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Randhemerkungen zur woche

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DER MENSCH HAT ALLE RÄUME EROBERT: die Erde, die Luft, die Meere, die höchsten Berge, die größten Tiefen, die Wüsten und Urwälder, den Nord- und den Südpol. Dem Nächsten ist er aber entfernter und fremder als je zuvor. In Genf trafen sich die großen Vier und versprachen, ehe sie heimfuhren, jenen Zustand der Entfremdung, der Furcht und des Hasses, „kalter Krieg“ genannt, zu beenden. In allen Sprachen ward's gesagt, in allen Gazetten wird's gedruckt: Mir, Pax, Peace, Paix, Friede! Nach Bulgarien drang es anscheinend noch nicht, dort wurde der Krieg „heiß“. Die bulgarischen Flaksoldaten, vielleicht simple Tabakbauern, Rosenzüchter oder Schafhirten, führten nur Befehle aus, wie in jeder Armee, Damit war das Schicksal eines Verkehrsflugzeuges, das sich verflogen hatte, und mit ihm das Schicksal von 5% Männern, Frauen und Kindern besiegelt. Wie gesagt, die Nachricht von einer besseren Zeit drang gewiß in viele Ohren, aber nur in wenige Herzen.

DIE ZIVILVERWALTUNG FÜR DAS MÜHLVIERI EL trifft Vorbereitungen, ihre Tätigkeit einzustellen. Damit findet jene österreichische Kuriosität ein Ende, daß es in einem Bundesland die Landesregierung und außerdem einen „Staatsbeauftragten“ (für das Mühlviertel) gab. Die letzte Sitzung der Zivilverwaltung am 11. August beendet aber keine Probleme; diese beginnen jetzt erst. Kein Wunder, daß sich vom oberösterreichischen Landtag aus kürzlich ein aus allen Parteien zusammengesetzter volkswirtschaftlicher Ausschuß bildete. Das Granithochland nördlich der Donau nimmt — gleich dem oberösterreichischen Alpengebiet — 29 Prozent des Landes, das sind 3500 Quadratkilometer, ein; 200.000 Menschen leben hier. Mit Ausnahme des Gallneukirchuer ffecketis ist es rauhes Bcrgbauern-land, arm an Industrie (Kaolin bei Schwertberg, Leder in Rohrbach, Textilien in Haslach). Es gilt außer der Intensivierung des Flachsanbaues auch jene von Hopfen vorwärts zu treiben. Die Güter-wegaktion sieht noch wenigstens 700 Kilometer Planung vor sich. Viele bestehende Wege entsprechen in keiner Weise den Anforderungen-, sie sind oft ohne Unterbau und Wasserabfuhr, die Steigungsverhältnisse verteuern vielorts. ungemein die Erhaltung. Eine Reihe von Gebieten, wo Wegebau unrentabel wäre, müssen durch Güterseilbahnen erschlossen werden. Das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft ist auf diese Zustände aufmerksam gemacht worden. Die Elektrifizierung und Mechanisierung bedarf großzugiger Kredite. Es gilt aber nicht zuletzt, die Verkehrslage zu verbessern. Die politischen Grenzverhältnisse werden bereits vorbearbeitete Projekte, wie die Bahnen Aigen—St. Oswald— Unter-Moldau und Aigen-Salnau in absehbarer Zeit bei den Akten ruhen lassen; nicht aber ruhen sollten die Pläne hinsichtlich der Strecken Haslach— Summerau (Anschluß an die Hauptstrecke Linz—Freistadt) und der bereits trassierten Bahn Neufcldcn— Wegscheid (Verbindung der Mühlkreisbahn mit dem bayrischen Bahnnetz). Und wenn schon die früher geplanten großen Donaubrüchen bei Aschach und Obermühl auf dem Papier bleiben, ist das Projekt der Brücke bei Grein desto dringlicher. Die Beseitigung der verkehrsgeographischen Abschnürung des Mühlviertels wird eine Besserung der sozialen und gesundheitlichen Verhältnisse mit sich bringen. Vergessen wir hier nicht, daß In diesem Gebiete die Säuglingssterblichkeit bei 54,2 auf 1000 (gegenüber Vorarlberg 36,7) liegt. Das Beispiel des Prämoustrateuserstifts Schlägl, das bereits 1925 eine landwirtschaftliche Winterschule errichtete, verdient weitere Nachahmung. Das sind Fragen gelegentlich der Wiedervereinigung des Mühlviertels mit Oberösterrcich-, und nicht, ob die Textilfabriken Uniformtuch liefern könnten oder ob Freistadt wieder Garnison werden sollte. .

WESTDEUTSCHLAND GERÄT INNENPOLITISCH IN BEWEGUNG: nach Jahren versteifter und erstarrter Fronten zeichnet sich in den letzten Monaten eine innenpolitische Entwicklung ab, die durchaus positiv zu bewerten ist. Hier zeigt sich eine erfreuliche Wirkung der Milderung 'der weltpolitischen Gegensätze: während es jahrelang zum guten Ton gehörte, streng und steif zum eigenen Parteiblock und Führer zu halten und jedes „Aus-der-Reihe-Tanzen“ als Verrat am „Abendland“ und an Deutschland „gebrandmarkt“ wurde, lockert sich das innenpolitische Leben nunmehr sichtlich auf. Als symbolische weithin sichtbare Figur für diese Auflockerung darf der Vizepräsident des Bundestages und CDU-Generalsekretär Dr. Jäger genannt werden, der mit seiner ironisch-offenen, Freund und Gegner gegenüber verständnisvollen Art sichtbar sich abhebt von den bärbeißigen Kampfhähuen in der Art Dr. Hundhammers, der in seiner eigenen Partei in Bayern jetzt offeneren Typen die Führung überlassen mußte. Politisch wirksam zeigte sich die innere Auflockerung in den letzten Wochen vor allem in der bemerkenswerten Einigkeit, die starke sozialistische Kreise verband mit Politikern der CDU und anderer Regierungsparteien in Fragen der neuen Wehrmacht: Hier fanden sich plötzlich Menschen, die lange Zeit durch einen scheinbar unüberbrückbaren Graben getrennt waren. Diese Begegnung von Männern und Frauen der SPD und CDU ist für die Zukunft wichtig: sie allein kann dem Aufwärtsdrängen unkontrollierbarer Kräfte aus dem Untergrund ein echtes Gegengewicht abgeben — Der Rückzug der Nur-Parteileute wurde im Fall des niedersächsischen Unierrichtsministers Schlüter erkämpft durch eben diese „Koalition“, diese freie Verbindung von politischen und staatsbürgerlichen Kräften aus aliin demokratischen Parteien. Auf die hier sich langsam anbahnenden neuen innenpolitischen Gruppierungen werfen nun die Vorgänge im und um den BHE ein gewisses Licht. Der „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE), eine typische Nachkriegs-crschcimmg, spielte bisher als eine Sammclbcweguug von Ostvertriebenen und teilweise auch von „Ehemaligen“ eine interessante Rolle: durch zwei Minister, Oberländer und Kraft, in der Bundesregierung vertreten, sicherte er Dr. Adenauers absolute Mehrheit vor allem im Bundesrat und ließ gleichzeitig durch seine inneren Auseinandersetzungen, ähnlich wie die FDP, einen Einblick In die wirklichen Stimmungen des Volkes in Westdeutschland zu. Diese wirklichen politischen Verhältnisse wurden ja in den beiden größten Parteien verdeckt, in der CDU durch den Schatten des großen „Alten“, in der SPD durch eine harte, von alten Sozialdemokraten selbst ah „stur“ bezeichnete Parteidisziplin. Der BHE ist nun sichtlich in Bewegung geraten; er teilt damit die Gefahr und Chance kleinerer Parteien, die nicht durch eine fixe Ideologie oder (und) die Uebermacht eines Führers zusammengeschweißt werden. Der BHE hat sich mit seinen Ministern in der Bundesregierung entzweit, er wirft ihnen vor, Hörige Dr. Adenauers geworden zu sein und die Interessen der Partei verraten zu haben. Dieser Konflikt führte zur Trennung der beiden Minister von ihrer Partei; vielleicht kommt es zu einer Spaltung, da eine Gruppe von Bundesabgeordneten und anderen Politikern des BHE, die den Weg zur Krippe im Bund und in den Landesregierungen gefunden haben, sich mit Oberländer und Kraft verbinden. Offensichtlich steht hinter diesen Vorgängen mehr als ein Parteistreit: es geht um den deutschen Osten, um eine Aktivierung breiterer Massen in Westdeutschland zugunsten einer aktiven westdeutschen Ostpolitik. Dr. Adenauer weiß das — es geht für ihn nicht nur um die absolute Mehrheit im Bundesrat, sondern um seine Regierung überhaupt. Das Ende des Kalten Krieges lenkt die Blicke auch der Westdeutschen nach Osten. Der schwere Gang nach Moskau wird durch dieses Wissen des-Kanzlers um diese innenpolitische Bewegung in Westdeutschland nicht erleichtert. Der „Alte“ in Bonn ist aber nicht verlegen; er kann seine Karten nicht vorzeitig aufdecken, in welcher Richtung er sie aber möglicherweise auszuspielen gedenkt, zeigt der Name jenes CDU-Abgeordneten, der immer käufiger als präsumtiver erster westdeutscher Gesandter in Moskau genannt wird: es ist ein Fürst Bismarck. Sein Ahn hat einst, so darf erinnert werden, als Gesandter in Moskau die Grundlagen für das deutsch-russische Bündnis gelegt ...

DIE NACHRICHT VOM ABZUG DER SOWJETISCHEN TRUPPEN AUS ÖSTERREICH bis zum 1. Oktober löste in den westlichen Hauptstädten sogleich lebhafte Kombinationen über den Abzug der Sowjets auch aus den Satellitenstaaten aus. Der Anlaß wüte hierzu gegeben, da der Rechtstitel für die Sowjets, in Ungarn und Rumänien Truppen zu halten, die Sicherung der Verbindungswege zu ihrer Besatzungszone in Oesterreich war. Nun wurde es bis jetzt nicht bekannt, ob der Warschauer Vertrag Bestimmungen aufweist, die •der neuen Lage Rechnung tragen. Auch fehlen zuverläßliche Angaben darüber, ob und wieweit die Militärcinheiten der übrigen vertragschließenden Länder trotz seit langem durchgeführter äußerer Gleichschaltung von Moskau tatsächlich als gleichwertiger Ersatz für die eigenen Truppen betrachtet werden. Darum wäre die in London aufgeworfene Frage nur schwerlich zu beantworten. Wie aber, wenn Aloskau auf den Einsatz eigenen oder verbündeten Militärs als Ordnungsfaktor zumindest prinzipiell und für größere, auf weite Sicht lohnendere Ziele verzichten und die Regierungen in diesen Ländern mit ihren Sorgen allein lassen würde? Diese Sorgen, zumal in Ungar u, dürften, nach Angaben der eigenen, kommunistischen Zeitungen, zahlreich sein. Sie betreffen die akuten Schwierigkeiten der Landwirtschaft und vielleicht noch mehr die latente Unruhe in den Parteikadern, die das eigentliche Rückgrat jedes kommunistischen Machtsystems sein soll-feg. I Wahrheit geht in Ungarn quer durch diese Reihen ideologisch durch und durch exerzierter Parteisoldaten ein tiefer Riß. Die Wunden der letzten Krise um Imre Nagy in diesem Frühjahr sind noch keineswegs geheilt. Das weiß man aber besonders dort, wo man eine Lockerung der ideologischen und machtpolitischen Einheitsfront des Ostblocks nicht nur gerne sehen, sondern auch gerne beschleunigen würde: in Jugoslawien. Und so sprach Marschall Tito anläßlich' eines nationalen Feiertages in Karlovac in der vergangeneu Woche mit scharfen Worten über die Regierungen in den Volksdemokratien, die die von Jugoslawien und der Sowjetunion kürzlich vereinbarten Prinzipien sabotierten und ihre feindselige Haltung gegenüber Jugoslawien beibehielten. Die Antwort auf diese Rede des Marschalls, die einer Anklagcerhcbung gleichkommt, blieb bisher aus. Wie auch, auffallenderweise, die Zeitungen in-den Volksdemokratien, wenn sie über Jugoslawien schreiben, sich auf Zitate aus der „Prawda“ beschränken. Die „Koexistenz“ Jugoslawiens mit seinen“ Nachbarn ist- also noch eine Aufgabe für die Zukunft. Sie kann solange nicht Wirklichkeit werden, so lange die inneren Verhältnisse in den Volksdemokratien eine Quelle der Unsicherheit bleiben — mit oder ohne Sowjetmilitär.

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