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Alle wollen leben

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Es sieht ganz so aus, als ob das Tauwetter in den west-östlichen Beziehungen anhält und die Entwicklung tatsächlich nach der Richtung einer sogenannten Koexistenz sich hinbewegt. Das ist auch zu erwarten gewesen. Es ist für jeden klar denkenden Menschen offensichtlich, daß niemand einen Krieg riskieren kann. Nicht nur allein, weil die neuen Waffen mit allgemeiner Vernichtung drohen, sondern auch ganz einfach darum, weil die Menschen doch nicht gerne sterben. Der Farmer in Kansas oder der Kolchosbauer an der Wolga werden es nie einsehen, warum sie ihr Leben lassen sollen, um eine ihnen feindliche oder angeblich falsche Ideologie in der übrigen Welt zu vernichten. Die Psychologie der Russen in dieser Hinsicht ist bekannt: Man kann ihnen, gelogen oder nicht, die Unterdrückung einej anderen Volkes durch Feudalherren oder Kapitalisten noch so abschreckend schildern, mehr als ein warmes Mitgefühl kann man bei ihnen doch nicht erreichen. Stellt man die Frage direkt und verlangt von ihnen eine kriegerische Aktion, dann wird man sicher auf vollkommene Verständnislosigkeit stoßen. „Sollen sie sich doch selber befreien, wir haben schließlich unseren Zaren auch selber gestürzt und einen Bürgerkrieg gewonnen", so wird sogar auch der durchschnittliche russische Kommunist antworten. Schließlich hätte auch Stalin nie von sich aus einen Krieg anfangen können. Erst der plötzliche und unerwartete Ueberfall hat den Widerstandsgeist der Russen geweckt. Natürlich kann gerade die Sowjetunion lange Zeit die Atmosphäre eines kalten Krieges durchhalten, jedoch auch nicht zu lange. Um halbwegs populär zu bleiben, muß jede Sowjetregierung immer wieder unter Beweis stellen, daß sie versucht, eine Kriegsgefahr rechtzeitig zu beseitigen.

Der Durchschnitt der amerikanischen Volksmasse wird kaum anders denken und fühlen. Auch hier die größte Sympathie mit den versklavten Völkern Osteuropas, doch für ihre Befreiung einen Weltkrieg anzufangen, dazu wird man den Durchschnittsamerikaner wohl nie bringen. Auch hier dieselbe historische Erscheinung wie in Rußland — erst der Ueberfall der Japaner auf Pearl Harbour ermöglichte es Washington, das amerikanische Volk in den Weltkrieg einzuschalten.

So ist es für jeden denkenden Menschen klar, daß früher oder später der kalte Krieg sich abnützen wird und für eine längere historische Periode nach den Modalitäten eines friedlichen Zusammenlebens der zwei Weltblöcke gesucht werden muß. Es ist ein taktisch geschickter Schachzug der roten Machthaber im Kreml, daß sie als erste das Schlagwort der Koexistenz in den Verkehr gebracht haben. Es war eine der versäumten Gelegenheiten, an denen die Geschichte des Westens so reich ist.

Was bezweckt die sowjetische Politik mit der nun seit Jahren geführten Koexistenzpropaganda? Was sind die politischen Ziele der von Nikita Chruschtschow vertretenen politischen Richtung in der Sowjetregierung? Die Antwort darauf ist sehr einfach. Bei der Struktur des sowjetischen Staates diktiert eigentlich die Entwicklung die politische Linie. Lenins Aufgabe war die Begründung des Sowjetstaates. Als 1928 der Wiederaufbau Rußlands nach Welt- und

Bürgerkrieg so ziemlich vollendet war, erobert Stalin seine Allgewalt, indem er verkündete, daß auch, ohne die Weltrevolution abzuwarten, der Aufbau einer sozialistischen Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung in Rußland möglich sei. 1934 war nach Meinung der Russen dieses Ziel erreicht. Doch am Horizont tauchte schon die Gefahr des zweiten Weltkrieges auf, und das erweckte im allmächtigen Stalin neue Instinkte und einen neuen Ehrgeiz: den russischen Nationalismus als Instinkt, und den Ehrgeiz, die imperialen Ziele aller bisherigen russischen Herrscher zu verwirklichen, ein noch größerer Peter der Große zu werden.

Stalins Erben konnten begreiflicherweise auf diesem Wege nicht weiter vorwärtsgehen. Es mußten neue Ziele gesetzt werden. Man revidierte den Nationalismus Stalins, man kehrte zu gewissen Lehren Lenins zurück. Im Zentrum der alt-neuen Politik stand wiederum die innerrussische Entwicklung. Nikita Chruschtschow hat damit ein Ziel gefunden, mit dessen Verwirklichung er in die Geschichte eingehen möchte: den Uebergang vom Sozialismus zum Kommunismus, die Schaffung — wie man jetzt in der Sowjetunion immer wieder hören kann — der Grundlagen einer kommunistischen Wirtschaftsordnung. Was bedeutet das, in eine verständliche Sprache übersetzt? Das bedeutet eine solche wirtschaftliche Entwicklung, daß einmal so viele Waren produziert werden, daß ihre Verteilung nicht mehr nach dem Maßstab der vorausgegangenen Leistungen, sondern frei nach den vorhandenen Bedürfnissen vorgenommen werden kann. Man behauptet heute in Moskau, daß alle unentgeltlichen Leistungen des Staates, wie Gesundheitsdienst, Schulbildung, Alterspension als Staatspension für alle Bürger, bereits die erste unterste Stufe der kommunistischen Gesellschaftsordnung darstellen. Jetzt müsse man nur die Güterproduktion vorwärtstreiben. Gleichzeitig erfolgt eine Verkürzung der Arbeitswoche, im Laufe des Jahres I960 soll der Siebenstundentag bei sechs Arbeitstagen in der Woche durchgeführt werden, und Chruschtschow verspricht bereits, nach Verwirklichung des eben angelaufenen Siebenjahrplanes, den Uebergang zur 35- ja 30-Stunden-Woche.

Damit ist die Charakteristik der heutigen Politik Chruschtschows natürlich nicht erschöpft. Der Kommunismus lehrt ja, daß die Diktatur des Proletariats nur ein Liebergangsstadium ist, ein Mittel zum Zweck, die kommunistische Gesellschaftsordnung aufzubauen, und daß dann, wenn dieses Ziel erreicht ist, eine schrankenlose Freiheit eintritt, ja ein Absterben des staatlichen Zwangsapparates. Auch auf diesem Wege schreitet Chruschtschow vorwärts, wenn auch viel vorsichtiger und langsamer, mit vielen demagogischen Phrasen, hinter welchen nichts steckt. Doch die Tatsache bleibt: die Rechtssicherheit in der Sowjetunion ist bedeutend größer geworden, als sie etwa noch vor sieben Jahren war. Die Vollmachten des Staatssicherheitsdienstes bleiben eingeschränkt. Die Todesstrafe wird beinahe nie mehr angewendet. Die Härten des Strafgesetzbuches sind stark gemildert worden. Die Rechte des Angeklagten wurden erweitert. Man hat sogar begonnen, für gewisse Vergehen die Versammlung des Dorfes und der Bürger und nicht die Gerichte entscheiden zu lassen. Diese Versammlungen sollen in jedem solchen Falle entscheiden, ob die Sache überhaupt vor Gericht kommt oder der Delinquent unter temporärer Aufsicht seiner Mitbürger sich bessern soll.

Am besten versinnbildlicht den Unterschied zwischen früher und jetzt das Schicksal des Nobelpreisträgers Boris Pasternak. Vor 25 Jahren etwa wäre Pasternak auf Grund der damals geltenden Gesetze zweifelsohne zum Tode verurteilt worden. Doch was ist jetzt passiert? Wohl ist gegen Pasternak eine wütende Hetze entfacht worden, jedoch daran hat sich offiziell keine Regierungsstelle beteiligt. Kurzum, Pasternak ist nichts Uebles widerfahren. Ueber die Sowjetbühnen läuft im Schiller-Jahr seine Uebersetzung der Maria Stuart, und sein Name steht auf den Theaterzetteln. Er hat einen neuen Regierungsauftrag, Rabindranath Tagore ins Russische zu übersetzen, ja er nimmt sogar Aufträge für Artikel in westlichen Zeitungen entgegen. Dieses Schicksal Pasternaks charakterisiert am besten die Zustände zwischen einst und jetzt und die Ziele Chruschtschows. Allerdings, Demagogie ist auch dabei. Nach mehr als 40 Jahren Sowjetunion ist der Staats- und Par-teiapparat so gut durchorganisiert, daß sowieso kein Wort den Sowjetbürger erreicht, von dem angenommen werden kann, daß es schädlich werden könnte. Da kann man sich auch liberalere Gebärden leisten. Doch es zeigt auch die Ziele Chruschtschows. Im inneren Leben der Sowjetunion sollen alle Angriffsflächen und Punkte für die westliche Propaganda verschwinden.

Wenn Nikita Chruschtschow seinen klar und deutlich ausgedrückten historischen Ehrgeiz befriedigen will, kann er natürlich keinen Krieg brauchen. In diesem Sinne sind die Friedensbestrebungen des Kremls wohl echt. Jedoch für diesen Frieden will Chruschtschow nichts vom bisher erworbenen Besitz preisgeben. Er stellt sich die Entwicklung so vor, daß nach einigen Jahrzehnten auf einer neuen Ebene wirtschaftlicher und geistiger Natur der Kampf der beiden Weltanschauungen von neuem entbrennen wird. Für Chruschtschow gibt es heute nur ein einziges internationales Problem von Bedeutung — nämlich die deutsche Frage. Er zielt auf eine Konsolidierung der Konzeption von einem in zwei Staaten geteilten Deutschland, in der Hoffnung, daß es ihm gelingen wird, in einem Jahrzehnt oder etwas mehr aus dem sowjetischen Deutschland ein so anziehendes Schaufenster zu machen, daß dann im neuen, unkriegerischen Kampf um Deutschland die westliche Bundesrepublik ganz von selbst in die östlichen Arme fällt. Hier ist auch die Antwort auf die Berliner Bestrebungen des Kremls zu suchen. Es soll nicht nur ein Stachel aus dem Fleische der deutschen Ostzone gezogen werden, sondern, wenn auch langsam und vorsichtig, soll auch das ganze Berlin zur Hauptstadt der DDR werden, ein nicht unwichtiger psychologischer Faktor im späteren Kampf um das gesamte Deutschland.

Selbstverständlich ist für eine solch langfristige Politik die Koexistenz eine überaus nützliche politische Doktrin. Chruschtschow und seine Paladine haben ja oft genug ihre Ueberzeugung bekundet, daß in einigen Jahrzehnten das Leben in der kommunistischen Welt so verlockend sein wird, daß die übrige Menschheit von selbst sich auch für den Kommunismus entscheiden wird.

Selbstverständlich ist die Politik der Koexistenz von großen Gefahren für den Westen erfüllt. Allgemein herrscht die Meinung vor, daß, wenn es den Sowjets gelingt, tatsächlich ihre wirtschaftlichen Pläne zu verwirklichen, sie dann ihre wirtschaftliche Macht dazu benützen werden, um die westliche Wirtschaft zu desorganisieren und zu zerstören, um auf diese Weise eine revolutionäre Situation zu schaffen. Diese Gefahr besteht tatsächlich nicht. Erfahrungen der Vergangenheit haben gezeigt, daß ein noch so reiches Rußland es sich nie leisten wird können, die zu einer solchen Zerstörung notwendigen Güter und Werte zu opfern. Ganz abgesehen davon, daß die betroffenen Länder gegen Dumpings und Preisunterbietungen Abwehrmaßnahmen ergreifen können.

Die Gefahr besteht ganz woanders. Seitdem Stalin 1934 die Bedeutung der. Intelligenzia entdeckt hat und aus ihr statt einer unterdrückten eine sozial führende Schicht gemacht hat, ist man in der Sowjetunion konsequent auf diesem Wege vorangeschritten. Wir im Westen machen den Fehler, daß wir glauben, für den künftigen Wettbewerb ohne tiefgehende Reformen bei uns selbst gerüstet sein zu können. Die russischen Erfolge auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik werden zweifelsohne größer werden. Der Grund ist das sowjetische Schulsystem, das nicht nur unentgeltlich ist, sondern dem Studenten für die Berufsausbildung während des Studiums auch den Lebensunterhalt bezahlt. Auf diese Weise geht nicht nur keine einzige Kraft verloren, sondern die Sowjets erhalten auch die Zahl der notwendigen Fachleute. Wir werden hier mit einem Hickwerk, wie die Erweiterung des Stipendiumwesens, wohl auf die Dauer nicht auskommen. Das sowjetische System geht jedoch weiter. Ein gut durchdachtes System rückt automatisch die talentiertesten der Akademiker in den Vordergrund und läßt sie, je nach ihren Leistungen, von Stufe zu Stufe aufsteigen. Die Russen hätten aber mit diesem

Bildungssystem allein noch nicht die Resultate erzielt, womit sie die Welt überraschen. Es ist ihnen tatsächlich gelungen, die gesellschaftliche Geltung eines Menschen nach seinen geistigen Leistungen festzulegen. Mit jeder Stufe, die jemand auf der akademischen Leiter voranschreitet, wächst auch nicht nur das materielle Einkommen, sondern auch seine gesellschaftliche Geltung. Das ist bis zum letzten Punkt durchdacht. Wer einmal in Sotschi war, der hat gesehen, daß die luxuriösesten Erholungsstätten den Universitätsprofessoren, Wissenschaftlern und großen Künstlern Vorbehalten sind. Die Häuser der höchsten Partei- und Staatsführer sind viel bescheidener. In einem Jahrzehnt kann das alles sehr gefährlich werden. Denn der heutige Kommunismus bemüht sich gar nicht in erster Linie um den Industriearbeiter. Die soziale Gesetzgebung in vielen westlichen Staaten ist nicht schlechter als die russische. Man hofft aber in Moskau auf einen Sinneswandel der sogenannten „organisierenden Schicht“ der Bevölkerung, das heißt der Gebildeten im Westen. Wir können den Kampf nur gewinnen, wenn wir das Materielle zugunsten des Geistig-I dee11 en mehr in den Schatten treten lassen.

'Viele werden fragen, warum denn überhaupt den Kampf noch aufnehmen, wenn in einiger Zeit die kommunistische Welt ein so verlockendes Bild bieten wird. Die Antwort ist einfach: Man kann das von den Russen Errungene nicht einfach und sofort übernehmen. Wer zum Kommunismus neigt, ganz gleich, wann, muß sich bewußt sein, daß er damit gleichzeitig Jahrzehnte des Terrors, der geistigen Diktatur und der Not auf sich nimmt, bis ihm einmal, wie heute den Russen, ein Silberstreifen am fernen Horizont aufleuchtet.

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