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Der Pakt von London

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Vier Wochen nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft einigten sich auf der Londoner Konferenz die Außenminister der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Kanadas, Italiens, Belgiens, Hollands, Luxemburgs und der westdeutschen Bundesrepublik auf eine neue Formel für die Aufrüstung der Bundesrepublik.

Die „Londoner Akte", die am 3. Oktober 1954 unterzeichnet wurden, sehen die Aufnahme Westdeutschlands in den erweiterten Brüsseler Pakt (der 1948 gegen eine Expansion Deutschlands abgeschlossen worden war) und in die NATO sowie die Zuerkennung der Souveränität vor. Dramatische Sitzungen waren der Unterzeichnung vorangegangen: dieser Pakt kann; Weltgeschichte machen, wenn er von den Parlamenten der .Signatarstaaten ratifiziert wird. Er kann die erstmalige Einigung Westeuropas darstellen und ein brauchbares Gegengewicht gegen den Ostblock abgeben, er kann dergestalt die Türe zu echten positiven Verhandlungen mit Moskau öffnen, wenn . ..

Dieses „Wenn" hat vor allem drei schwierige Bezüge, die im gegenwärtigen Moment noch undurchsichtig sind. Wird es Mendės- Frarice .gelingen, die französische Nationalversammlung zu bewegen, nun doch eine deutsche Armde (zwölf Divisionen zunächst) zu akzeptieren? Der französische Premier hatte bis zuletzt die stärksten Widerstände gegen den Abschluß erhoben und verabschiedete sich in London mit den Worten: „Wir müssen schnell handeln, meine politische Existenz steht auf dem Spiel." Mendės-France kehrt in ein Paris zurück, in dem ihn eine mächtige Phalanx von Gegnern erwartet, die unnatürliche, aber feste Vereinigung adeliger Supernationalisten, gaullistischer Generäle, sozialistischer Parteiführer (Dissidenten von großem persönlichem Einfluß) und kommunistischer Gewerkschaftsführer.

Nicht viel besser ergeht es dem Bonner Bundeskanzler. Ihm kommt das Verdienst zu, die Unterzeichnung des Londoner Paktes durch sehr weit gehende Zugeständnisse ermöglicht zu haben, die, wie die Anzeichen zeigen, auch gegen ihn eine rechten at ionale und eine linke Opposition auf den Plan gerufen haben. Die Industrie, die mächtigste innerdeutsche Macht der Gegenwart, zeigt sich in ihren auf Rüstung eingestellten Sektoren erbittert, weil Dr. Adenauer in London einer weitgehenden Beschränkung der deutschen Rüstungsproduktion zugestimmt hat: die Gesamthöhe der deutschen Waffenproduktion wird begrenzt und die wichtigsten Arten von Heeresbedarf, darunter schwere Flugzeuge, größere Kriegsschiffe, ferngelenkte Geschosse sowie Atombomben und chemische Kriegsmittel darf Deutschland überhaupt nicht herstellen. Gerade in Kreisen der Regierungsparteien wird bereits eine Reihe von Bedenken gegen den Londoner Abschluß vorgetragen. Deren wichtigste sind: Da die volle Aufhebung des Besatzungsstatus an die Wirksamkeit der neugeschlossenen Verträge gebunden werden soll und da Mendės-France dem Pariser Parlament die Annahme der Lon- doner Vereinbarungen nur dann empfehlen will, wenn er gleichzeitig eine Saar-Ueberein- kunft mit der Bundesrepublik vorlegen kann, erscheint das ganze Vertragswerk an eine Koppelung der Saarfrage mit der Souveränität gebunden. In der Saarfrage gehen die deutschen und französischen Interessen aber noch sehr auseinander! Der Verzicht Dr. Adenauers, rechts des Rheins schwere und mittelschwere Waffen herstellen zu lassen, wird als Ausschaltung des Ruhrgebietes aufgefaßt — der größten Waffenschmiede und des stärksten deutschen Wirtschaftspotentials! Die Haltung der Opposition ist noch unklar. Ollenhauer hat zwar die Bindung Englands an Europa begrüßt — diese stellt tatsächlich ein außerordentliches Ereignis dar, das von größter Bedeutung ist, die deutschen Sozialisten wollen aber nach wie vor Verhandlungen mit Moskau, nor’i vor der Ratifizierung der Londoner Verträge, und spielen, ebenso wie die rechtsradikale Opposition, die Frage der deutschen Wiedervereinigung in den Vordergrund.

Was wird, zum dritten, Moskau machen? Wyschinskis aufsehenerregende Erklärungen auf der Generalversammlung der UNO in der letzten Woche, in denen sich die Sowjetunion zum ersten Male bereit erklärte, einer Rüstungsbeschränkung und Rüstungskontrolle zuzustimmen, ohne auf einem Totalverbot der Atomwaffen zu bestehen, zeigen, wenn nicht alle Anzeichen täuschen, daß die Sowjetunion entschlossen ist, elastisch zu fechten und damit jene Politik fortzusetzen, die ihr in letzter Zeit große Erfolge eingebracht hat. Der Kreml hat es also nicht unbedingt eilig, er kann seine diplomatischen und wirtschaftlichen Offensiven in aller Welt und auch in Europa weitertreiben, ohne gezwungen zu sein, zu anderen Mitteln zu greifen. Die Wiederaufnahme der Beziehungen zu Tito-Jugoslawien haben bereits Erfolge gerade bei UNO-Abstimmungen einge- braoht, die Wirtschaftsoffensive Rußlands in Griechenland, auf der Messe von Saloniki, und die Bemühungen im Nahen Osten zeigen, wie wendig und geschickt die heutigen Machthaber in Moskau sich gerade auf einem Terrain'bewegen, auf dem sie gestern empfindliche Schlappen einstecken mußten, wie in Jugoslawien und Griechenland, wie auch in Ostdeutschland: zwei Jahre sind seit der Erhebung der ostdeutschen Arbeiter Vergangen — heute hat Rußland in Deutschland sein Gesicht wiedergewonnen, wie die Ausmünzung des Absprunges Dr. Johns und Schmidt-Wittmacks zeigen.

Schmidt-Wittmack hat soeben in der Ostzone eine offene Diskussion über die Oder- Neisse-Grenze gefordert; das aber- heißt, er traut es westdeutschen Kreisen heute bereits zu, sich auf eine solche Grenze einzulassen — für das künftige vereinigte Deutschland, das nicht ohne Zustimmung Moskaus zustande kommen kann, wie es soeben Franz von Papen, als vierter Exkanzler Deutschlands, in einer Broschüre versichert.

Der Bonner Bundeskanzler und der Pariser Kanzler werden also sehr viel zu tun haben, um eine parlamentarische Zustimmung zum Londoner Vertrag durchzusetzen. Wenn ihnen dies gelänge, könnte ein Bündnis entstehen, das dem alten Europa eine echte Friedenshoffnung eröffnen sollte.

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