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Randbemerkungen zur woche

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STRASSENBAHNWAHLEN? Vor diese Frage sah sich in der vergangene Woche die oberste Führung der ersten Regierungspartei gestellt. Zwar gab es auch andere Faktoren als das Begehren der Volkspartei-Wien, die das Thema „Neuwahlen zum Nationalrat“ zum Diskussionsgegenstand machten — das heißumkämpfte ASVG zum Beispiel sowie die alte Bauernweisheit, daß „man schneiden soll, wenn der Schnitt ist“. Und der Herbst 1955, in dem das Verdienst führender Männer der Volkspartei um die Erringung des Staatsvertrages noch in wacher Erinnerung ist, erschien vielen Politikern — auch jenen, die ansonsten gar keine. Heißsporne sind — als einmalige Chance, eine reiche Ernte am Abend eines Wahltages in die Scheuer der eigenen Partei einzubringen. Dazu kommt ohne Zweifel eine momentane Verwirrung in den sozialistischen Reihen, die es schon als einen in der Politik nie bedankten politischen Altruismus erscheinen läßt, nicht zum großen Duell anzutreten. So die an vielen Orten vorgetragenen Gedanken und Ueberlegungen des politischen Hausverstandes. Die geübten Wahlarithmetiker jedoch zogen vom Anbeginn die Bremse. Sie wiesen darauf hin, daß der ohne Zweifel im gegenwärtigen Zeitpunkt zugunsten der Volkspartei zu erzielende Stimmengewinn nicht unbedingt auch in einem Mandatgewinn sich umsetzen müsse. Das in Frage gestellte Crundmandat der KP sowie der unberechenbare Wählertrend des reichlich derangierten VdU machen es nicht leicht, von vornherein von einem „todsicheren Rennen“ zu sprechen. Ueberlegungen der Staatspolitik kamen hinzu. Beide beeinflußten ohne Zweifel den Entschluß von Bundeskanzler Raab, den Appell an den Wähler zurückzustellen, so der Koalitionspartner bei den gegenwärtig vorliegenden Gesetzen und bei den Budget-Verhandlungen seine Forderungen ein gutes Stück zurücksteckt. Dennoch war die Stimmungsmache für Neuwahlen innerhalb seiner Partei dem Kanzler sicher nicht ungelegen. Die „Neuwahlen“ sind ohne Zweifel der Knüttel im Sack des Regierungschefs bei allen laufenden Konferenzen —, und die zweite Regierungspartei muß es sich schon einiges kosten lassen, daß er nicht doch herausgelassen wird. Die Situation im „Bund“ ist also klar-, von der Bundeshauptstadt kann nicht dasselbe behauptet werden. Die scharfe Opposition der Volksparteifraktion im Rathaus gegen die ungebührliche Erhöhung der Straßeitbahntarife durch die sozialistische Majorität war nur allzu berechtigt und hatte die Sympathie weiter Kreise, in die diese Partei bisher nie gedrungen war, für sich. Diese Akklamation wird aber nun von Tag zu Tag leiser. War es schon ein Ausweichen, Kcmmunalfragen in die Bundespolitik hineinzutragen (Man denke nur: auch ein überwältigender VP-Sieg bei einer allfälligen Nationalratswahl würde die Straßenbahnkarte in Wien um keinen Groschen billiger machen), so vermißte man die erwarteten kräftigen Aktionen am 1, September. Der Bürger von Wien war ziemlich ratlos, auf welche Weise er sich — wie es Plakate forderte — „mit der OeVP wehren“ solle. Dazu kommt das von vielen als Satirspiel betrachtete „Rücktrittsdebakel“. Bestimmt: es können gewisse Gründe angeführt werden, die gegen einen Exodus der VP aus der Koalition im Rathaus sprechen. Allein, sehr überlegen sollte sich der Stadtrat für Verkehr ein Verbleiben im Amte. Das Scheiden dieses großen Könners würde von niemandem mehr bedauert als von uns. Allein, bleiben heißt, nach den allgemein üblichen Spielregeln der Politik, zu der in seinem Ressort vorgenommenen und von ihm bekämpften Tariferhöhung fa und amen sagen. Hier könnte in unserer immer weniger bekenutuisfreudlgen Zeit ein Beispiel gegeben werdenl

DASS AN DER SCHWELLE DES MOZARTJAHRES ein Spielkasino als Konkurrent des Mozarteums auf den Plan tritt, hat in der Oeffeutlichkelt beträchtliches Aufsehen erregt. Der Sachverhalt: Durch den Abzug der Amerikaner aus Salzburg ist das Schloß Mirabell freigeworden. Es befindet sich bekanntlich in unmittelbarer Nachbarschaft des Mozarteums, das, wie die meisten Musikschulen, seit Jahren an Raumnot leidet und vor allem eine Versuchsbühne sehr entbehrt. Beides: schöne Unterrichtsräume und eine Bühne gibt es im Mirabell. Was hätte näher gelegen, als dem Mozarteum das Mirabell gam oder teilweise zur Verfügung zu stellen? Aber da gab es einen alten Vertrag der Sahburger Casino-AG mit der Internationalen Stiftung Mozarteum — und da gibt es ein Kuratorium besagter Stiftung. Wie man hörte und auch lesen konnte, wurde die Spielkasino-AG durch das Kuratorium an den alten Vertrag erinnert, und dieses letztere — das dock vor allem das künstlerische Interesse des Mozarteums wahrnehmen solltet — schickte sich an, durch einen Rechtskonsulenten einen neuen Vertrag aufsetzen zu lassen, der den Einzug der Spielbank Ins Mirabell vorbereiten soll. — So/ort protestierten der Präsident der Akademie Mozarteum und einige Professoren in einem „öffentlichen Appell“. Die Autoritäten verhielten sich zunächst abwartend, sagten dann Hilfe zu, waren nicht für das Kasineproiekt, aber auch nicht entschieden genug dagegen. Das Unterrichtsministerium gab eine Woche nach der Veröffentlichung des erwähnten Appells seinem Befremden darüber Ausdruck, daß die Stiftung vor der endgültigen Verfügung über die Räumlichkeiten des

Mirabeil-Gebäudes der Akademie bzw. der staatlichen Unterrichtsverwaltung keine Gelegenheit zur Erörterung ihres Anliegens geboten habe. Jedenfalls bedauert das Unterrichtsministerium ... Rebus sie stantibus erscheint es müßig, darüber zu rechten, wer in Angelegenheit Kasino-Mir ab eil allzu geschwind und wer zu langsam gehandelt hat. Wichtiger wäre, daß für das Kasino andere Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden — die zu akzeptieren man geneigt scheint. Auch aus dem Grunde: damit die unerfreuliche Nachbarschaft von Musentempel und Spielkasino vermieden wirdl

GAZA - ZU DEUTSCH SOVIEL WIE „FESTE“ rund 80 Kilometer südwestlich von Jerusalem, au der Grenze von Israel und Aegypten, 1947 von den UN ursprünglich Israel zugesprochen, galt schon in alten Zeiten als der Schlüssel Palästinas. Nach ihm griff Alexander, langten die Römer und Mohammedaner, die Kreuzfahrer und Mameluken, durch Gaza zog Napoleon, und auch im ersten Weltkrieg wurde hier gekämpft. Blutgetränkter Boden, der Ende August und Anfang September neuerdings gerötet wurde. Noch immer wirken die Auseinandersetzungen nach, die mit dem Erlöschen des britischen Mandats im Mai 1948 ausbrachen. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es bereits 6000 Tote. Es war das Verdienst der Vereinten Nationen und ihres Vermittlers, des Grafen Folke Bernadette, der einem Mord zum Opfer fiel, daß der Krieg mit dem Waffenstillstand von Rhodos im Jänner 1949 sein Ende fand. Der Brandherd war ausgetreten — aber längst glasten die Funken im Süden, Osten und Norden. Das waren die arabischen Flüchtlinge. Ihre Führer hatten ihnen erzählt, nach dem Sieg über Israel könnten alle zurückkehren. Indes kam es bekanntlich anders. Heute leben 434.256 Flüchtlinge in Jordanien, 114.$50 in libanon, 83.430 in Syrien, 4000 im Irak und allein im strittigen Gebiet von Gaza 200.000 — immer wieder bleiben diese 900.000 Menschen übrig, jeder Propaganda ausgesetzt. Es ist nicht einmal gelungen, die Bewässerungspläne nach dem Johnston-Plan (Jordan) einvernehmlich zu regeln — obwohl eine Kolonisation der Flüchtlinge der einzige Ausweg aus dem Bevölkerungsproblem wäre. Denn so groß auch die Mittel waren, die der UNRWA (United Nations Relief and Work Agancy for Palestinian Refugees In the Near East) für die Flüchtlinge aufwandte — es bleibt doch nur ein Notbehelf, bei der bekannten Fremdenfetnd-lichkeit zudem eine fragwürdige Ausgabe. Es wird noch viel Energie bedürfen, um hier für einige Zeit Ordnung zu schaffen. Mit bedenklichen Waffenlieferungen dritter Mächte jedoch schüttet man nur Od ins Feuer. Oel besitzt man aber ohnehin genug im Nahen Osten.

GENERAL JUAN DOMINGO PERÖN WEINTE TRANEN. Sein „Rücktrittsgesuch“ und die Bitte, als „einfacher Perönist' dem teuren Vaterlande weiter dienen zu dürfen, wurden nicht genehmigt. Von weml Vom Volke natürlich, das aus allen Richtungen zum Regierungspalast geströmt war. Unter dem unwiderstehlichen Zwange (wer zwingt wen?) der pcrönlstlschen Gewerkschaften erklärte der Präsident, der noch vor wenigen Tagen meinte: „Wenn jemand einen Diktator braucht, ich werde es nicht sein“, nunmehr den Gegnern „Kampf bis zum letzten-, ließ dieser Mann die beiden Häuser des Parlaments den Ausnahmezustand beschließen und damit die Zivilverwaltung aufheben. An der Spitze der Provinzialverwaltungen steht darnach kein Gouverneur, sondern ein Offizier. Von allem Anfang an herrschten erhebliche Zweifel, ob das Rücktrittsgesuch ein Zeichen der Amtsmüdigkeit seit vielmehr setzte sich die Ansicht durch, nach der letzten Revolte in Argentinien und den innenpolitischen (nicht zuletzt durch den antikirchlichen Kampf hervorgerufenen) Schwierigkeiten habe der Präsident eine propagandistisch verwertbare Vertrauenskundgebung nötig gehabt. Darin besitzt Per6n Uebung. Schon im November vorigen Jahres — bei der Kirchenkampagne — kamen die Demonstranten mit Parolen auf den Transparenten, die gleichzeitig der Rundfunk und die Regierung verkündeten. Warum nun dieses Theater} Perön, der einstige Leiter des Staatssekretariats für Arbeit und soziale Fürsorge, ist weder mit den Arbeitsproblemen noch mit jenen Fragen der Fürsorge fertig geworden, die sich aus der wachsenden Spannung der Gesellschaftsschich-tung ergeben haben. Die schönsten sozialen Stiftungen bleiben nur ein Pflaster, wenn man nicht die Wunde saniert: das Lohngefälle vermindert und vor allem den wirtschaftlichen Widerspruch löst, der darin besteht, daß ein hochagrarisches Land gezwungen ist, zu exportieren gegen Industriegüter, und anderseits im Lande selbst eine Industrie auf. gebaut wird. Zum Landarbeiterproletariat kommt nun das Industrieproletariat Statt eines fürsorgebedürftigen Standes gibt es zwei, die überdies zueinander im Gegensatz stehen. Solche Probleme zu lösen, ist selbst Ländern, die bevölkerungsmäßig größer waren, nur nach langen Auseinandersetzungen und mit weiser Mäßigung extremer Ansprüche gelungen. Argentinien, das zwar seit 1914 um zehn Millionen Menschen mehr zählt, aber immer noch bloß rund 17 Millionen auf 3,75 MM Quadratkilometer, bedürfte nock weit mehr einer behutsamen Hand. Die Transparente zerreißt der Wind, die Tränen des Präsidenten trocknen, aber die Tränen des Volkes werden weiterfließen — doch kaum aus Freude über Ausnahmezustand und Militärregierung.

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