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Wem nützt ein vereinigtes Deutschland?

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In bundesdeutschen Zeitungen wurde in letzter Zeit wiederholt und mit Nachdruck die „deutsche Frage“ diskutiert. Seit 32 Jahren leben nun die Deutschen getrennt. War dies anfänglich nur als Provisorium gedacht (Bonn als Bundeshauptstadt) und konnte man hoffen, daß sich dieser Zustand nach einiger Zeit überwinden läßt, so muß man heute zugeben, daß ein vereintes Deutschland in weite Ferne gerückt ist.

In der Bundesrepublik selbst gab es bereits Anfang der fünfziger Jahre Bestrebungen von Gustav Heinemanns Gesamtdeutscher Volkspartei, die Einigung um den Preis der Neutralisierung herbeizuführen. Insbesondere der österreichische Staatsvertrag 1955 hat dann als Beispiel gewirkt (und heimlichen Neid hervorgerufen).

Die Zeit des Kalten Krieges ließ weitere Debatten diesbezüglich nicht zu, erst Willy Brandt und Walter Scheel versuchten ab 1969 mit ihrer Ostpolitik neue Akzente zu setzen. Man kann aber bereits jetzt sagen, daß diese Politik nicht die gewünschten Erfolge gebracht hat.

Im Bonner Grundgesetz von 1949 und im Deutschlandvertrag von 1952 (zwischen Bonn und den drei westlichen Alliierten) wird an prominenter Stelle die Wiedervereinigung postuliert. Mit dieser Forderung und den daraus oft resultierenden juristischen Problemen leben die Deutschen nun mehr als 30 Jahre. Die deutsche Identitätskrise (wer ist der Vorgängerstaat der Bundesrepublik: Großdeutschland, die Weimarer Republik, das Wilhelminische Reich oder gar das alte Reich vor 1806?) ist oft Ursache der Staatsablehnung der Jugend (Krawalle bei Bundeswehr- Feiern).

Kommentatoren weisen mit Recht darauf hin, daß das durch die Teilung hervorgerufene fehlende Kontinuum in Deutschland zu einer staatspsychologischen Krise geführt hat. Eine Lösung bietet nur ein wiedervereintes, neutrales Deutschland. Es erhebt sich nun die

Frage, welche Konsequenzen eine Neutralisierung eines wiedervereinten Deutschlands Tür die Welt- und Europapolitik hätte:

• Die primäre Zustimmung zu einem wiedervereinten neutralen Deutschland liegt bei Moskau. Dies könnte nur im Rahmen eines Friedensvertrages zwischen den vier Großmächten und Deutschland erfolgen. Der Neutralitätsstatus dieses Deutschlands wäre dabei sicherlich völkerrechtlich verankert, er würde sich eher am österreichischen als an einem blockfreien Modell orientieren. Die NATO müßte sich hinter den Rhein, der Warschauer Pakt hinter die Oder zurückziehen.

Dieses vereinte Deutschland könnte nur als freiheitlich-demokratisches be

stehen, d. h. die Sowjetunion würde in der Optik mehr hergeben als der Westen, denn sie verliert zwar militärgeographisch weniger als die NATO, qualitativ aber weitaus mehr. Da aber Moskau nur zu etwas zustimmt’ wo die Nutzen größer sind als die Kosten, ist zu überlegen, welche Hintergedanken dabei eine Rolle spielen könnten.

• Einer davon ist sicher der, daß die NATO im Falle der Wiedervereinigung zerfällt oder zur Bedeutungslosigkeit herabsinkt. Frankreich ist aus dem militärischen Verband bereits draußen, der verbliebene wichtigste Partner der USA würde nun auch wegfallen. Es blieben in Europa nur mehr die wirtschaftlich und militärisch schwachen Mittelmächte Großbritannien und Italien sowie die kleineren Staaten übrig.

In der Folge könnten sich zwei bis drei Nachfolgeblöcke bilden: ein anglo- amerikanisch-atlantischer (USA, Kanada, Großbritannien, evtl, auch Ir-

land, Island, Dänemark, Norwegen, Niederlande); ein lateineuropäischer (mit Frankreich an der Spitze, Italien, Spanien, Portugal, Belgien, Luxemburg, eventuell auch Niederlande); eine Gruppe neutraler oder blockfreier Staaten (Norwegen, Dänemark, Niederlande, evtl. Griechenland, Türkei).

Die durch Jahrhunderte bestandene Gegensatz-Trias Deutschland, Frankreich und England, die 1945 überwunden schien, würde damit wiederum entstehen und der Sowjetunion ein leichtes Spiel ermöglichen.

• Daß damit der Traum von einem vereinten Europa in noch größere Ferne gerückt wird, dürfte klar sein.

• Auch die Europäische Gemeinschaft (EG) würde an Bedeutung verlieren, weil mit Sicherheit der Neutralitätsstatus eines wiedervereinten Deutschlands eine Mitgliedschaft bei der EG verbieten würde (Beispiel Österreich). Sie würde sich wahrscheinlich dann mit dem lateineuropäischen Block decken, zu dem andere kleinere Randstaaten hinzustoßen könnten.

Die wirtschaftlich gestärkte Potenz eines wiedervereinten Deutschlands sowie diese Rest-EG würden Anlaß zu Konkurrenz und Spannungen sein, die nur im Sinne der Sowjetunion sind. Die bereits jetzt bestehenden Auseinandersetzungen innerhalb der EG lassen auf solche Konsequenzen schließen.

• Die Folgen eines wiedervereinten neutralen Deutschlands für die Deutschen selbst wären einmal die, daß die Bewohner der DDR in den Genuß eines freien Systems kämen und daß die deutsche Identitätskrise durch ein neu erwachtes Selbstgefühl mehr oder minder verschwinden würde. Wie weit ein deutscher Nationalismus entstehen würde, der insgesamt gefährlich werden kann, läßt sich nicht beantworten. Die Gefahr besteht jedenfalls.

Eine Unbekannte wäre auch das Wahlverhalten der ehemaligen DDR- Bürger. Einerseits handelt es sich dabei um traditionelle „rote“ Gebiete (Sachsen, Thüringen), andererseits könnten die Ostdeutschen vom SED-Regime so

angewidert sein, daß sie den .^“-Parteien die Stimme verweigern.

• Für Österreich bliebe das alles nicht ohne Folgen: Der Staatsvertrag sowie die NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik verbieten automatisch jede Annäherung zwischen ihr und uns. Ein neutrales und vereintes (starkes) Deutschland würde auf uns eine viel stärkere Sogwirkung ausüben.

Durch den Zerfall der wirtschaftlichen Einheit Europas würde sich von selbst eine wirtschaftliche Annäherung zwischen diesem Deutschland, Österreich und auch der Schweiz ergeben. Es würde zwar zu keiner staatsrechtlichen Angliederung kommen, aber die Hegemonie Deutschlands über Österreich würde sicher jene Ausmaße wie in der Endphase des Ersten Weltkriegs erreichen.

• Für Moskau wären der Preis für die

Aufgabe der DDR der politische, wirtschaftliche Desintegrationsprozeß des Westens und die daraus entstehenden Spannungen und Konflikte. Es bleibt die Frage offen, ob dieser Einsatz auch aufgeht, ob nicht die Tatsache, daß Moskau seinen „Musterschüler“ praktisch fallen läßt, nicht ihrerseits einen Desintegrationsprozeß im Ostblock hervorruft. Polen zum Beispiel würde nicht mehr rund um kommunistische Staaten eingebettet sein.

Die Aufzählung der Folgen ist nicht sehr ermutigend, der Nutzen eines wiedervereinten und neutralen Deutschlands - und nur das ist gegenwärtig politisch denkbar - besteht zwar in einer Befreiung von 17 Millionen Deutschen aus dem kommunistischen Joch und einer geistigen und wirtschaftlichen Stärkung Deutschlands, aber eine Entspannung oder eine wirtschaftlich-politische Integration Europas würden in noch größere Ferne rücken.

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