständigen österreichischen Initiative. Wi. haben im letzten Leitaufsatz, „Freie Presse, freies Volk“, diese Forderung wiederholt; sie allein kann nämlich Oesterreich herauslösen aus der unheilvollen Verschlingung mit allen anderen weltpolitischen und innereuropäischen Fragen, die zwischen Moskau und Washington heute zur Debatte stehen. Bleibt uns nur übrig, das anschließende Wort des „Neuen Oesterreich“ nachdrücklich zu unterstreichen: „Unsere Forderung nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit ist eine absolute Forderung, die in sich begründet ist und erfüllt werden muß, auch wenn noch so viele andere ungelöste Probleme und unerfüllte Postulate in der Welt herumschwirren.“ — Was heute die so oft mißleitete und unorientierte Oeffentlichkeit verlangt, ist eine österreichische Politik, die sich durch kein wie immer geartetes Schlagwort und durch keine Vernebelung oder gar Drohung davon abbringen läßt, eine Politik für Oesterreich, für seine wahre Freiheit, und das heißt, für seine Eigenständigkeit in Europa, zu betreiben. Mit allen Mitteln, die ihr und dem Volk zur Verfügung stehen.

ÖSTERREICHS HOHE SCHULEN sind ein Komplex heikler politischer, kultureller und personaler Probleme. Die Mitschuld der Intellektuellen an der gegenwärtigen Misere hat, zum Erstaunen eines zahlreichen betretenen Publikums, erst vor kurzem ein hervorragender Universitätslehrer, Professor Helmut Schelsky aus Hamburg, im Auditorium maxi-mum der Wiener Universität enthüllt. Unverblümt sprach er da vom Realitätsverlust der heutigen hohen Schulen in Mitteleuropa, von der Wirklichkeitsferne und Enge, die sie heute charakterisieren. Ein Wiener Fall beleuchtet in diesen Tagen den latenten Selbstmord unserer hohen Schulen. Will da das zuständige Ministerium eine seit Jahren nicht mehr besetzte Lehrkanzel wieder besetzen. Der Laie möchte nun meinen, daß die besagte hohe Schule hoch er freut zustimmen würde, ja müßte — gehört doch die Nichtbesetzung bzw. Auflassung von Lehrkanzeln zu den Hauptgründen der inneren Verproletarisierung, des Niveauverlustes. Weit gefehlt: die besagte hohe Schule plädiert nun auf Auflassung des besagten Lehrstuhles; mit der Begründung, daß dieser nicht recht in ihr Gefüge passe; zudem sollte er mit einer (ganz hervorragenden, erprobten) Lehrkraft besetzt werden, die früher einer Hochschule anderen Typs angehört hatte. — Das ist ein Fall von vielen. Noch ist die Geschichte der Nichtberufung bedeutender Gelehrter nach Oesterreich in diesen Nachkriegsjahren nicht geschrieben, dieser Nichtberufung nicht aus Geldmangel, wie es schamhaft und falsch oft in der Oeffentlichkeit heißt, sondern aus Enge und Angst vor „Konkurrenz“. Die Verbannung des Agons, des Wettstreits, von unseren hohen Schulen, widerspricht dem Lebensgesetz, unter dem allein sich diese entwickeln können: der Freiheit der Forschung. Wie aber soll diese erhalten werden, wenn sie von ihren beamteten Hütern wider Berufene und zu Berufende „verteidigt“ wird?

FRANKREICHS NEUER REGIERUNGSCHEF, der 64jährige konservative Politiker und Großindustrielle Joseph Laniel scheint ein Freund des goldenen Mittelweges zu sein. Die Charaktereigenschaften dieses Sohnes der Normandie: schweigsam, zurückhaltend, doch nicht ohne Humor und mit beiden Füßen auf der Erde. Fünffacher Großvater. Scharfschütze. Mit großer Vitalität und Energie leitet er die Leinenfabrik von Vimoutiers, einen alten Familienbesitz, mit „mustergültigen sozialen Einrichtungen“ — soweit „Le Monde“. Aber diesen Ruf bestätigten auch die ersten Tage seiner Regierungszeit. Nachdem er mit der Kürze seiner Investiturrede alle die früheren Bewerber während der 41 Tage der Regierungskrise geschlagen hatte, verblüffte er seine Gegner wie seine Verbündeten durch seine Haltung in der Nationalversammlung, wo die Bestätigung des neugebildeten Kabinetts erlolgen sollte. Gemäß einer langen Tradition brachten mehrere Abgeordnete Interpellationen ein und lorderten die sofortige Debatte. Laniel ging darauf nicht ein und ließ

sich dadurch nicht in eine Falle locken. Er blieb stumm sitzen. Die Pariser Zeitungen ebenso wie so manche Deputierte verbargen ihren Aerger hinter witzigen Bemerkungen, während Laniel recht behielt: die Nationalversammlung willigte m die Verschiebung der Debatte mit 386 gegen 211 Stimmen ein. Aber das Schlagwort blieb: „der schweigsame Redner“ und man lügte nur hollnungsvoll hinzu, daß ein ebenfalls „lakonisches Naturell“ — Julius Caesar — auch einmal „kam, sah und siegte“. Ist aber diese Hoiinung im Fall des Ministerpräsidenten Laniel berechtigt? Man hofft: ja! Weil, wenn er auch ein „Tacitus“ ist, so doch kein „Cunctator“. Die brennenden Probleme Frankreichs — die freilich das Ausland, insbesondere die Presse der westlichen Alliierten, viel mehr in Erregung hielten als die französische Presse selbst, welche auch während einer manchmal ausweglos scheinenden Krise, inmitten in Fluß geratener innen- und außenpolitischer Konstellationen, niemals um die eine oder die andere humorvolle Bemerkung, um einen gutsitzenden Point verlegen war —, diese Probleme kamen während der letzten Wochen einer befriedigenden Lösung keinesfalls näher, sondern eher umgekehrt. Mit der Verschiebung der Bermuda-Konferenz steht auf der langen Liste an erster Stelle die Finanzkrise. Eine Reform der Verlassung wird ebenfalls nicht lange hinausgezögert werden können. Auch über außenpolitische Fragen, vor allem Indo-china, gab der Ministerpräsident schon eine sehr präzise Erklärung vor der Presse ab. Und wenn er seine Bestätigung als Ministerpräsident, wie man behauptet, seiner Kompromißbereitschaft in der leidigen Verfassungslrage verdankt, so wird im außenpolitischen Sektor eine klare und feste Haltung vonnöten sein, um Frankreichs vornehme Position in der Weltpolitik weiterhin zu behaupten.

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„IN BERLIN, EINGEKEILT ZWISCHEN ZWEI WELTEN, sieht man die Dinge klarer.“ Der Osten bietet als Heilmittel Maschine, Technik und Terror an. Der Westen bietet „dagegen“ seinen praktischen Materialismus an, er glaubt, die Welt durch Arbeit, Geld, Technik retten zu können. — So sprach nicht ein „Neutralist“, nicht Niemöller oder Heinemann, sondern das sagte der Berliner katholische Bischof Dr. Weskamm vor den 30.000 Katholiken aus Ost und West bei der Abschlußkundgebung des Berliner Katholikentages am 29. Juni 1953. „Wenn die schweren Katastrophen die Menschheit im Westen nicht zur Einsicht bringen, daß neue Wege nötig sind und daß vor allem jeder persönliche und nationale Egoismus überwunden werden muß, wie sollten wir dann weiterkommen? Es müssen andere, stärkere Kräfte mobilisiert werden.“ Weder der westliche noch der östliche Materialismus können die Menschheit aus dem gegenwärtigen Engpaß herausführen. Die christliche Auflassung des Menschen allein trägt der Gesellschalt und der Einzelpersönlichkeit Rechnung, ohne die eine der anderen zu opfern. — Auch ein Beitrag zum Europa-Thema Nr. 1: Wiedervereinigung Deutschlands. Eine ernste Frage an die deutsche Christenheit: kann sie sich messen mit den aufeinanderprallenden Materialismen aus Ost und West? „... anschließend Tanz.“ „Nicht in bester Form.“ Mit diesen Titeln leiten die (protestantische) Stuttgarter Zeitschrift „Christ und Welt“ beziehungsweise die „Bayrische Staatszeitung“ eine Aussprache über die Haltung der westdeutschen Bevölkerung in den Tagen der ostdeutschen Tragödie ein. „In diesen Tagen, während Menschen in der Sowjetzone, die die stellvertretenden Märtyrer auch unseres sicheren Westens sind, drüben in die Gefängnisse geworfen oder standrechtlich erschossen werden, ist in Westdeutschland ein pompöser Vergnügungsrummel lustig weitergelaufen. In der Zone spielte sich ein blutiges Drama ab. Im Westen hat man sich ungestört in den Zirkus des Wochenends gestürzt, und keiner hat daran gedacht, ihn abzublasen. Feuerwerke wurden zu Gartenfesten abgebrannt, Sommernachtsfeste mit blendendem Erlolg arrangiert, im Schatten der Trauerlahnen wurde getanzt.“ „Was sind wir eigentlich lür ein Volk? Ist das nur Gedankenlosigkeit, Dummheit, Stumpfheit des Gefühls?“ „Und müssen wir uns einmal vorwerfen, daß die tapferen Männer und Frauen von Ost-Beüin und Gera und Magdeburg unter unserer Teilnahmslosigkeit ebenso gelitten haben wie unter dem Terror ihrer Peiniger?“ — „Vielleicht liegt es auch daran, daß zu viele Saturierte unter uns mit ihrer Gedankenfaulheit und Gedankenlosigkeit den Ton angeben.“ — Das sind Berichte und Bemerkungen, die nachdenklich stimmen sollten: über den Wert und die Artung der „öffentlichen Meinung“ im Westen. In unserem Westeuropa, ir> dem allzu viele meinen: wir sind noch einmal davongekommen... Nach uns die Sintilut. Was neben mir geschieht, geht mich nichts an. — Auch ein Kommentar zur Rede des Berliner Bischofs.

Stampa“' ucr großen katholischen Tageszeitung „L'Italia“ auf, das überzeugendste Beispiel für das blühende moderne katholische Pressewesen dieses Landes. Don Bicchierai und Don Pisoni, die Leiter dieses großen Unternehmens, genießen höchstes Ansehen unter den Publizisten Italiens. Darüber hinaus aber sind auch im Mailänder „Corriere della Sera“ (und man muß wissen, welchen Einfluß dieses größte Blatt Italiens besitzt, dessen Artikel nicht nur auf der ganzen Halbinsel gelesen, sondern auch in allen intellektuellen Kreisen und Salons eifrig diskutiert werden), Katholiken, wie Indro Montanelli, Dino Buz-zati, Giovanni Spadolini und viele andere führend tätig. Alle wichtigen Ereignisse und Erscheinungen aus dem katholischen Raum werden, so etwa in der von Silvio Negro besorgten Rubrik „Corriere Vaticano“, eingehend berichtet und kommentiert. Dasselbe wie vom „Corriere“ gilt auch von den meisten anderen unabhängigen Tageszeitungen Italiens, für die der „Corriere“ seit jeher das Vorbild ist. Rechnet man dazu noch die democristianische Parteipresse und die der Regierung nahestehende Presse — wie etwa den mit zehn Lokalausgaben und einer Riesenauflage ganz Venetien beherrschenden „Gazzettino“ Venedigs, eine in ihrer Haltung gewiß betont katholische Zeitung — so zeigt sich ein ausgesprochenes katholisches Ueberge-wicht im italienischen Pressewesen und zumindest ein ganz anderes Bild als das düstere, von Dr. Mallmann gezeichnete. Die Bezeichnung der auch bei führenden Persönlichkeiten der Democrazia Cristiana hochangesehenen Kulturzeitschrift „II Mondo“ als „antiklerikale Kampfschrift“ muß doch als starke Uebertreibung bezeichnet werden, und der Vergleich dieses Blattes mit dem „Schwarzen Korps“ ist reichlich hart.

Was aber den zweimal als Kronzeugen angeführten, als „Italiens Pfaffenfresser Nr. 1“ bezeichneten Professor Gaetano S a 1 v e m i n i betrifft, muß man wissen, daß dieser hochbetagte, in der Tradition des laizistischen Antiklerikalismus aufgewachsene Herr als bewährter Antifaschist und historische Persönlichkeit zwar mit einem gewissen Respekt behandelt wird, daß er aber durch sein langes Exil dem Geist seiner so raschlebigen Nation und vor allem der jüngeren Generation völlig entfremdet ist. Ich habe vor sechs Jahren als amüsierter Zuschauer die Begegnung des aus dem amerikanischen Exil heimkehrenden Professor* Salvemini mit einer Gruppe junger italienischer Akademiker miterlebt; es wai

eine fast rührend-komische Begegnung, die den Abgrund zwischen den beiden Generationen offenbarte.

Es wäre noch auf das italienische Filmwesen hinzuweisen, auf den religiösen Film ebenso, wie auf die Priestergestalten und religiösen Stoffe in den Filmen „nichtkatholischer“ (ich muß immer wieder dieses wenig glückliche Wort verwenden, um nicht als „katholisch“ abgestempelte Personen und Institutionen zu kennzeichnen) Regisseure. Es genüge nur noch der Hinweis darauf, daß Herr Dr. Mallmann in einer Stadt lebt, deren Bürgermeister der wegen seines franziskanischen Lebenswandels fast als heiligmäßig angesehene, auch von den „Nichtkatholiken' aufrichtig verehrte katholische Universitätsprofessor La Pira ist.

Gewiß hat der „Antiklerikalismus“ in Italien eine starke Tradition. Dr. Mallmann weist selbst indirekt auf eine der Wurzeln dieser Erscheinung hin, wenn er gerade jene Gegenden — wohl auch wieder in unzulässiger Verallgemeinerung — als „völlig ent-christlicht“ bezeichnet, die einst zum Kirchenstaat gehörten. Eine tiefeingewurzelte Angst vor einem „Governo dei preti“ ist bis weit in streng katholische Kreise hinein in Italien Tradition — aus Sorge um die Kirche und Religion nicht minder als aus Sorge um den Staat. Wenn trotzdem die Führung der Regierungsgeschäfte durch De Gasperi und die Democrazia Cristiana nicht zu stärkerem Wiederaufleben des „Antiklerikalismus“ führte und in Italien wie überall in Europa die alten Frontstellungen „Klerikal“ und „Antiklerikal“ überholt erscheinen, so ist dies nicht zuletzt dem Takt und der klugen Zurückhaltung zweier hervorragender Persönlichkeiten zu danken, die auch in „nichtkatholischen“ Kreisen Italiens höchstes Ansehen genießen: dem Heiligen Vater Papst Pius XII. und dem großen christlichen Staatsmann De Gasperi, der ebenso wie der Parteisekretär Gonella (auch ein Beispiel für einen katholischen Universitätsprofessor!) durch Jahre mit Erfolg bemüht war, das Bündnis mit den drei kleineren Parteien, den Republikanern, Liberalen und Sozialdemokraten möglichst eng zu gestalten. „Antiklerikale“ Attacken und dem-entsprechende scharfe Reaktionen (wie der Artikel Dr. Mallmanns offensichtlich eine darstellt), sind demgegenüber doch nur das letzte Echo eines aus dem vergangenen Jahrhundert zu uns herüberklingenden Kampflärm:.

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