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Liberale Sieger im Kreml

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Breschnjew nannte es die „führende revolutionäre Kraft und das Bollwerk der antiimperialistischen Bewegung“, für Gomulka war es von der „Geschichte vorausbestimmt“, für Ceausescu eingeschränkt auf gestrige Wahrheiten, die „heute veraltet“ sein können, für Ulbricht als „unüberwindliche Barriere“ gefeiert: das Weltsystem des Sozialismus. Der KP-Gipfel, diese Woche zu Ende gegangen, enthüllt deutlich System und Chaos des Weltkommunismus. Er zeigte mit glasklarer Deutlichkeit die Probleme auf, die im neuen Zarenreich die Führer der roten Welt beschäftigen.

Der Gipfel, das kann man schon jetzt deutlich sagen, war ein Sieg der Sowjets, denen es mit einem geschickt gespielten System der Freizügigkeit gelungen ist, die kommunistischen Parteien, die den Gipfel beschickt haben, auf ihren Kurs in allen wesentlichen Fragen zu führen. Es zeugt von Realismus, daß man im Kreml die verkleinerte Schar als Gegebenheit ansieht und nunmehr mit der neuen innerkommunistischen Konstellation zu operieren gedenkt. Die Einsprüche und Einwände der Rumänen, der Italiener, Spanier, Schweden, Australier Und anderer kleinerer Partner haben an der Substanz des Kongresses nichts geändert. Die Sowjetunion wurde wegen der tschechoslowakishen Intervention nicht verurteilt; damit ist die Breschnjew-Doktrin in gewissem Umfang als legitim bestätigt worden. Auf der anderen Seite ist die Frontstellung gegen China und die unmittelbaren Satelliten Pekings gelungen.

Sicherlich war es spektakulär, daß gerade während der roten Gipfelkonferenz ein neuerlicher schwerer Grenzzwischenfall in Sinkiang gemeldet wurde, der ein Todesopfer auf sowjetischer Seite forderte. Die Meldungen aus dem Grenzgebiet, in dem scharf geschossen wird, haben auf die Delegierten im Moskauer Georgssaal einen nachhaltigen Eindruck ausgeübt, ja die Stimmung sogar ein wenig umgedreht. Welche Konsequenzen der Außenpolitik des kommunistischen Lagers ergeben sich aus den Beschlüssen von Moskau?

• Die Sowjetunion hat ihre „historische Führungsrolle“ bestätigt erhalten; diese Führungsrolle legitimiert sie zum Kampf gegen den Imperialismus, aber auch zum Kampf gegen die „Abweichungen“, insbesondere also gegen China.

• Die Sowjetunion kann auf Grund ihrer Führungsrolle im Kampf gegen den Imperialismus ungestört ohne sonderliche Rücksichten mit den USA auf höchster Ebene verhandeln, Ohne sich gefährlichen Heckenschützen aus dem eigenen Lager auszusetzen.

• Auf Grund der indirekten Bestätigung der Breschnjew-Doktrin kann Moskau freier in Osteuropa agieren. Die Knebelung der Tschechen unter dem teilnehmenden Parteichef Hu-sak ist gelungen und bestätigt. Das Beispiel steht als Menetekel für alle anderen Satelliten an der Wand.

• Die Sicherung des „Friedens in Europa“, der durch eine europäische Konferenz erreicht werden soll, ist ein vordringliches diplomatisches Ziel der Sowjets. Doch spricht man nunmehr realistischerweise nicht von einer Konferenz in naher Zukunft; der Realismus hat gesiegt und man weiß, daß bis zur Realisiserung noch eine lange Zeit verstreichen dürfte. Das läßt den Schluß zu, daß es den Russen um eine echte Realisierung der Konferenz geht und sie daher kein „Propagandaballon“ ist. • Die Taktik der Parteien — besonders in Westeuropa — läuft neuerlich auf eine „Volksfront“ hinaus. Was sich schon vor einigen Jahren anbahnte, ist nun deutlicher geworden. So war es erstaunlich, daß gerade Walter Ulbricht betonte, daß zwischen einem großen Teil der westdeutschen Sozialdemokraten und der ostdeutschen Führung „weitgehende Ubereinstimmung der Auffassungen“ bestehe. Unter Zitierung einer Schrift des früheren SPD-Chefs von Bayern, Kiweringen, meinte der SED-Chef, daß es zur Verstärkung von Kontakten kommen müsse.

Diese Linie verfolgen auch die kommunistischen Parteien in der Dritten Welt, wo die politischen Strukturen Infiltration und Kohäsion in anderen Parteien und politischen Bewegungen leicht möglich machen. Die „dritte Welt“ hat während der chinesischen Kulturrevolution den versuchten Führungsanspruch Chinas zurückgewiesen. Indonesien löste sich aus dem Zauberbann Pekings, in Indien und Pakistan verloren die Rotchinesen an Terrain, Nordvietnam entglitt ihnen auf geschicktem Weg, Singapurs Chinesen folgten nicht dem revolutionären Rat Maos. Dann freilich gelang es den Rotchinesen, wieder aufzuholen. In Schwarzafrika sitzen in mehreren Militärregierungen die Freunde der Chinesen, die arabischen Terroristen schießen mit chinesischer Munition. Umsturz in Pakistan brachte Freunde Pekings in führende Stellen, und Nordvietnam hat es abgelehnt, an der Gipfeltagung in Moskau teilzunehmen: ein zumindest spektakulärer Akt.

So war der KP-Gipfel auch gut getimt Der Vorstoß der Chinesen in die Weichteile Moskau-loyaler Parteien ist vorläufig einigermaßen gebannt.

Und die Absage an die Neue Liste in Europa, die vor allem auch die französische KP begrüßte, stellte auch hier eine Frontbegradigung dar. Allerdings, und das darf nicht übersehen werden, muß Moskau für seinen Gipfelerfolg auch einen Preis bezahlen. Da ist vorerst die Bereitschaft zu gewissen liberaleren Zugeständnissen, nicht zuletzt gegenüber der eigenen Bevölkerung. Erstmalig brachte die sowjetische Presse eine freiere Berichterstattung. Die staunenden Sowjetbürger lasen von Meinungsverschiedenheiten, statt von der üblichen Salbaderei bei ähnlichen Anlässen. Überdies bewies die liberalere Handhabung bei der Abstimmung auf dem Kongreß, daß vor allem den Parteien in der freien Welt ein Minderheitsvotum zugestanden wird. Immerhin unterschrieben von 75 Parteien 66 das Grundsatzdokument als Ganzes. So können gerade die Unruhigen heimfahren und die Gewißheit im Gepäck tragen, daß sie sich partiell durchgesetzt haben. Moskau hingegen hat die Programmpunkte durchgebracht, die es als „harten Kern“ ansah. Was freilich nicht heißt, daß die Troika im Kreml über dem Berg ist.

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