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Ein „vernichtender Schlag“?

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Doch es soll hier nicht um Worte gestritten werden. Uns interessiert primär, wie weit die Theorie des Marxismus-Leninismus das zu halten vermochte, was sie versprach. Wenn irgend etwas, dann vermag die Geschichte jenes Landes, in welchem seit 45 Jahren diese Doktrin zum Leitfaden allen Tuns erhoben worden ist, hierauf eine Antwort zu geben.

In dem Programm der KPdSU, das im Herbst 1961 der XXII. Parteitag annahm, wurde unter anderem behauptet: „Die UdSSR hat mit ihren Erfahrungen bewiesen, daß nur der Sozialismus der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, der Anarchie der Produktion, den Wirtschaftskrisen, der Arbeitslosigkeit und dem Elend der Massen ein Ende machen, eine planmäßige und unablässig rasche Entwicklung der Wirtschaft und die ununterbrochene Hebung der Lebenshaltung des Volkes gewährleisten kann ... Die Praxis der größten Revolution der Welt und der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft, die in ihrer Entwicklung und ihrer Blüte beispiellose Höhen erreicht hat, hat bewiesen, daß der .Leninismus historisch im Recht' ist, sie hat der Ideologie des Sozialreformismus einen vernichtenden Schlag versetzt.“

Wir wollen gar nicht bestreiten, daß in den 45 Jahren kommunistischer Herrschaft die industrielle Produktion in der Sowjetunion um beinahe das Fünfzigfache gestiegen ist, womit Rußland aus einem Agrarstaat zur zweitgrößten Industriemacht der Welt aufstieg, und diese Macht spielt heute im Orchester der Weltpolitik mit die erste Geige. Die gewaltigen Fortschritte auf dem Gebiet der Technik können nicht mehr übersehen werden. Den bleibendsten Erfolg jedoah erzielten die Kommunisten in der Volksbildung. Das sowjetische Schulwesen kann zweifellos einen Vergleich mit dem Schulwesen westlicher Staaten aushalten. Die Sage vom ungebildeten russischen Bauern gehört der Vergangenheit an Nachdem bereits ein Drittel der Menschheit derzeit zum Herrschaftsbereich der kommunistischen Ideologie gehört, könnte man tatsächlich beinahe geneigt sein, an die Richtigkeit der marxistisch-leninistischen Thesen zu glauben.

Doch der entscheidende Punkt der kommunistischen Doktrin ist ja gar nicht die Emporführung eines bestimmten Staates zu nationaler Größe, liegt nicht in industriellen Erfolgen und technischem Fortschritt. Dies alles sollte ja nur ein Mittel sein zu einem endgültigen Zustand der Menschheitsbeglückung und der Errichtung eines Paradieses auf Erden, welches in der marxistischen Terminologie als die sogenannte „klassenlose“ oder „kommunistische Gesellschaft“ bezeichnet wird. Unter eben dieser Rücksicht verkündet denn auch das Parteiprogramm: „Der Kommunismus erfüllt die historische Mission, die darin besteht, alle Menschen von der sozialen Ungleichheit, von jedweden Formen der Unterdrückung und Ausbeutung und von den Schrecken des Krieges zu erlösen und begründet auf, Erden Frie- - denjtfArbeit, - 'FreShüit, Gleichheit, Brüderlichkeit' und Gluck aller.“ Und es ist streng logisch,' wenn die kommunistische „Geschichte der Sowjetunion“ die bolschewistische Machtübernahme von 1917 als den Beginn einer „neuen Ära der Geschichte der Menschheit“ feiert. „In allen Revolutionen der Vergangenheit hatte eine Ausbeuterformation die ändere abgelöst, war die Herrschaft der einen Ausbeuterklasse durch die der anderen ersetzt worden. Die herausragende Bedeutung der Oktoberrevolution besteht darin, daß sie erstmalig in der Geschichte der Menschheit alle Ausbeuter ihrer Macht beraubte, die Klassen der Linterdrückten und Ausgebeuteten zur herrschenden Klasse machte und die Diktatur des Proletariats errichtete.“

Sehen wir aber einmal vom Wunschtraum ab, wie er sich in den parteiamtlichen Formulierungen widerspiegelt, und betrachten wir den realen geschichtlichen Verlauf der vergangenen 45 Jahre. Dieser ist vom Grundsatz der kommunistischen Moral geprägt: „Gut ist, was dem Kommunismus nützt.“ Als Lenin 1918 den Frieden von Brest-Litowsk trotz des riesigen Gebietsverlustes und gegen den Willen seiner engsten Vertrauten abschloß, da tat er dies keineswegs etwa aus Friedensliebe, sondern — wie aus seiner berühmten „Rede über Krieg und Frieden“ auf dem VII. Parteitag ganz klär hervorgeht weil><M freie Hand brauchte für den Bürgerkrieg, ein Massenmorden, in dessen Verlauf mehr Menschen das Leben lassen mußten, als die gesamten russischen Verluste während des ersten Weltkrieges ausmachten. Es sei nur am Rande bemerkt, daß Lenin kaum acht Monate später den deutsch-russischen Friedensvertrag für null und nichtig erklärte und damit die Reihe der sowjetischen Vertragsbrüche einleitete, deren Ende bis zum heutigen Tag nicht abzusehen ist. Die „friedliebende Sowjetunion“ (wie es in kommunistischen Propagandapamphleten so schön heißt), scheute sich nicht, mit Hitler 1939 einen „Freundschaftsvertrag“ abzuschließen, als es darum ging, sich Ostpolen und das Baltikum anzueignen. Die „friedliebende Sowjetunion“ eröffnete gegen Finnland 1939 einen Angriffskrieg, annektierte 1940 die baltischen Staaten sowie Bessarabien und die Bukowina, erklärte im Sommer 1945 Japan den Krieg, zwang die osteuropäischen Staaten in ein Satellitenverhältnis, um — last, but not least —

1956 den Aufstand in Ungarn durch die Rote Armee blutig niederzuschlagen. Wer will sich hierüber wundern, hat doch Lenin schon im Jahre 1917 ganz klar gesagt: „Im Notfalle werden wir auf einen revolutionären Krieg nicht verzichten. Wir sind keine Pazifisten.“ Stalin erweiterte die Lehre seines Meisters noch dahin, daß er die Unterscheidung einführte, kommunistische Kriege seien gerecht, kapitalistische dagegen ungerecht. Man mag immerhin noch zur Entschuldigung anfügen, es habe sich hier um den „Kreuzzug“ für eine Idee gehandelt. Wie aber sah es in der UdSSR aus, wo die marxistisch-leninistische Weltanschauung das Bild bestimmte?

Die Bauern hatten sich vergeblich an den revolutionären Versprechungen der Bolschewiki berauscht. Sie wußten ganz offensichtlich nicht, daß sie von Lenin als ein Mittel zur Erlangung der persönlichen Macht mißbraucht werden sollten. Ein Ausspruch Lenins aus dem Jahre 1905 bewies schon damals seine Absichten: „Zunächst unterstützen wir bis zu Ende mit allen Mitteln, bis zur Konfiskation, den Bauern überhaupt gegen den Gutsbesitzer, darnach aber (und sogar nicht darnach, sondern gleichzeitig) unterstützen wir das Proletariat gegen den Bauern überhaupt.“

Bereits der Bürgerkrieg wurde gewissermaßen auf dem Rücken der Bauern ausgefochten. Hemmungslos wurde sowohl von den „Weißen“, als auch von den „Roten“ requiriert, geplündert und gemordet. Schließlich jedoch zwang Lenin die ausbrechenden Bauern- und Kosakenaufstände sowie die Meuterei der einstigen „Gardetruppen“ der Oktoberrevolution, der Matrosen von Kronstadt, nachzugeben. Es folgte die verblüffende Schwenkung zur „Neuen Ökonomischen Politik“ (NEP), welche Lenin damit einleitete, daß er erklärte: „Ich bedaure, daß unsere noch nicht sehr alte Erfahrung den Beweis erbracht hat. daß unsere Konzeption falsch war.“ Was er anscheinend aber nicht bedauerte, war die Tatsache, daß der Fehlschlag seiner Agrarpolitik in die Hungersnot von 1921 fünf Millionen Menschen — soweit die sowjetischen Schätzungen stimmen — das Leben kostete.

Während Lenin die NEP als „strategischen Rückzug“ bezeichnete, glaubte das russische Volk, es könne nun aufarmen. Die Liberalisierung des Handels sowie die Zulassung eines Privatunternehmertums in der mittleren und der Kleinindustrie zeitigten ihre Erfolge. Weil diese aber nicht' auf den Prinzipien des Marxismus-Leninismus gründeten, scheute sich I. V. Stalin nicht, das unterbrochene Experiment seines Lehrmeisters wiederaufzunehmen und zu Ende zu führen. 1928 wurde die NEP durch die Stalinschen Fünfjahrespläne ersetzt. Die Gefahr einer Hungersnot hatte zur Folge, daß Stalin sein Heil in einer großangelegten Kollektivierung suchte. In diesem Zusammenhang wurden rund zwei Millionen Großbauern enteignet und zusammen mit ihren Familien, insgesamt gegen zehn Millionen Menschen — nicht weniger als acht Prozent der bäuerlichen Bevölkerung — nach Sibirien verbannt. Stalin selbst wurde der Kollektivierung nicht mehr Herr. Sie nahm ein viel größeres Ausmaß an, als er selbst zuvor beabsichtigt hatte. Nun aber blieb er konsequent. Widerspenstige wurden mit Waffengewalt in die Kolchosen gezwungen. Die verzweifelten Bauern wehrten sich dadurch, daß sie 18 Millionen Pferde, 30 Millionen Stück Großvieh und 100 Millionen Schafe und Ziegen schlachteten, was einerseits zu einer katastrophalen Hungersnot führte — bescheidene Schätzungen sprechen von 11 Millionen Opfern —, anderseits Stalin zwang, die Industrialisierung mit allen Mitteln voranzutreiben, um die nötfcs gen Landwirtschaftsmaschinen besc^g^ fen zu können, insbesondere Traktoren, welche den Verlust an Pferden kompensieren konnten. Erstaunlicherweise wurde Stalin der Krise Meister, nicht zuletzt deshalb, weil er mit Hilfe der geheimen Staatspolizei die geringste Opposition erstickte. Millionen von tatsächlichen oder scheinbaren Gegnern wurden umgebracht oder wanderten in die Strafarbeitslager. Kein Wunder, daß in der Volkszählung von 1937, entgegen allen Voraussagen der Bevölkerungsstatistik, 30 Millionen Menschen „fehlten“! Bis zum heutigen Tag ist das Problem der Landwirtschaft in der Sowjetunion die ungelöste, große Schwierigkeit geblieben, welche auch einem Chuschtschow am meisten zu schaffen macht. Die Methoden mögen feiner geworden sein, aber dies ändert nichts an der Tatsache, daß Millionen junger Russen auch heute wieder zur Arbeit in den Neulandgebieten der Sowjetunion gepreßt werden!

Doch gehen wir nochmals ins Jahr 1917 zurück und verfolgen wir, wie es den Arbeitern erging. In den ersten Jahren nach der Revolution war es so, daß eine proletarische Herkunft ungefähr soviel bedeutete, wie einst ein Adelsprädikat. Aber auch diese Herrlichkeit war von kurzer Dauer. Die eigentliche Wendung brachte auch hier die NEP, als es Lenin klar geworden war, daß proletarische Herkunft und Parteibuch kein Fachwissen zu ersetzen vermögen. „Das Studieren ist Sache der Gelehrten, und da es sich bei uns schon längst nicht mehr um allgemeine Prinzipien, sondern um praktische Erfahrung handelt, ist uns wiederum ein, wenn auch bürgerlicher, aber gut beschlagener .Fachmann der Wissenschaft und der Technik' zehnmal wertvoller als ein eingebildeter Kommunist, der zu jeder Tages- und Nachtzeit bereit ist, .Thesen' zu schreiben, .Losungen' aufzustellen, nackte Abstraktionen zu kredenzen.“ Dieser Grundsatz wurde von Stalin übernommen, ja, er baute ihn sogar noch in seiner Weise aus. Das Ergebnis war, verblüffenderweise, eine neue Klasse, die wiederum so gar nicht in das theoretische . Gebäude des Marxismus-Leninismus hineinpassen wollte und für welche man schließlich den Namen „werktätige Intelligenz“ erfand. Diese neue Gesellschaftsschicht widersprach ^$£$8 “tö f^auptung,-j!aß sich .das Sowjetvolk *nuf dem Wege zur Abschaffung sämtlicher Klassen befindet, sie wurde — weil man sie unumgänglich brauchte — mit vielen Privilegien ausgestattet. Ihre Mitglieder sind nicht vor allem aus ideologischer Überzeugung treue Anhänger des Systems, sondern weil es sich eben lohnt! Gerade dieser Typ des sowjetischen Managers — der ängstlich und rücksichtslos seine Privilegien verteidigt — führt die kommunistische Behauptung, die Oktoberrevolution habe für alle Zeiten eine Ausbeutung unmöglich gemacht, am offensichtlichsten ad absurdum. Die Herrschaft dieser Schoßkinder des Systems ist glänzend getarnt und in ihrer Art unantastbar. Sie sind die Verwalter des sozialistischen Eigentums und üben, streng genommen, die sogenannte „Diktatur des Proletariats“ aus. Es kam tatsächlich so weit, daß mit der Wiedereinführung des Schulgeldes (1940) Stalcn dieser Klasse sogar das Bildungsmonopol für eine höhere Schulbildung überließ. Erst unter.Chruschtschow hat sich hierin einiges geändert.

Das gleiche ließe sich auch über die Offizierskaste sagen. Vorbei sind die Zeiten, wo der Proletarier den „Marschallstab im Tornister“ trug. Der Favorit für eine Offizierslaufbahn ist heute der Sohn aus einer Offiziersfamilie, der in der „großen Tradition der Roten Armee“ aufgewachsen ist.

Wir können diesen Artikel nicht abschließen, ohne nicht noch eines der makabersten Kapitel sowjetischer Geschichte kurz zu streifen: die Nationalitätenpolitik der Kommunisten. Das ist um so notwendiger, als Tag für Tag die Schlagworte vom Kampf gegen Sklaverei und Kolonialismus in unseren Ohren gellen. Die klassische Erläuterung zu den antikolonialistischen Parolen der Kommunisten gab Stalin bereits im Jahre 1920 mit den Worten: „Wir sind für die Lostrennung Indiens. Arabiens, Ägyptens, Marokkos und der übrigen Kolonien von der Entente, denn Lostrennung bedeutet in diesem Fall Befreiung dieser unterdrückten Länder vom Imperialismus, bedeutet Schwächung der Positionen des Imperialismus und Stärkung der Positionen der Revolution. Wir sind gegen die Lostrennung der Randgebiete von Rußland, denn Lostrennung bedeutet in diesem Fall imperialistische Knechtschaft für die Randgebiete, bedeutet Schwächung der revolutionären Macht Rußlands und Stärkung der Positionen des Imperialismus.“ Zwei Jahre zuvor hatte Stalin mit der gleichen Beredsamkeit das Gegenteil verkündet. Die Taktik von 1918 verlangte einen anderen Kurs: „Einzig und allein die Sowjetmacht proklamierte offen das Recht aller Nationen auf Selbstbestimmung bis zur völligen Lostrennung von Rußland.“

Und die Wahrheit? Die Wahrheit ist, daß die Bolschewiki, kaum daß sich ihre militärische Lage im Bürgerkrieg ein wenig gebessert hatte, eine nach der andern der selbständig gewordenen Republiken wieder annektierten. Unbeschadet des Leninschen Ausspruchs: „Nie kann ein Volk, das andere Völker unterdrückt, frei sein“, eignete sich die Sowjetunion in der Zeit von 1939 bis 1945 eine Fläche von 684.000 Quadratkilometern mit 23,703.000 Einwohnern an. Die kommunistischen „Antikolonialisten“ verfuhren dabei in einer Weise, die alle „imperialistischen. Vorbilder“ in den .'Schatten stellte^:Ganze Volkstejüe wur-l den deportiert, dezimiert und dje Reste.: wo immer es ging, russifiziert. Als Chruschtschow auf dem berühmten XX. Parteikongreß im Februar 1956 die Taten Stalins enthüllte, da konnte die entsetzte Welt einen Blick auf die tatsächliche sowjetische Nationalitätenpolitik werfen. In Viehwaggons, unter dem Waffenzwang des NKWD, hatte der Diktator ganze Völkerschaften deportieren lassen. Unbemerkt von der Weltöffentlichkeit war die größte Völkerwanderung aller Zeiten über die Erde hingegangen. Bescheiden verzichtete Chruschtschow darauf, seiner eigenen Rolle bei diesem Drama zu gedenken. Daß er im Auftrag Stalins 1937 die Ukraine säuberte und bei dieser Gelegenheit von Stalin als dem „Leuchtturm der fortschrittlichen und progressiven Menschheit“ geschwärmt hatte, sollte ebenso vergessen werden, wie die mindestens 1,5 Millionen Ukrainer, die er — Chruschtschow — 1939 in Strafarbeitslager schickte, und die Deportation der Wolgadeutschen und Krimtataren, die ebenfalls auf sein eigenes Konto ging.

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