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Deutschlands vorweggenommener Friedensvertrag

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Am 26. Juli wird der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Walter Scheel, mit dem größten Gefolge, das je einen deutschen Außenminister begleitet hat, nach Moskau reisen, um hier mit seinem sowjetischen Kollegen Gromyko über das Gewaltverzichtsabkommen zu verhandeln. Dieses Abkommen aber ist zum größten Zankapfel der deutschen Innenpolitik geworden und scheint den Bürgern in der Bundesrepublik nach einem verlorenen Weltkrieg und der Zertrümmerung der deutschen Einheit nun neuerlich eine nationale Krise größten Ausmaßes zu bescheren.Während es allgemein zur Regel in der Außenpolitik gehört, an diffizile Fragen mit äußerster Behutsamkeit heranzugehen, machte die Regierung Brandt die schwierigste außenpolitische Frage überhaupt, das deutsch-sowjetische Verhältnis, zu einer innerpolitischen Kampffrage.

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Am 26. Juli wird der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Walter Scheel, mit dem größten Gefolge, das je einen deutschen Außenminister begleitet hat, nach Moskau reisen, um hier mit seinem sowjetischen Kollegen Gromyko über das Gewaltverzichtsabkommen zu verhandeln. Dieses Abkommen aber ist zum größten Zankapfel der deutschen Innenpolitik geworden und scheint den Bürgern in der Bundesrepublik nach einem verlorenen Weltkrieg und der Zertrümmerung der deutschen Einheit nun neuerlich eine nationale Krise größten Ausmaßes zu bescheren.Während es allgemein zur Regel in der Außenpolitik gehört, an diffizile Fragen mit äußerster Behutsamkeit heranzugehen, machte die Regierung Brandt die schwierigste außenpolitische Frage überhaupt, das deutsch-sowjetische Verhältnis, zu einer innerpolitischen Kampffrage.

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Die unabhängige, aber links engagierte Presse in der Bundesrepublik, vor allem „Der Spiegel“, „Die Zeit“ und „Der Stern“, muntern die Regierung Brandt-Scheel auf, den Vertrag abzuschließen, auch wenn die Basis im Bundestag noch so schmal sei. Ihre Argumentation beruht auf drei Erkenntnissen: Die deutschen Ostgebiete sind endgültig verloren, und die Existenz der DDR ist nicht zu bestreiten, weshalb die einzig vernünftige Politik die ist, eine Entspannung in Mitteleuropa zu erreichen, um die Zukunft für ein Wiederzusammenwachsen offen zu halten. Die CDU-CSU-Opposition, die ihre Vorbehalte gegen eine derartige Politik anmeldet, wird deshalb von Deutschlands Linkspresse heftig angegriffen und des Nationalismus sowie des Rechtsradäkaliemus verdächtigt. Insbesondere der CSU-Vorsitzende, Franz Josef Strauß, der den Kampf gegen Brandts Ostpolitik ohne jede Einschränkung und Rückversicherung führt, wird als der große Buhmann hingestellt, ja der Chefredakteur der sozialdemokratischen ,.Frankfurter Rundschau“, Karl Gerold, nennt Straußens Reden „chauvinistische Hetztiraden“ und vergleicht den Politiker mit seinen .blutbeschimierten Vorgängern“, worunter er Hitler und dessen Machtclique versteht.

Nun hat Strauß mit äußerster Vehemenz der Ostpolitik der Bundesregierung den Kampf angesagt und wurde dadurch zum eigentlichen Führer des nationalen Widerstandes. Sein Ausspruch: „Das Neue der Ostpolitik der Bundesregierung besteht darin, daß klare Formeln durch unklare ersetzt werden“, drückt die Stimmung der Opposition aus. Deutschlands Regierung und linksintellektuelle Journalisten glauben, daß durch das Gewaltverzichtsabkommen eine Entspannung in Mitteleuropa geschaffen und die Bundesrepublik wieder eine eigenständige Außenpolitik betreiben wird oder sich zumindest in der Ostpolitik aus dem Schlepptau des Westens befreien kann. Diese Politik aber nennt die Opposition eine Illusion, und es ist nicht zu übersehen, daß die Verfechter der neuen deutschen Ostpolitik auf der einen Seite in den Massenmedien predigen, man müsse die Realitäten anerkennen, auf der anderen Seite aber hoffen, eine von den Westmächten unabhängigere Ostpolitik führen zu können. Diese Annahme ist zweifellos eine Illusion. Die Bundesrepublik wird nach dem Abschluß des Vertrages mit Moskau außenpolitisch nicht besser dastehen als gegenwärtig, innenpolitisch aber einer Auseinandersetzung größten Ausmaßes gegenüberstehen. Üblicherweise sendet eine Regierung einen höheren Beamten des Außenamtes in das betreffende Land, mit dem es einen Vertrag abschließen will, damit er dort mit dem Referenten der zuständigen Abteilung die Punkte abspricht. Zeigen sich Gemeinsamkeiten, dann werden die Verhandlungen auf höherer Ebene fortgesetzt. Wie aber ging Brandt vor? Er sandte seinen Intimus Egon Bahr nach Moskau zu Sondierungsgesprächen. Doch Bahr kam, nachdem er 14 Aussprachen von 36stün-diger Dauer mit dem sowjetischen Außenminister Gromyko gehabt hatte, mit einem sogenannten „Papier“ zurück, das, wie es sich zur Überraschung selbst des deutschen Außenministers Scheel herausstellte, bereits der fertige Vertragsentwurf war. Als durch eine Indiskretion der Text des Bahr-Papiers bekannt wurde, herrschte bei einem großen Teil der deutschen Öffentlichkeit Entsetzen.

Wäre das Bahr-Papier wirklich so gut, wie es die deutsche Linkspresse hinstellt, dann ist eigentlich nicht einzusehen, warum sich die Regierung so unangenehm von der Veröffentlichung berührt fühlte. Die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ weist darauf hin, um wieviel besser das Bahr-Papier sei als die Erklärung der Sowjetunion zum Gewaltverzicht im November 1967, als das Kabinett Kiesinger über dieses Problem in Moskau sondierte. Nun sind derartige Vergleiche relativ. Der Tod durch ein schmerzloses Gift ist zweifellos angenehmer als durch die Hand des Henkers, substantiell aber besteht kein Unterschied.

Der von Bahr eingehandelte Vertragsentwurf enthält vier Punkte und zusätzlich sechs Absichtserklärungen. Der kritische Punkt ist der dritte. Er stellt die Ubereinstimmung der beiden Mächte fest, daß der Friede in Europa nur zu erhalten sei, „wenn niemand die gegenwärtigen Grenzen antastet“ und wenn „die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen“ anerkannt wird. Die beiden Regierungen erklären, „daß sie keine Gebietsansprüche gegen irgend jemand haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden. Sie betrachten heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich, einschließlich der Oder-Neiße-Linie und der Grenze zwischen der BRD und der DDR“.

Die Absichtserklärungen unterstreichen diesen Punkt. Sie besagen, daß die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR auf der Grundlage der „vollen Gleichberechtigung, der Nichtdiskriminierung, der Achtung der Unabhängigkeit und der Selbständigkeit“ beruhen. Ferner werden die Regierungen der UdSSR und der Bundesrepublik den Beitritt beider deutscher Staaten zur UNO fordern. Schließlich anerkennt die Bundesrepublik auch noch die Ungültigkeit des Münchner Abkommens.

Die Frage ist nun, was gewinnt durch dieses Abkommen die Bundesrepublik und was die Sowjetunion? Die Bundesrepublik gewinnt nichts, die Sowjetunion alles. Die Bundesrepublik anerkennt all das, was erst in einem Friedensvertrag geregelt werden sollte, nämlich die Oder-Neiße-Grenze, sie anerkennt aber auch die Unabhängigkeit und Selbständigkeit der DDR. Sie erklärt darüber hinaus das von Großbritan-

nien, Frankreich, Italien und Deutschland unterzeichnete Münchner Abkommen von Anfang an als ungültig, was die CSSR berechtigt, finanzielle Forderungen zu erheben. Zwar erklärte die deutsche Linkspresse die Ostpolitik der Regierung als ein Meisterstück und die Bahr-Texte als einen wesentlichen Fortschritt gegenüber den Forderungen der Sowjets von 1967, doch damals hat die deutsche Regierung nicht einen Augenblick daran gedacht, auf die sowjetischen Forderungen einzugehen. 1967 beispielsweise forderte die Sowjetunion die Ungültigkeit des Münchner Abkommens mit allen daraus erwachsenden Folgen, während der große Fortschritt des gegenwärtigen Vertragsentwurfs darin liegen soll, daß der Bundesrepublik nun erlaubt wird, über die Forderungen der CSSR mit dieser zu verhandeln. Punkt 3 des Vertrages sowie Punkt 6 und 7 der Absichtserklärungen stellen nach Ansicht der Opposition eindeutig eine Anerkennung der DDR dar. Die Brandt-Presse hingegen erklärt, daß diese Punkte keine völkerrechtliche Anerkennung der DDR bedeuten. Und mit einer juristischen Spitzfindigkeit, die zweifellos be-

wundermswert ist, wird festgestellt: „Wenn die Siegerrechte für Deutschland als Ganzes weiterbestehen, besteht juristisch auch Deutschland als Ganzes weiter. Daraus ergibt sich die zwingende Schlußfolgerung, daß eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR ausgeschlossen ist“ („Die Zeit“, Nr. 28).

Anerkennung des Status quo Nun bestehen seit mehr als 20 Jahren keine gemeinsamen Siegerrechte über Gesamtdeutschland. Die Westmächte taten mit der Bundesrepublik, was sie wollten, und die Sowjets mit der DDR. Jeder der beiden deutschen Staaten wurde in das entgegengesetzte Wirtschafts- und Militärbündnis eingefügt. Bisher hatte sich .allerdings die Bundesrepublik stellvertretend als Sprecherin des gesamten Deutschland gefühlt, nun wird ihre letzte Tat in dieser Hinsicht der endgültige Verzicht auf eine solche Rolle sein. Das Gesamtdeutschland lebt nur noch in der Phantasie der Deutschen. Dafür anerkennt die Bundesrepublik nicht nur praktisch, was auch jetzt geschieht, sondern auch rechtlich und maralisch den Status quo in Europa, der teilweise auf Unrecht und Unfreiheit beruht. Alle Revolutionäre von Marx bis Lenin müssen sich noch jetzt im Grabe umdrehen, wenn sie vernehmen, daß der größte Fortschritt und die revolutionärste Tat von denen, die sich auf sie berufen, heute darin gesehen werden, einen Status quo des Unrechts anzuerkennen.

Wie widersprüchlich die Bahr-Texte sind, ergibt sich auch aus Punkt 4, in dem es heißt, daß die bisherigen Verträge der beiden Regierungen durch das Abkommen nicht berührt werden. Im sogenannten Deutschland- oder Generalvertrag der Westmächte bekennen sich dilese zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes und überlassen die Regelung der Ostgrenzen einem künftigen Friedensvertrag. Welcher Vertrag wird aber nun mehr Gültig-, keit besitzen, das Gewaltverzichtsabkommen mit der Sowjetunion oder der Deutschlandvertrag mit den Westmächten?

Außenminister Scheel wird in Moskau seinem sowjetischen Kollegen einen Brief des deutschen Bundeskanzlers übergeben, in dem dieser das Recht auf Wiedervereinigung und auf einen europäischen Zusammenschluß festhält. Gromyko wird, so berichtet der „Spiegel“, den Brief übernehmen, aber nicht bestätigen, und am nächsten Tag wird die amtliche sowjetische Agentur TASS das Schreiben negativ kommentieren. Das heißt mit anderen Worten, daß der Brief Brandts international völlig wertlos ist und nur für den innerdeutschen Hausgebrauch bestimmt sein kann.

Als Adenauer die diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion aufnahm, kam am 13. September 1955 ein gemeinsames deutsch-sowjetisches Kommunique zustande, in dem es heißt: „Beide Seiten gehen davon aus, daß die Herstellung und Entwicklung normaler Beziehungen ... auch zur Lösung des nationalen Hauptproblems des gesamten deutschen Volkes ... der Wiederherstellung eines deutschen demokratischen Staates ... verhelfen werden.“ Erst wenn man dieses Kommunique mit dem Bahr-Papier vergleicht, erkennt man, welch ein politischer Riese Adenauer im Vergleich zu seinen Nachfolgern gewesen ist. Nun ist die Lage die, daß die deutsche Bundesregierung gar nicht mehr zurück kann. Sollte Außenminister Scheel in Moskau keine substantielle Änderung des Vertragsentwurfs erreichen, so könnte es leicht geschehen, daß der Vertrag im Bundestag keine Mehrheit erhält, weil ein Teil der FPD^Abgeordneten nicht zustimmt. Dann aber wird die Sowjetunion über die Bundesdeutschen herfallen und sie als Friedensfeinde, Revanchisten, Faschisten und Kriegstreiber brandmarken. Deutschland wird vor aller Welt als der Störenfried dastehen, der die Entspannung in Europa verhindert. Einen Vorgeschmack davon bot bereits die „Prawda“, die der CDU-CSU einen „Kurs auf einen neuen Krieg“ vorwarf. Die Opposition, heißt es im sowjetischen Parteiblatt, „organisiere das Nach-außendringen von Regierungsgeheimnissen und kümmert sich dabei überhaupt nicht um das internationale Prestige der Bundesrepublik“. Die Sorge der Sowjetunion um das internationale Prestige der Bundesrepublik mutet nach all den Jahren politischer Diskriminierung, Bedrohung und Beschimpfung durch die Sowjets und die Ostblockstaaten mehr als peinlich an.

Aber nicht einmal in der Frage Berlin wird das Gewaltverzichtsabkommen einen Vorteil bringen. Zuerst hieß es von Seiten der deutschen Regierung, sie werde die Frage des Gewaltverzichtsabkommens mit der Berlin-Frage koppeln und zumindest die Ratifizierung erst nach einer Einigung über Berlin vornehmen. Nun aber drehen die Sowjets bereits den Spieß um und erklären, sie werden in der Berlin-Frage nur dann verhandeln, wenn die Bundesrepublik den Gewaltverzichtsvertrag unterzeichnet. Rechnet man noch hinzu, daß die Sowjetunion, Polen, die DDR und die CSSR Wiedergutmachungszahlungen von der Bundesrepublik fordern werden, wobei es sich Berichten zufolge um hunderte Milliarden Mark handeln soll, was der deutsche Bundesfinanzminister Alex Möller leise andeutete, als er davon sprach, daß „die Entspannung im Osten“ für den deutschen Steuerzahler auch „mit gewissen Opfern“ verbunden sein werde, dann kann der außenstehende Beobachter doch nicht ganz den Verdacht loswerden, daß viele Deutsche einen Zug zum politischen Masochismuis haben.

Fassen wir nochmals zusammen: Die Befürworter des Vertrages stützen sich auf die Realitäten, die man anerkennen müsse. Auch besitzt Brandts Ostpolitik bis zu einem gewissen Grad die Unterstützung der westlichen Verbündeten, weil sie insgesamt keine deutsche Wiedervereinigung wünschen Allerdings haben sie gleichzeitig Angst, daß eine zu große Nachgiebigkeit die Position des Westens unterhöhlen, aber auch, daß die deutsche Außenpolitik mit sowjetischer Unterstützung eine gewisse FührungsrcJHe im nichtkommunistischen Europa übernehmen könnte. Darauf spekulieren auch alle Verfechter der Brandtschen Ostpolitik in Deutschland. Somit spiegelt die Brandtsche Ostpolitik auch die geistige und politische Kluft in Europa wider. In einem Europa der Vaterländer kann eben der nationalistische Geist niemals aussterben, weil jedes Vaterland Führungsansprüche erhebt.

Außenminister Scheel ist jedenfalls in keiner beneidenswerten Lage. Die Unterzeichnung des Vertrages könnte leicht seine letzte Tat als Außenminister gewesen sein. Obwohl er sich nicht wie sein Regierungschef den päpstlichen Segen holte, so möchte man ihm doch auf seinen Gang nach Moskau die gleichen Worte zurufen, die Ulrich von Hutten dem Reformator Luther mit auf dem Weg gegeben hat: „Mönchlein. Mönchlein, du gehst einen schweren Weg.“

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