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Aus „jungen Löwen“ werden Exzellenzen

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Während der Vollversammlung der Auslandsjournalisten in Paris am Ende des vergangenen Jahres zog der Doyen dieser Organisation das Fazit eider 30jährigen Tätigkeit. Der ergraute Deutsch-Schweizer erklärte seinen wissensdurstigen jüngeren Kollegen: „In der Vierten Republik war noch etwas los, niemals mehr wird es die Spannung im Palais Bourbon gegen 5 Uhr früh geben, wenn über das Weiterbestehen einer Regierung abgestimmt wurde. De Gaulle wiederum hat für andere Sensationen gesorgt und mit seinen außenpolitischen Initiativen die Welt beunruhigt, zur Bewunderung aufgerufen oder schärfste Kritik erzeugt. Aber jetzt… Was sollen wir noch über die französische Innenpolitik schreiben?“

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Während der Vollversammlung der Auslandsjournalisten in Paris am Ende des vergangenen Jahres zog der Doyen dieser Organisation das Fazit eider 30jährigen Tätigkeit. Der ergraute Deutsch-Schweizer erklärte seinen wissensdurstigen jüngeren Kollegen: „In der Vierten Republik war noch etwas los, niemals mehr wird es die Spannung im Palais Bourbon gegen 5 Uhr früh geben, wenn über das Weiterbestehen einer Regierung abgestimmt wurde. De Gaulle wiederum hat für andere Sensationen gesorgt und mit seinen außenpolitischen Initiativen die Welt beunruhigt, zur Bewunderung aufgerufen oder schärfste Kritik erzeugt. Aber jetzt… Was sollen wir noch über die französische Innenpolitik schreiben?“

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Da wurde also im Jänner 1971 die Regierung umgebildet, im Ministil. Einige ehrgeizige „junge Löwen“ können sich künftighin als Exzellenzen bezeichnen und wenden, falls sie nicht einem Autounfall zum Opfer fallen, bis zu den Pariamentswahlen 1973 ihr Amt verwalten. Und Chaban-Delmas kann — man muß nicht gerade Prophet sein — mit Ruhe seine Vorbereitungen für das höchste Amt der Republik treffen.

Keine „strategische" Freiheit

Trotzdem zeichnen sich die Linien der Innenpolitik nach dem Jänner- Revirement deutlicher als zuvor ab. Der Zug zum Präsidialregime, dessen erste Spuren im Sommer 1970 zu verzeichnen waren, wurde akzentuiert. Der Präsident inspiriert, der Ministerpräsident exekutiert, kann das neogaullistische System auf einen Nenner gebracht werden. Staatspräsident Pompidou übernimmt die Vorstellungen des Begründers der V. Republik und gewährt seiner Regierung taktische, aber keine strategische Freiheit. Im Zentrum der politischen •Willensbildung steht der durch Volkswahl gekürte Präsident der Republik, der allerdings keine charismatische Ausstrahlung aufweist, sondern pragmatische Konzepte vertritt. Damit wenden Parlament und Parteien eine ähnliche Rolle zuerkannt, wie sie de Gaulle in den Gründungstagen der V. Republik definiert hat.

Die Mehrheit der Nation, die den Staatspräsidenten gewählt hat, übergibt letzterem Vollmachten, die dieser sorgsam hüten und inkamieren muß. Eine Nuance ist allerdings gegenüber dem vorangegangenen Regime auffallend. Der Nachfolger General de Gaulles respektiert die Werte eines strukturierten Parteiapparates. Pompidou fühlt sich viel mehr Parteichef, als dies de Gaulle je manifestiert hatte. Die Ernennung des bisherigen Generalsekretärs der Sammelpartei UDR, Robert Poujade, zum Minister für Umweltschutz geht auf eine Initiative des Elysée-Pala- stes zurück. Mögen die berechtigten Wünsche des Staatsoberhauptes mitgespielt haben, dem Umweltschutz im postindustriellen Zeitalter Prioritätsrechte einzuräumen, so bedeutete doch die Ernennung Poujades eine Bestätigung der errungenen gaullistischen Positionen zuungunsten der beiden Minderheitspartnem. Nachdem die Fronten gegenüber Chaban- Delmas am Jahresende 1970 unterdrückt wunden, will die Partei die Organisation der Legislativwahlen bereits jetzt in die Wege leiten. Diese Wahlen sollen nach Willen Pompidous von den beiden staatstragenden Kräften Frankreichs geprägt werden, dem Präsidenten und der gaullistischen Partei.

Der ehrgeizige und ebenfalls auf das höchste Staatsamt blickende Finanzminister Giscard d’Estaing, Chef der unabhängigen Republikaner, mußte eine Schwächung seines Einflusses innerhalb der Regierung hinnehmen. Es ist ein offenes Geheimnis: Giscard d’Estaing, manchmal als französischer Kennedy apostrophiert, wollte bei den nächsten Präsidentschafte- wahlen als aussichtsreicher Kandidat die Nachfolge Pompidous antreten. Nachdem seine Finanzpolitik nicht ganz geglückt scheint, die Preise, wie in allen westlichen Industriestaaten, lustig hiinaufklettem und die von ihm gesetzte Vierprozentgrenze überschritten wurde, ist sein Stern gegenwärtig im Sinken. Es ist ihm auch nicht vergönnt, seinen engsten Vertrauten und Generalsekretär der Partei, den Prinzen Poniatowski, mit einem Staatssekretariatsposten im Finanzministerium zu. bedenken. Im Gegenteil, einer seiner scharfen politischen Gegner, ein orthodoxer Pom-j pidou-Gaullist, der Bürgermeister von Reims, Taittinger, erhielt das von den unabhängigen Republikanern sehnsüchtig erwartete Amt. Allerdings ist es dieser Partei gelungen, die Plattform zu erweitern, indem sie Verhandlungen mit den nichtgaullistischen „Unabhängigen“, also der Partei des ehemaligen Mini-

sterpräsidenten Pinay, aufnahm und eine Fusion der beiden liberalen Richtungen des Bürgertums in die Wege leitete.

Für die dem Regime ergebenen Zentrumsleute gilt der abgewandelte Ausspruch Shakespeares: „Es sind wirklich ehrenwerte Männer.“ Ob Duhamel, der neue Kultusminister, Pleven, der Justizminister, oder Fontanet, der Sozialminiister, sie haben Hervorragendes in ihren Ressorts geleistet, die Achtung ihrer Kollegen erworben und die öffentliche Meinung ist mit ihren Aktionen einverstanden. Trotzdem ist es ihnen nicht gelungen, die außen- und innenpolitischen Optionen des Regimes zu korrigieren. Die letzte Zusammenkunft des Zentrums Duhamel in der 2. Jännerwoche spiegelte eine Malaise wider. Die Spannung im Zentrumslager, hier Duhamel, dort Lecanuet trägt nicht dazu bei, aus dem Zentrum eine attraktive politische Macht zu schaffen. Nachdem die Gemeinderatswahlen im März — von unzähligen lokalen Bedingungen abhängig — keinen Erdrutsch versprechen, wird die Innenpolitik in erster Linie durch den Staatschef und die gaullistische Partei inspiriert, die zu beweisen haben, wie weit sie das Erbe de Gaulles bewahren, wie weit sie das Gedankengut des Gründers der Bewegung mutieren.

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