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„Pseudorevolutionäre“ und „Werwölfe“

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Der sich verschärfende Konflikt zwischen Moskau und Perking läßt zwei Aspekte des Problems, die miteinander in engem Zusammenhang stehen dürften, erkennen: • Die Eskalation diplomatischer Aktivität, militärischer Formierung entlang der Grenzen und die Verschärfung der propagandistischen Attacken läßt eine machtpolitische Konfrontation erwarten, die derzeit noch ein „kalter Krieg“ ist; • die Meldungen über eine neue Variante der „Kulturrevolution“ mit Verurteilungen von Konfuzius und von modernen „Revisionisten“ rücken den ideologischen Gehalt des Konflikts der beiden roten Giganten sichtlich in den Vordergrund.Europa spielt in dieser Konfrontation sowohl als politischer Faktor an der Westflanke der Sowjetunion als auch als geistigideologische Kampf statte, zwischen maoistischem und sowjet-kon-formem Sozialismus eine wesentliche Rolle. Und hier ist es die Rolle der Neuen Linken, die heute deutlicher als früher als Schlüssel zum Konfliktverständnis zwischen Moskau und Peking erkennbar wird, wenngleich das Scheitern der Neuen Linken als politische Kraft angesichts der Basisverschmälerung statt -erwei-terung für die Auseinandersetzung bereits Realitätswert hat.

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Der sich verschärfende Konflikt zwischen Moskau und Perking läßt zwei Aspekte des Problems, die miteinander in engem Zusammenhang stehen dürften, erkennen: • Die Eskalation diplomatischer Aktivität, militärischer Formierung entlang der Grenzen und die Verschärfung der propagandistischen Attacken läßt eine machtpolitische Konfrontation erwarten, die derzeit noch ein „kalter Krieg“ ist; • die Meldungen über eine neue Variante der „Kulturrevolution“ mit Verurteilungen von Konfuzius und von modernen „Revisionisten“ rücken den ideologischen Gehalt des Konflikts der beiden roten Giganten sichtlich in den Vordergrund.Europa spielt in dieser Konfrontation sowohl als politischer Faktor an der Westflanke der Sowjetunion als auch als geistigideologische Kampf statte, zwischen maoistischem und sowjet-kon-formem Sozialismus eine wesentliche Rolle. Und hier ist es die Rolle der Neuen Linken, die heute deutlicher als früher als Schlüssel zum Konfliktverständnis zwischen Moskau und Peking erkennbar wird, wenngleich das Scheitern der Neuen Linken als politische Kraft angesichts der Basisverschmälerung statt -erwei-terung für die Auseinandersetzung bereits Realitätswert hat.

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Es ist nicht zu übersehen, daß das eigentliche Scheitern der Revolutio-nierungs- und Politisierungskampagnen vor allem auf die Tatsache zurückzuführen ist, daß sowohl Moskau wie Peking keine politische und auch keine pragmatische Affinität zu den revolutionären Kadern an den europäischen Hochschulen finden konnten; ja, daß sowohl Moskau wie Peking die Bewegung weder verstanden noch förderten — ja, daß man schließlich sogar das eigentliche und tiefliegende Anliegen vergaß: nämlich die Schaffung einer revolutionären Stimmung in den westlichen kapitalistischen Staaten, die die breiten Massen zur Einsicht in die sogenannten Ausbeutungsmechanismen führen sollte.

Die sowjetische Öffentlichkeit hat jahrelang die Entwicklungstendenzen in der europäischen Jugend nicht erkannt. Die sowjetischen Massenmedien widmeten Berichten über Exzesse erheblich breiteren. Raum als Informationen über Veränderungen am geistig-politischen Horizont. Klaus Mehnert schreibt mit Recht, daß die Sowjets die Periode vor 1968 regelrecht „verschlafen“ haben1.

Um so überraschender kam für sie die Eruption des Jahres 1968. Jurij Shukow meldete sich als erster in der „Prawda“2 mit einer Verurteilung von Herbert Marcuse zu Wort. Er bezog sich auf einen Vortrag Marcuses in Paris und unterstellte dem Deuitsch-Amerikaner, nicht eine Revision des Marxismus zu unternehmen, sondern den Versuch, „den Marxismus zu widerlegen. Es war ein kläglicher und substanzloser Versuch“. Marcuse wird vorgeworfen, zwischen Studentenschaft und Arbeiterschaft eine Spaltung zu erzeugen, anstatt die beiden Klassen zusammenzuführen. Auch der Studentenführer Cohn-Bendit ist für Shukow ein Spalter, ja, ein „Werwolf“. Und er schreibt: „Unter blasphemischer Ausnützung des Namens von Marx versuchen die Werwölfe, die sich vorgenommen haben, den Marxismus zu exkommunisieren, die fortschrittlichen Kräfte zu spalten und zu beflecken. Genau damit erfüllen sie den ausdrücklichen sozialen Auftrag jener Feinde der Arbeiterbewegung, die ernsthaft beunruhigt sind über das Erstarken des Klassenkampfes. An der Spitze dieses Klassenkampfes steht die Arbeiterklasse... die führende Kraft der Arbeiterklase waren und werden Kommunisten sein,“

Ganz auf der Linie Shukows bewegte sich die Haltung der offiziellen Sowjetunion zu den Studentenrevolten der darauffolgenden Zeit. Es ging ihr dabei vor allem um die Fixierung der Führungsrolle der KP in .den europäischen Ländern als die einzige und legitime linke Kraft; es ging Moskau um die Bewahrung des Einflusses ihrer Traditionsparteien auf die Arbeiterschaft, und nichts beunruhigte etwa die KPF ja auch mehr als die zeitweiligen Versuche der Studenten, Streiks in Fabriken durch Spontanakitionen anzustiften.

Moskau hat aber auch noch bis heute einen zweiten wesentlichen Gesichtspunkt in der Auseinandersetzung mit der Neuen Linken in Europa. Der Rückgriff (oder besser Nebengriff) auf das chinesische Modell und auf Mao mußte die in einem harten ideologischen Kampf stehenden Sowjets tief beunruhigen. Plötzlich erhielt Mao unter den Studenten in Europa und auch in den USA einen Bundesgenossen, der den Kampf gleichfalls vor allem im Ideologischen und Agitatorischen führte. Das war es offenbar vor allem, was die Sowjets beunruhigte und was sie zu Verbündeten der um ihre Existenz im Mai 1968 ringenden Gaullisten machte. Im theoretischen Organ „Kommunist“* bekräftigt ein Leitartikel die Führungsrolle der KPdSU: „Die Marxisten-Leninisten treten entschieden gegen jegliche Versuche auf, die führende Rolle der Arbeiterklasse und der Kommunistischen Partei zu untergraben, gegen die Revision des Marxismus-Leninismus, gegen jedwede Angriffe auf den Sozialismus.“ Und die „Prawda“ sekundiert deutlich: „Marcuse, dieser Bewohner Kaliforniens, der sich vorgenommen hat, den Marxismus zu widerlegen, preisen sie an wie einen Filmstar, für seine Bücher machen sie Reklame wie für die neueste Zahnpastamarke oder für Rasierklingen. Es wurde auch eine geschickte Publicity-Formel erfunden: drei M — Marx, der Gott, Marcuse — sein Prophet, Mao — sein Schwert.. .“*

Mit diesen Angriffen wurde in den Neuen Linken in Paris oder Berlin also vor allem der greise Führer in Peking getroffen. Er war und ist für die Sowjets der eigentliche Drahtzieher, der Spiritus rector der („antikommunistischen“) Anarchisten, dessen Sache nicht zuletzt auch von den kapitalistischen Regierungen gefördert wird.

Die verstiegene Theorie wurde seither zwar offiziell etwas modifiziert, im Kern ist aber der Konflikt zwischen Moskau und Peking der eigentlich relevante Hintergrund der Ablehnung der Neuen Linken durch die Kreml-Führung und durch die kommunistischen Parteien in den westlichen Ländern (was sich auch zuletzt bei den österreichischen Hochschuiwahleh zeigte, wo die offizielle kommunistische Studentenliste keine Bindung mit den maoistischen Gruppen eingehen wollte).

Tatsächlich zeigt es sich, daß in der sowjetischen Publizistik der Einfluß, den Mao auf die linke Studentenbewegung des Westens ausübt, gegenüber den eigenen Lesern heruntergespielt werden soll. Tatsächlich wird aber bei der — seit 1968 zunehmenden — Auseinandersetzung mit der Neuen Linken doch klargestellt,- wo Moskau den Hauptgegner ausgemacht hat. In einem Rückblick auf den Pariser Mai kommt W. Wolshin-skij in der „Literaturnaja gazeta“ 1972 zum Generalnenner: „Die Mao-isten und Trotzkisten setzen ihre Hoffnung weiterhin auf die politisch labilste, zum Anarchismus neigende, deklassierte Jugend5.“

In einer umfassenden Studie des „Institutes für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen“ kommt In der Analyse über die Probleme der westlichen Intelligenz einer Arbeit des Ehepaares Diligenskij-No-winskaja große Bedeutung zu. Darin heißt es: „Die Demagogie des Maoismus, die einen absoluten, keine objektiven Bedingungen berücksichtigenden revolutionären Elan predigt und der sich angeblich verbürgerlichten Arbeiterbewegung den revolutionären Geist der armen Völker entgegenstellt, vermag trotz ihrer Primitivität einige Extremisten aus der studentischen Jugend in die Irre zu führen6.

Der Exzessismus der studentischen Linken, ihr teiilweises Absinken in die Drogenszene und in die Kriminalität — etwa der Baader-Meinhof-Gruppe '— stärkt' seither deutlich die Grundthese Moskaus über die Aussichtslosigkeit jeder bindungslosen politischen Bewegung. Der Rückkehr eines Teiles der Linken zur KP einerseits, zu den sozialdemokratischen Parteien anderseits (insbesondere in der Bundesrepublik) und die Isolation der noch verbleibenden Maoisten stützt jene Ansicht, die die „Literaturnaja gazeta“ schon 1970 aussprach: „Der Protest der Jugend mundet in leere hysterische Raserei, in blinden anarchistischen Aufstand ... er lenkt alb vom echten politischen Kampf7.“

Und damit lenkt Moskau die Aufmerksamkeit wiederum gegen den Urgrund allen ideologischen Übels, gegen China. Macht man den linken Kräften in der Welt klar, daß Maos „Spaltertätigkeit“ in die Irre führt, muß es auch ein leichtes sein, die noch verbleibende Neue Linke dann völlig in das Abseits zu drängen. So spielt sich der .eigentliche Konflikt zwischen dem Marxismus-Leninismus Moskauer Prägung und China alb, das für Anarchisten, Trotzkisten und Marcuse-Anhänger zwar die Speerspitze („das Schwert“) ist, aber doch in der politischen Kulisse agiert.

Um so erstaunlicher ist es freilich, daß nicht nur Moskau einer Fehleinschätzung der Neuen Linken in Europa lange Zeit unterlag, sondern auch Peking. Chinas Interpretation des Revolutionsgedankens wendet sich durch die Schriften Maos von der Fixierung auf die revolutionäre Rolle der Arbeiterschaft ab und nimmt auch andere Klassenelemente sowie nationale Positionen für seine Agitation in Anspruch. Spätestens seit der Konferenz von Bandung zielt die Politik Chinas auf die Übernahme der Führungsrolle in der Dritten Welt. Dort errichtete China auch jahrelang seine wichtigsten Agitationszentren, dort erwartete es mit Recht eine anMfeudalistische und antiimperialistische Erhebung. Die „Pekinger Rundschau“ formulierte noch 1967, ein Jahr vor dem Pariser Aufstand, klar: „Asien, Afrika und Lateinamerika sind heute die Hauptgebiete, wo die revolutionären Stürme toben. Sie stehen seit dem Zweiten Weltkrieg im Brennpunkt der Widersprüche im Weltmaßstab, dadurch wird eine ausgezeichnete Lage geschaffen, und es eröffnet sich eine grandiose Aussicht.. .e“

Albanien, Sprachrohr und Vorposten Pekings in Europa, formulierte die einzige Zielrichtung, die die maoistischen Interessen in Europa bestimmen. Europa habe nur deshalb „eine besondere internationale Bedeutung, weil die Maoisten im Bollwerk des modernen Revisionismus kämpfen und dieses Bollwerk unterminiert, in die Luft gesprengt und vernichtet werden muß9.“ Revisionismus alber bedeutet: Sowjetkommunismus. Unter dieser Aufgabenstellung entstanden auch in Westeuropa mehrere rnaoistische Parteien, die zumeist als Marxisten-Leninisten firmierten, auch in Österreich, aber nirgendwo die traditionellen Moskauer KP's entscheidend schwächen konnten. (Lediglich in Italien entstand eine besondere rnaoistische Aktivität). Diese Parteien — womöglich mit verdienten, aber frustrierten Altkommunisiten besetzt — waren weder auf die Erscheinung der Neuen Linken vorbereitet noch in der Lage, den Revolutionssturm der Linksstudenten zu kanalisieren.

Zeitweilig dürften die Pekinger Botschaften in Paris und Bern als Geldgeber aufgetreten sein. Eine aktive und motorische Unterstützung war aber auch schon deshalb ausgeschlössen, weil China 1968 noch in den letzten Zuckungen der Kulturrevolution lag und mit den Ereignissen im eigenen Land hinreichend beschäftigt war.

Aber auch in der verbalen Unterstützung der Neuen Linken kam immer wieder die Stoßrichtung zum Ausdruck. So sprach man den Sowjets überhaupt — zum Unterschied von den Studenten in Westeuropa — Revolutionsbereitschaft ab: „Die heutige sowjetische Revisionisten-clique ist eine Horde von ausgesprochenen Spießbürgern. Hier kann von revolutionären Prinzipien überhaupt nicht die Rede sein10.“

Und zu Lenins 100. Geburtstag (ton Jahre 1970): „Die Sowjetunion von beute steht unter dem Diktat der Bourgeoisie, der Diktatur der Groß-bourgeoise, der Diktatur von der Art des deutschen Faschismus, der Diktatur von der Art Hitlers11.“

Wie sehr die Chinesen aber sowohl in der Diktion wie in der Beurteilung der europäischen Innenpolitik — einschließlich der Studentenbewegung — keine allzu zuverlässigen Informationen besitzen, geht aus der blamablen Tatsache hervor, daß Radio Peking auf einen Hörerbrief eines jungen Mitglieds der NPD, der extremen Rechtspartei in der Bundesrepublik, im Revolutionsjahr 1968 antwortete: „Mit großer Freude haben wir Ihrem Brief entnommen, daß Sie ein Deutscher mit nationalem Stolz sind, der mit dem Regime des amerikanischen Imperialismus in Deutschland nicht einverstanden ist... wir sind fest davon überzeugt, daß Deutschland dem deutschen Volk gehört, nicht aber den amerikanischen Imperialisten... oder der revisionistischen Führungsclique der Sowjetunion und ihres Lakaien, der ostdeutschen revisionistischen Führungsgruppe'2.“

Anderes Ideal Seit dem Wiedereintritt Chinas in die diplomatische Weltpolitik, seit Richard Nixons Besuch in Peking und seit den vielfältigen Kontakten der Chinesen zu westeuropäischen Regierungen hat die Studentenbewegung immer weniger Beachtung in der strategischen Planung Pekings gespielt. Die von der Einkreisung Rußlands bestimmte Außenpolitik Chinas kann mit den dissidenten Kräften in Europa nichts anfangen — ja sie stören dort ihr Konzept, wo sie zu einer Schwächung der westeuropäischen Regierungen gegenüber den Sowjets führen. Heute ermuntert China geradezu den Zusammenschluß Europas, wenn dieser nur gegen die Sowjetunion gerichtet ist. Und daß ein solcher Zusammenschluß nicht gerade unter den Vorzeichen der Neuen Linken erfolgen wird, weiß man auch in Peking.

Zu diesen Strategien des politischen Kalküls kommt für die chinesische Führung die emotionelle Tatsache, daß sie für den Stil und die Art von Liberation, der sich die Neuen Linken heute verschrieben haben, denkbar wenig Verständnis aufbringt. Die Jugend Chinas wird spartanisch diszipliniert, die weibliche ist keineswegs sozial emanzipiert, die Sexualisierung des öffentlichen Lebens wird ebenso abgelehnt wie die Liberalisierung des Strafrechts. Das Ideal eines jungen Maoisten ist der arbeitsame, disziplinierte, prüde, parteigehorsame Aktivist. Wer so lebt wie die Linken in Europa, erntet nicht nur Verständnislosigkeit, sondern auch Verachtung und die Etikettierung als „Scheinrevolutionär.“

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