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Unterwandern und kohabitieren!

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Die Franzosen haben selten eine so stille, kaum existierende Wahlkampagne erlebt wie die laufende. Noch hat man nicht gewählt, man könnte aber glauben, alles sei schon gesagt. Die Wähler verhalten sich so, als sei es überflüssig, am 21. und 28. März zu den Urnen zu gehen. Und es könnte zu einer dramatischen Stimmenthaltung kommen.

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Die Franzosen haben selten eine so stille, kaum existierende Wahlkampagne erlebt wie die laufende. Noch hat man nicht gewählt, man könnte aber glauben, alles sei schon gesagt. Die Wähler verhalten sich so, als sei es überflüssig, am 21. und 28. März zu den Urnen zu gehen. Und es könnte zu einer dramatischen Stimmenthaltung kommen.

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Seit Monaten sehen Demoskopen die Rechte als den großen Gewinner der bevorstehenden Parlamentswahlen. Links ist man auf nichts stolz, rechts hat man keine wirkliche Alternative anzubieten. Deshalb ist die Kampagne auch nie richtig angelaufen. Es heißt, alle Ministerien und Staatsposten seien auf der Rechten längst schon im voraus verteilt. Am 26. Februar gab Martine Aubry, zur Zeit noch Arbeitsministerin (übrigens Tochter von Jacques Delors), die jüngsten Arbeitslosenzahlen in Frankreich bekannt: 2,992.600 Arbeitslose, das sind 10,5 Prozent der arbeitenden Bevölkerung. Die Jahressteigerung liegt bei 4,9 Prozent, das sind pro Jahr um 139.600 Arbeitslose mehr.

Diese Zahlen werden von der Rechtsopposition hart bestritten. Edouard Balladur, Freund von Jacques Chirac, gab vor kurzem seine eigene Bilanz bekannt: Das Land sei nach zwölf Jahren Sozialismus total ruiniert. In Wirklichkeit gäbe es fast fünf Millionen Arbeitslose, ganz zu schweigen von Problemen wie wirtschaftliche Lage, Immigration, Justiz, Erziehung, wachsende Unsicherheit.

Was antworten die Sozialisten darauf? Laurent Fabius, Erster Sekretär der Sozialistischen Partei, meinte noch im Dezember, man müsse die Bilanz der Sozialisten verteidigen. Persönlich jedoch in den Skandal um die HlV-infizierten Blutkonserven verwickelt, verlor er jedoch rasch seine Glaubwürdigkeit und erwies sich als falscher Mann, die Partei zum Erfolg zu führen.

Anfang des Jahres schrieb das Magazin „Le Point": „Die Sozialistische Partei ist zerrissen; ohne Seele und ohne Haupt." Dann kam bald der Gnadenschuß. In Montlouis-sur-Loire kündigte am 17. Februar Michel Rocard bei einer Tagung der Sozialisten seinen „Big Bang" an: „Unser Problem heute ist nicht die Rechte, sondern wir selbst. Sollten die Schät- ' zungen sich bestätigen, hätte die Rechte nicht gewonnen, sondern wir hätten verloren."

Das war nichts weniger als der Wille, die PS zu begraben und die Basis für eine neue Demokratische Partei nach amerikanischer Art zu legen. Rocards Strategie versteht sich als eine Auflösung im Sinne einer Renaissance. Und er ist auch bereit, jeden aufzunehmen, der dabei sein möchte. Aber wer möchte es? Denn diese „offene und moderne Bewegung" ist aller Wahrscheinlichkeit nach Rocards letzte Chance, einmal Präsident zu werden. Rocards Kidnappingsversuch der Partei könnte sich später - 1995 bei den Präsidentschaftswahlen - als durchschlagend bei den Franzosen auswirken; jedoch bei den jetzigen Parlamentswahlen wird er kaum Erfolg haben.

Nehmen wir zum Beispiel die Grünen, die ja von der Linken immer mehr oder weniger vernachlässigt wurden. Rocard hatte 1988 zum ersten Mal einen Ökologen, Brice Lalonde, als Umweltminister in die Regierung berufen. Aber Lalonde, heute Leiter der „Generation Ecologie", will vom Big Bang nichts hören. „Rocard kann sich bei uns einschreiben lassen, wenn er will", meinte er lakonisch und ging eine Allianz mit Antoine Waechter, dem bekannten elsässischen Umweltfundamentalisten ein, der 1984 die Grünen in Frankreich gegründet hatte. Die Scheidung von der Umweltbewegung ist ein weiterer Mißerfolg für die Sozialisten.

Nach den letzten Umfragen bekämen die Grünen etwa 14,5 Prozent an Stimmen. Diese Zahl bedeutet jedoch weniger als sie angibt, denn in Frankreich gilt ein Mehrheits- und kein Verhältniswahlrecht. Die Umweltkoalition wird im Parlament kaum mehr als zwei bis sechs Abgeordnete erreichen. Auf der anderen Seite bekommen auch die Rechtsextremen Jean-Marie Le Pens (Front National) mit prognostizierten 10,5 Prozent höchstens zwei Sitze. So schaut hier das Gleichgewicht aus.

Handelt es sich jedoch um die klassische Rechte, wird es nicht mehr möglich sein, von Gleichgewicht zu reden; eher ist am 28. März eine Sturmflut zu erwarten. Das Mehrheitssystem wird der Rechten von Chirac und Giscard D'Estaing (RPR und UDF) zwischen 412 und 476 Abgeordnete bescheren. Der Linken - darunter die Kommunisten - nur zwischen 92 und 120 Sitze.

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Staatspräsident Francois Mitterrand mit einer solchen „Minorität" regieren müssen, also noch einmal „kohabitieren". Der Präsident, heute 76, hat schon kategorisch erklärt, er werde bis zum Ende seiner Amtszeit bleiben. Die Verfassung gibt ihm das Recht dazu.

Mitterrand ist ein Mann, der die Verfassung bestens kennt, er hat sie 30 Jahre lang bekämpft. Die Frage lautet also: Wen wird Mitterrand als Premierminister berufen. Angenommen, er beruft weder Chirac noch Balladur nach „Matignon", sondern Raymond Barre oder sogar Simone Veil, dann wäre die Rechte in größerer Verlegenheit als je zuvor. Selbst Giscard D'Estaing - so sagt man - wäre unter Mitterrands Autorität, der ihn 1981 ja verstoßen hatte, zum Regieren bereit. Und der alternde Präsident, wie eine Sphinx im Palais de l'Elysee, läßt niemanden ahnen, was er tun wird - als müßte er sich in den Abgrund stürzen, sobald man seine Rätsel gelöst hat.

Es bleibt der Rechten nur noch die Möglichkeit zu versuchen, die Sozialisten noch mehr zu diskreditieren. Seit etwa zwei Wochen wird hierzulande nur noch von der heimlichen Unterwanderung der Staatsposten .durch Mitterrand-Männer gesprochen. Die Elite der Sozialisten habe schon an allen strategischen Stellen mit persönlicher Hilfe des Präsidenten Unterschlupf gefunden.

Roland Dumas, zur Zeit noch Außenminister, soll bald zum persönlichen Berater des Präsidenten ernannt werden, um die Botschafter im Ausland (alles Sozialisten) in der Hand zu behalten. Aber diese Unterwanderung ist ja eine alte republikanische Tradition, die die Rechte auch sehr gut kennt, da sie sie selbst schon öfter praktiziert hat.

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