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Erwunschte Opposition

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, Der XX. Parteitag der KPdSU hat auch auf kulturellem Gebiet jene Entwicklung ausgelöst, die — schon längst angebahnt — in Ansätzen bereits vorher begonnen hatte, greifbare Gestalt anzunehmen, doch die erst jetzt zur vollen Entfaltung gelangt: man streift die Fesseln des Stalinismus ab und beschreitet den Weg zu größerer Freiheit.

Diese Freiheit ist jedoch nicht nur dem Grade, sondern dem Wesen nach davon verschieden, was w i r unter Freiheit verstehen. Mit stärkstem Nachdruck wird von den Machthabern der Sowjetunion und der Volksdemokratien immer wieder unterstriqhen, daß man nicht etwa von der kommunistischen Lehre abrücke, sondern sie in ihrer Reinheit wiederherstelle. Alle Fehler der Vergangenheit werden Stalin und dem Persönlichkeitskult angekreidet und mit dieser Abweichung vom Marxismus-Leninismus in Zusammenhang gebracht. So ist es in der Politik, in der Wirtschaft, so in der Wissenschaft, in der Literatur und in den Künsten. ■

Es dreht sich nicht darum, ob die nunmehr erhobenen Vorwürfe berechtigt erscheinen — sie sind es fast alle — und ob man sie wirklich dem verstorbenen Diktator anlasten soll — was nur zum Teil zutrifft. Ebenso müßig ist es, zu untersuchen, ob es sich um „Entartungen“ und „Auswüchse“ gehandelt habe oder ob die nun gerügten Erscheinungen nicht dem totalitären Staate wesenhaft seien. Es besagt ferner wenig, daß die heutigen politischen Führer des Ostblocks maßgeblich an alldem selbst beteiligt waren, das sie jetzt verdammen.

Seitens der plötzlich ihre Meinung ungehemmt Aeußernden zeugt die jüngste Entwicklung ebensowenig von Zivilcourage wie das, was ihr voranging. Der Befehl von oben ist gekommen, den Stalinismus und das, was mit ihm verknüpft wird, tu kritisieren. Niemand wagt es, sich auszuschließen und weiterhin öffentlich anzubeten, was jahrzehntelang von allen angebetet wurd und was nunmehr verbrannt wird. Ein Unterschied gegenüber früher: während zur Zeit Stalins und 2danovs alle Dichter, die gefehlt hatten, mundtot gemacht wurden, erlaubt man es heute dem einzelnen, seine Vergangenheit zu verleugnen und straffrei — ja gegen durchaus beachtliches Honorar — im neuen Ton zu singen und zu sagen.

Auf dem Jahrmarkt der Moskauer literarischen Eitelkeiten sind erbitterte Kämpfe im Gange. Zwei mächtige Cliquen ringen um die Vorherrschaft: die Günstlinge der Stalinschen Spätzeit und die Schriftsteller, die damals entweder nicht zum Zuge kamen oder in Ungnade fielen. Die Gruppe der beamteten Literaturbonzen verficht nicht etwa die Richtigkeit der politischen Linie von gestern (das wäre ja gefährlich.'), sondern sie unternimmt es, sich persönlich reinzuwaschen und sich vor materiellem und moralischem Schaden zu bewahren und, so nebenbei, die künstlerische Berechtigung ihres vergangenen Schaffens zu behaupten. Die Gegenseite will selber zu Amt und Würden gelangen oder dorthin zurückkehren, mehr gedruckt werden und den eigenen ästhetischen Auffassungen zum Triumph verhelfen.

Nicht ganz in diesen Zusammenhang gehört der heftige Angriff, den Michael Solochov, der berühmte Verfasser des „Stillen Don“, von der Rednertribüne des XX. Parteitages aus auf die Kollegen von der Feder richtete. Er warf ihnen prasserischen Lebenswandel, mangelnde Produktivität und konventionelle Einstellung gegenüber der sowjetischen Wirklichkeit vor. Diese Anklagen passen gut in die neue Linie, und man nimmt daher an, daß Genosse Solo-chov von hoher Parteiseite veranlaßt wurde, seine Philippika zu halten, die sich vornehmlich gegen die aus der Stalin-Aera herüberragenden Mandatare des Schriftstellerverbandes rir' tete. Solochov selbst ist aber kein „Westler“, und seine Werke entsprechen durchaus dem Kanon des sozialistischen Realismus. Er steht zwischen den beiden Hauptrichtungen. Seine Worte mußten daher auf Seiten der ehemaligen Stalinianer heftigen Widerspruch wecken, ohne besondere Begeisterung bei der bisherigen Opposition auszulösen Die literarischen Würdenträger, die Simonov, Surkov samt Anhängern, setzten sichkräftig zur Wehr. Sie warfen Solochov vor, e r sei am wenigsten dazu berufen, anderen die Leviten zu lesen, denn er selbst habe in den letzten zwanzig Jahren auch nur ein Buch hervorgebracht; überdies sei sein eigener Lebensstil keineswegs spartanisch ...

Die Kongreßteilnehmer^beachteten weniger die vorgebrachten Argumente und Gegenargumente, in die sich Berufsneid und andere persönliche Beweggründe mengten, als die Tatsache der Ausfälle gegen prominente Parteidichter und der lebhaften Diskussion, die sich daraus entspann. Das Fazit der Reden war, daß Treue zum Marxismus-Leninismus und Bewußtsein der sozialen und erzieherischen Sendung und Verpflichtung des Schriftstellers nach wie vor unabdingbare Voraussetzung bilden, daß dem Künstler innerhalb dieses Rahmens jedoch volle Schaffensfreiheit gewährt werden muß. Also Abkehr von der Schablone, von den lähmenden Vorschriften des sozialistischen Realismus Stalinscher Prägung; echteres Verhältnis zur Wirklichkeit; Recht auf Kritik und Pflicht zur Kritik an den zahllosen Mißständen des sowjetischen Alltags, der sowjetischen Gesellschaft; Freiheit der künstlerischformalen Gestaltung gemäß dem Temperament und den Neigungen des Dichters — also klassisch, romantisch, realistisch, naturalistisch, surrealistisch oder wie immer —; Anlehnung an ausländische, selbst an westliche Muster ebenso wie an russische; Abschaffung des Zwanges zu unmöglichen „positiven Helden“ als Zentralfiguren der Handlung; unbehinderte Wahl individualistischer Motive neben den kollektivistischen, also Rückkehr zur Natur, zur Liebe, Analyse der Beziehungen von Mensch zu Mensch der feinen Regungen des Seelenlebens. Wofern der Dichter sich nur zum Marxismus-Leninismus bekennt, wird es ihm überlassen, die gültige Form der Aussage zu prägen, die seinem Wesen gemäß ist.

Daß der Parteitag nur Richtlinien festlegte, die schon vorher den Eingeweihten bekannt waren, das beweist eine literarische Neuerscheinung, die unter den Kongreßdelegierten verteilt wurde und monatelange Vorbereitungen erheischt hatte. Ganz wie im gemütlichen Vormärz erschien im 39. Jahr der Räteherrschaft ein literarischer Almanach, „Literaturnaja Moskva 1956“. Eher denn die Auslassungen Solochovs, bildete e r für alle geistig Interessierten die wahre Sensation des Parteitags. Denn hier sah man, zum erstenmal nach oft jahrelanger Pause, Namen von begabten und einst vielgelesenen Schriftstellern auftauchen, die Zdanovs und Stalins Knute aus dem Tempel der Musen verjagt hatte. Da sind sie wieder, die „Aestheten“ und „Formalisten“, Anna Achmatova und Viktor Sklovskij, da sind sie, Boris Pasternak, Vasilij Grossmann, Leonid Martynov, Nikolaj Zabo-lockij und manch anderer Links- oder Rechts-abweicher von ehedem. Vielen Genossen, die noch auf der bequemen flachen Heerstraße des Konformismus einhertrabten, stockte der Atem, als sie sahen, auf welch gefährlichen steilen Höhen die neununddreißig Mitarbeiter des „Literarischen Moskau“ zu wandeln sich erkühnten. Nicht als ob alle Beiträge Gipfelleistungen darstellten. Doch bald wagt es Zabolöckij, ein Gedicht nicht über ein häßliches Fabrikgebäude (wofern es solche geben dürfte), sondern über ein „häßliches Mädchen“ zu veröffentlichen; Sklovskij malt in einer Kurzgeschichte nicht ein Stalin-Bildnis, sondern ein höchst individualistisches „Porträt“; dann wieder sieht der alte Westler Boris Pasternak in Shakespeare nicht den Vorläufer der Weltrevolution, sondern den Dichter allgemein menschlicher Werte, den Meister des Wortes und den Künder seelischer Wahrheiten.

Das Erstaunlichste an diesem Almanach ist aber, daß er nicht in einen neuen, antikonformistischen Konformismus umschlägt, sondern daß er im Zeichen der Koexistenz aller seit 1917 aufgetretenen literarischen Schulen steht. Neben den Totgeschwiegenen der jüngsten Vergangenheit finden sich hier auch die Nutznießer des „Personenkults“ ein und die ewigen Anpasser, die, je nach der Konjunktur, „können schreiben rechts, können schreiben links“. Unter den Lyrikern ist Surkov, der Stalinist und sozialistische Realist, ebenso vertreten wie der

Liebling der russischen Kinder, der Satiriker Marscak, wie der neuromantische Tvardovskij, wie die Neusymbolistin Achmatova. Auch die Erzähler sind um neue Töne, um kühnere und weniger konventionelle Problematik bemüht. Die Herausgeber des dicken, braunen Bandes, unter ihnen Männer wie Kavarin und Paustovskij, die Führer der Opposition gegen die bisherige Leitung des Schriftstellerverbandes, wollten dem Leser gleich zeigen, wie man es nunmehr machen soll. So brachten sie einen Abschnitt aus einem Versepos von Tvardovskij, über den Gewissenskonflikt in der Seele eines zu unrecht Verurteilten und nach langjähriger Haft Rehabilitierten, also über ein Opfer des Beriiaschen Polizeiterrors. Sergej Antonov schildert ergreifend, wie einfache Menschen von der Maschine der Staatsallmacht zermalmt werden. Tatsachenberichte von Zlobin und Tendriakov entlarven schwere Mißstände in Fabriken und Kolchosen. Kurz — heiße Eisen sind nun plötzlich nicht mehr heiß, die Schönfärberei macht ernsthafter Kritik Platz.

Allerdings darf sich diese Kritik nicht an die Grundfesten des Regimes heranwagen, sondern nur an Fehler, die dadurch entstanden, daß man sich von der reinen Lehre Marx' und Lenins abgekehrt habe. Die erweiterte Problematik, die erneuerten Methoden, die Koexistenz der Stile: alles das bedeutet nur einen Versuch, das Schrifttum aus der Erstarrung der letzten zwei Jahrzehnte zu wecken, um es aus einem stumpfen zu einem scharfen und wirksamen Instrument in der Hand der meinungbildenden Partei, des über sämtliche Machtmittel verfügenden Staates zu gestalten.

Die amtliche sowjetische Kritik lobt das „Literarische Moskau 1956“. weil es nicht infolge Auftrages von oben, sondern auf Grund einer Initiative von unten entstanden sei. Doch wer ist dieses „unten“? Wieder eine amtlich “kontrollierte Organisation, die Abteilung Prosa der Sektion Moskau des Schriftstellerverbandes. Nun sind in Rußland ohne das Plazet und die Mitwirkung des obrigkeitlichen Machtapparates nicht einmal die technischen Voraussetzungen zur Herausgabe eines Werkes gegeben. Der Staat teilt das Papier zu, führt den Druckauftrag aus, verteilt das fertige literarische Erzeugnis. Der Moskauer Almanach konnte nur erscheinen, weil von oben her gewünscht wurde, daß die „Opposition Seiner Majestät des Parteipräsidiums“ sich zu Worte melde. Nun ist das keine echte Opposition, sondern die neue Mehrheit, und die alte Regierung der Republique des Lettres ist längst entmachtet, nicht durch den Druck des gemeinen Volkes der Skribenten, sondern auf Weisung der einzigen souveränen Gewalthaber im Lande, des Führungskollektivs im Kreml.

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