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An den Rand Geschrieben

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FÜHRUNGSANSPRUCH. Kaum glaubt man in Führungskreisen der SPÖ, die Olah-Krise sei vorüber, und schon versucht Vizekanzler Pittermann, den Streit aus der Parteistube wieder in den Koalitionsraum hineinzutragen. Seine Ankündigung beim burgenländischen Parteitag, seine Partei werde demnächst wieder eine verstärkte Initiative in der Frage der Wahlrechtsreform entfalten, hat nur diejenigen ÖVPIer überrascht, die bereits glaubten, die Urlaubsstimmung an der Koalitionsfront sei der Anfang eines geordneten Rückzuges der Sozialisten unter anderem auch in der Wahlrechtsfrage. Man möchte freilich gleich siegen und sich den mühseligen Kampf, der sonst jedem Sieg vorausgehen muß, ersparen. Der Parteivorsitzende der SPÖ sorgte für die Ernüchterung. Er meinte, die Sozialistische Partei habe nunmehr (I) die Chance, von den Wählern mit der Führung im Staat betraut zu werden. Und er drohte: „Wir wollen dem österreichischen Volk die unheilvolle Entscheidung ersparen, zwischen Fortsetzung der Zusammenarbeit und Durchsetzung des demokratischen Wählerwillens entscheiden zu müssen.” Das heißt also: wenn die ÖVP den sozialistischen Wahlrechtsenfwurf nicht akzeptiert, sei das Ende der Zusammenarbeit gekommen. Der Generalsekretär der Volkspartei antwortete wie immer postwendend: Der sozialistische Wahlrechtsentwurf sei für die ÖVP nach wie vor unannehmbar; die Volkspartei sei übrigens gerne bereit, dem österreichischen Volk die Frage vorzulegen, ob ein Wahlrecht gerecht wäre, bei dem auf Grund des Ergebnisses der letzten Nafionalrafswahlen die ÖVP drei Mandate und die SPÖ eines verliert und die FPÖ vier Mandate gewinnt, „ wenn Vizekanzler Dr. Pittermann glaubt, die Bankrotterklärung der von ihm und O.lah betriebenen Politik der kleinen Koalition noch in letzter Minute durch eine Wahlrechtsänderung sanieren zu können .. . Es ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, daß eine andere Koalition, die im Wiener Rathaus, nach Wunsch der sozialistischen Rathausmehrheit auf der Basis des SPÖ- Wahlprogramms neu errichtet werden soll. Die ÖVP ist damit ebensowenig einverstanden wie mit der Weigerung der Sozialisten, den Mandatszuwachs der ÖVP durch stärkere Positionen in Landesregierung und Stadtsenat zu honorieren. Der „Führungsanspruch” ist hier vollkommen und ungeteilt.

EIN BLICK IN DIE ZUKUNFT. Stadfrat Dr. Heinrich Drimmel hat am letzten Montag in der Volkshochschule Wien XV! über das politische Fundament seiner Partei, der österreichischen Volkspartei, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesprochen. Dem Wirken des Wiener Bürgermeisters Dr. Lueger sei es zu verdanken, sagte Dr. Drimmel unter anderem, daß in Wien die erste christlichsoziale, klassenlose Volksparfei, in klarem Gegensatz zu verwandten Bestrebungen im Ausland, entstehen konnte. „Wenn die Erwartungen, die wir in die Fortentwicklung der Wohlstandsgesellschaft und der Bildungsgesellschaft setzen, uns nicht trügen, dürfen wir das Entstehen einer Schicht von Staatsbürgern mit mittlerem Eigentum erwarten, in denen ein Interesse an Besitz und gediegenem individuellem Lebensstil ebenso vorherrschen wird wie ein Interesse an einer verfestigten politischen Ordnung." Dr. Drimmel schloß mit den bemerkenswerten Worten: „Wahrscheinlich nähern wir uns dem Punkt, an dem das reaktionäre und das revolutionäre Prinzip des Politischen in einer neuen Generation gleicherweisen abgelehnt werden.”

DIE BOMBE IM GEPÄCKWAGEN. Die Südtiroler Gemeindewahlen erlebten mit einem „Böllerschuß" einen düsteren Auftakt. Die Bombe, die in den Gepäckwagen des Brennerexpreß geschmuggelt wurde, leitete im Land jenseits des Brenners wieder eine Serie von Attentaten ein, die erneut Unruhe und Hysterie bei den italienischen Sicherheitsbehörden hervorgerufen hat. Italienische Kreise — wohl dieselben, aus denen auch die „kühnen Flieger” über Innsbruck stammen mögen — drohen nun, auch in österreichische Gepäckwagen Bomben zu legen. Und so scheinen nun die Radikalen beider Lager ein munteres Spiel gefunden zu haben: Wieder geht es um Menschenleben, die arglos der Politik zum Opfer gebracht werden, sei es in Feuergefechten, sei es mit heimtückisch angebrachten Zeitzünderbomben. War der Raid über Innsbruck eine lächerliche Demonstration, ein schwacher Aufguß von d'Annun- zios Flug von 1918, aus dem „Risor- gimento-Museum' entliehen, so stammt das Rezept, dem Gegner Bomben in reguläre Eisenbahnzüge zu schmuggeln, aus einem möglicherweise existierenden „Handbuch für Terroristen”. Denn daß die Bombe im D-Zug nur eine Antwort auf die Innsbrucker Flugzettelaktion war, ist

schwerlich anzunehmen. Wäre dem so, gilt es nun, die Antwort der Italiener abzuwarten. Und die Gefahr, daß Terror mit Terror vergolten wird, bis schließlich Menschenleben keine Rolle mehr spielen, ist groß.

FARCE ODER FORCE. Die Auseinandersetzungen um die multilaterale Atomstreitmacht gehen weiter. Der deutsche Verteidigungsminister von Hassel betonte ausdrücklich: „Wir sind darin völlig einig, daß das MLF-Projekt so schnell als möglich verwirklicht werden sollte, sobald die politischen Entscheidungen auf internationaler Ebene gefallen sind." Von Hassel, dessen Besuch bei seinem Kollegen McNamara im Pentagon eben zu Ende gegangen ist, kehrte einigermaßen zufrieden nach Bonn zurück. Wichtigstes Ergebnis des Besuches ist neben voller Übereinstimmung über die MLF eine Zusammenarbeit der USA und Deutschlands auf waffentechnischem Gebiet. Das Kommunique betont mit Nachdruck das „bisher engste Einvernehmen", das vor allem in der Frage der „Vorwärtsstrategie" erreicht werden konnte. Der Widerstand Frankreichs, aber auch Skandinaviens gegen die MLF wird freilich schwer zu überwinden sein. Der einigermaßen ungeklärte Status, den die als Handelsschiffe getarnten Atomkreuzer einnehmen sollen, hat auch schon Moskau zu einer nachdrücklichen Erklärung veranlaßt, in der die Pläne als Bedrohung des Weltfriedens bezeichnet werden. Wird die geplante Afom„force” zur farce? Die Politik des Um-Frankreich-Herumbauens geht jedenfalls weiter.

HINTER VERSCHLOSSENEN TÜREN. Wenn in Moskau das Zentralkomitee tagt, dann ist für die Kreml-Astrologen und Berichterstatter aus aller Welf höchste Alarmstufe geboten. Die bisher bekanntgewordenen ersten Änderungen in diesem obersten Parteigremium sind bemerkenswert, ja zum Teil alarmierend genug. Immer mehr zeigt es sich, daß die Ablösung Chruschtschows wieder alles in Bewegung brachte, was innerhalb und vor allem außerhalb des Sowjefrei- ches als konsolidiert und durchschaubar galt. Jetzt tauchen über Nacht Namen auf, die außer den Experten kein Mensch je gehört hat, Lebensläufe werden studiert — man müßte sagen: dechiffriert —, Kontakte und Zusammenhänge geprüft. Da heißt es auf einmal, der wichtigste Mann in der neuen Führung sei Nikolai Pod- gorni, der — wie Breschnjew, Suslow und Scheljepin — sowohl dem Sekretariat wie auch dem Präsidium der Partei angehört; er war es und nicht etwa Breschnjew, der am letzten Montag den Bericht über die personelle und organisatorische Reform vor dem Zentralkomitee vorgefragen hat; er verfügt außerdem in den höchsten Rängen über eine sichere Gefolgschaft. Die Welfagenturen berichten außerdem noch über fatale Entwicklungen in diesen höchsten Regionen der sowjetischen Hierarchie: Schlüsselfiguren der Geheimpolizei rücken plötzlich in die leergewordenen Plätze nach und werden Vollmitglieder des Zentralkomitees und Mitglieder des Präsidiums: so der schon genannte Vizeminisferpräsidenf und ehemalige Geheimpolizeichef Alexander Scheljepin sowie der Leiter des Staatssicherheifsdienstes in der Ukraine, Wladimir Semitschastny. (Der letztere hat in der schändlichen Hetze gegen Boris Pasternak im Jahre 1957 eine unrühmliche Rolle gespielt.) Und schon weisen die Experten nach, daß die sowjetische Geheimpolizei am Sturz Chruschtschows wesentlich mitgewirkt habe. Das ist freilich nur eine Vermutung, aber wen würde es wundern? Die innere Struktur eines totalitären Staates setzt die Macht, ja Allmacht der Polizei als etwas Selbstverständliches voraus. Für die Menschen in jenen Ländern bedeuten freilich Akzentverschiebungen sehr viel, ja fast schon alles.

KÜHLER ABSCHIED. Nach dem Revolutionsfeiertag mit den in Moskau versammelten Partei- und Staatsführern der kommunistischen Welt, mit der obligaten Raketenparade auf dem Roten Platz, kam der Abschied. Kühl, kurz und korrekt wurde denn auch die chinesische Parfeidelegation auf dem Moskauer Flugplatz Scheremetjewo verabschiedet. Ministerpräsident Tschu En-lai hat überhaupt nur zweimal mit den gegenwärtigen Führern in Moskau gesprochen: kurz nach seiner Ankunft und ganz zum Schluß, da die meisten der übrigen Delegationen bereits abgereist waren. Wie zu erwarten war, kam eine Einigung in keinem der strittigen Punkte zustande. Die Chinesen haben die sowjetische Koexistenzpolifik, wie schon früher, strikt abgelehnf. Die „Prawda" nahm auf diese Gespräche insofern Bezug, als sie in Leitartikeln seither noch betonter als vorher für die Fortsetzung der Koexistenzpolitik, „die vom Leben täglich und stündlich bestätigt wird”, eintrift.

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