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Europas neue Grenzen

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Nur ausnahmsweise haben vergangene Kriege ohne nachfolgende Grenz Veränderungen geendet. Spanien und Frankreich führten im 16. Jahrhundert zwei Dutzend Kriege, ohne daß sich die Grenzen wesentlich verschoben hätten, der türkisch-polnische Krieg 1619 bis 1621, der siebenjährige Krieg zwischen Österreich und Preußen und der serbisch-bulgarische Krieg 1885 bis 1886 schlössen mit dem territorialen Status quo ante. Das sind aber Ausnahmen, und ansonst erfuhr die Landkarte nach jedem Kriege starke Abänderungen. Nach der letzten großen europäischen Landkartenerneuerung, die dem ersten Weltkriege folgte, blieb jenes Staatenbild im Allgemeinbewußtsein lebendig, wie es sich durch 20 Jahre bis 1938 behauptete, und nun ist der Moment gekommen, wo wir uns die Frage vorlegen, wie der zweite Weltkrieg dieses Staatenbild verwandelt hat.

Hitlers Schere zerschnitt kreuz und quer die Landkarte Europas, im Osten verschoben sich die Grenzen im Baltikum, gegen Polen und Rußland, im Westen mußte die französische Grenze zurückweichen, im Herzen Europas verschwanden Österreich und die Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien erhielten neue Grenzen und am Balkan entstand durch die Aufteilung Jugoslawiens ein ganz neues Bild, während sich Italien gegen Frankreich und nach Osten ausdehnte. Neue Staaten entstanden, wie die Slowakei und Kroatien, und bald gab es in Europa nur mehr gezählte Staaten, die ihre alten Grenzen behielten.

Sobald die Niederlage des Dritten Reiches besiegelt war, konnte auch nicht mehr daran gezweifelt werden, daß sich Europas Grenzen abermals gründlich ändern werden, und dies ist 1945 in vollem Ausmaße eingetreten. Niederlande, Belgien, Luxemburg, Norwegen, Österreich, Jugoslawien und Albanien bekamen — von kleinen Verschiebungen abgesehen — ihre alte Gestalt, die Tschechoslowakei verlor durch Völksabstimmung die sogenannte Karpafho-Ukraine, Dänemark mußte seine Verbindung mit Island lösen, Griechenland erhielt den Dode-kanes, Polen schob sich bei Einengung seines Gebietes im Osten stark gegen Westen vor und Rußland gewann einen Großteil jener Gebiete zurück, die es 1914 besessen hatte und die nach dem ersten Weltkrieg finnisch, baltisch, polnisch und rumänisch geworden waren.

Man kann natürlich noch nicht sagen, daß bereits alle europäischen Grenzen endgültig neugezogen wären, denn so manche Grenzfrage steht noch umstritten vor dem Fried;nsarcopag. Die 79tägigen Verhandlungen der Pariser Konferenz haben aber im Wesen die neuen Grenzen für Italien, Rumänien, Ungarn, Bulgarien und Finnland festgelegt und damit gewinnt Europa in ausgedehnten Gebieten ein neues Gesicht. Wenn nun noch Deutschlands Grenzen geregelt werden, dann wird die Neuzeichnung der europäischen Landkarte bald vollendet sein.

Im einzelnen ergeben sich nicht unerhebliche Gebietsveränderungen im Bereiche jener Staaten, für die in Paris die Friedensverträge verhandelt wurden und an denen bei den angeschlossenen Verhandlungen in New York noch vereinzelte Korrekturen nicht ausgeschlossen erscheinen.

Italien tritt an Frankreich Grenzgebiete im Räume des Mont Cenis, an Jugoslawien Teile von Venezia Giulia und seine dalmatinischen Besitzungen, an Griechenland den Dodekanes ab und verliert Triest, das selbständig wird Ist der Verlust an Frankreich nicht schwerwiegend, so wird Italiens Stellung in der Adria merkbar verschlechtert, wo nunmehr Jugoslawien stärker zur Geltung kommen wird. Am schwerwiegensten ist jedoch Ital'ens Verlust im Mittelmeer, wo es nicht bloß den Dodekanes preisgeben muß, sondern durch den Verlust aller seiner afrikanischen Kolonien als Mittelmeervormacht ausscheidet, um hier England ein beträchtliches Erbe zu hinterlassen. Die Auswirkungen des Verlustes der Kolonien erstrecken sich noch über das Mittelmeer hinaus und berühren sowohl Afrika, als auch das Rote Meer und den Indischen Ozean, wo sich überall Verschiebungen zugunsten Englands ergeben müssen.

Rumänien bekommt wieder ganz Siebenbürgen, gibt dafür die Süd-Dobrud-scha an Bulgarien, und Bessarabien an Rußland zurück, das daher wieder unmittelbar an die Donaumündungen reichen wird. Trotz dieser Einbußen bleibt Rumänien ein großer und reicher Staat und nach wie vor ein Faktor am Balkan, mit dem zu rechnen ist.

Ungarn behält seine Grenzen von Tria-non und muß zur Vergrößerung des tschechoslowakischen Brückenkopfes bei Preßburg auf kleine Grenzgebiete verzichten.

Bulgariens Grenzen sind noch nicht bestimmt, doch dürften sie in ihrem endgültigen Verlaufe nicht wesentlich von jenen des Vertrages von Neuilly abweichen.

Finnland überläßt Rußland die Provinz Petsamo und wird dadurch vom Nördlichen Eismeer abgeschnitten, wo wieder die seinerzeitige norwegisch-russische Nachbarschaft auflebt. Die Entmilitarisierung der Alands-Inseln schafft freien Zugang zum Bottnischen Meerbusen, während die Verpachtung des Gebietes von Porkala-Udde. westlich von Helsinki, an Rußland, diesem die Beherrschung des Finnischen Meerbusens ermöglicht. Hangö kehrt an Finnland zurück und die übrigen Grenzen bleiben jene des Jahres 1940.

Überblickt man nun die neuen Grenzziehungen, die zehn Staaten betreffen, im

Vergleiche mit dem Jahre 1938, könnte man im ersten Augenblick durch das neue Kartenbild verleitet werden, an keine größeren Veränderungen zu glauben. Die Veränderungen liegen jedoch nicht bloß im rein Territorialen, sondern auch im allgemein Machtmäßigen und es ist deshalb nötig, sich auch über diese Verschiebungen Rechenschaft zu geben.

Die bloßen Gebietsveränderungen bringen — wie schon angedeutet wurde — vor allem Rußland die Vorherrschaft in der Ostsee, im osteuropäischen Raum und an den Donaumündungen, England im Mittelmeer und in Afrika, und Jugoslawien eine gestärkte Position in der Adria. Entscheidender sind jedoch drei andere Momente, und zwar der Ausfall Deutschlands als militärische Macht, die Schwächung Frankreichs infolge erlittener Rüstungsverluste, und die Abrüstung Italiens, Rumäniens, Ungarns, Bulgariens und Finnlands. Zu alldem kommt noch eine Kräfteverlagerung im Konzert der Großmächte, aus welchem Deutschland ganz und Italien weitgehend ausscheiden und in welches Rußland und England nachdrücklicher und — im Rahmen der europäischen Politik — die USA neu eintreten.

Die Abrüstung der fünf Staaten, die jetzt ihren Friedensvertrag erhalten, bedeutet automatisch ein Übergewicht der gerüstet bleibenden Nachbarstaaten. Diese Abrüstung muß mit jener verglichen werden, die nach dem ersten Weltkrieg den unterlegenen Staaten vorgeschrieben wurde, damit sie zutreffend beurteilt werden kann. Am einfachsten gelangt man zu einer solchen Beurteilung durch Gegenüberstellung der Ziffernbüder:

Friedensstand der Wehrmacht ~ , ., in Prozenten der Bevölkerung Zu_ oder Abn=

Staat Jahr Bemerkung

1938 1946 1946

Italien 0,95 0,71 minus 0,24 “tämT“

Rumänien 1,8 1,00 minus 0,8 —

Ungarn 0,4 0,8 plus 0,4 wir 1918 -.18 abgerüstet

Bulgarien 0,5 1,00 plus 0,5 war 1918-38 abgerüstet

Kinnland 0,83 1,2 plus 0,37 —

Zu diesen Ziffern bleibt zu bemerken, daß sie insoferne nicht restlos richtig sein können, als die neuen Bevölkerungszahlen noch nicht vorliegen, doch zeigen sie immerhin, daß im großen ganzen der übliche Friedensstand von ein Prozent eingehalten wird und daß eine gewisse Angleichung der nach.dem ersten Weltkrieg abgerüsteten Staaten an den nunmehrigen Abrüstungsstatus erfolg ist. Die Abrüstungsziffern zeigen aber allein nicht das wahre Rüstungsbild, denn dieses ergibt sich erst aus den Detailbestimmungen der neuen Abrüstung. Soweit Nachrichten darüber vorliegen, sind untersagt: alle modernen Spezialwaffen, größere Kriegsschiffe, Bombenflugzeuge, Grenzbefestigungen, allgemeine Ausbildung und größere Vorratslagerung von Kriegsmaterial. Hier kehrt die Abrüstung zum Vorbild der Abrüstung 1918 zurück, die ebenfalls den abgerüsteten Staaten nur eine Art Grenzschutz zubilligte.

Ein abschließendes Bild der europäischen Rüstungen wird aber erst zu gewinnen sein, wenn sich die UN durch Aufnahme aller Staaten vervollständigt haben und wenn der Sicherheitsrat seine militärischen Friedenssicherungen ausgearbeitet und verwirklicht haben wird.

Der Völkerbund hatte in seinem Artikel 8 die „Herabsetzung der nationalen Rüstungen auf das Mindest-m a ß“ ins Auge gefaßt, und eine solche Abrüstung in die Friedensverträge mit den besiegten Staaten aufgenommen, „um den Beginn einer allgemeinen Beschränkung der Rüstungen aller Nationen zu ermögliche n“. Wie wir wissen, vermochte der Völkerbund das Abrüstungsproblem in keiner Weise vorwärtszubringen und alle seine langwierigen und mühevollen Verhandlungen blieben unwirksam.

Die Charta der Vereinten Nationen hat in ihrem Absatz 26 die Abrüstung in die

Formel eines „M indestaufwandes für Rüstungszwecke“ gekleidet, der einvernehmlich festgesetzt zu werden hätte. Mag auch augenblicklich noch nichts Entscheidendes in der Frage der allgemeinen Abrüstung geschehen sein, was in so kurzer Zeit nach dem zweiten Weltkrieg auch noch gar nicht möglich gewesen wäre, so zeigen sich doch die ersten Ansätze einer auch die Großmächte erfassenden Abrüstung. Am 29. Oktober beantragte Sowjetrußland durch seinen Vertreter auf der UN-Tagung in New York „die allgemeine Herabsetzung der Rüstungen“ und schon am 30. Oktober erklärte der Vertreter der USA, daß Amerika die vorgeschlagene Abrüstung zu fördern gewillt ist. So ist der erste entscheidende Schritt getan und es ist zu hoffen, daß er diesmal Erfolge zeitigen werde, denn es sind die maßgebendsten Mächte unserer Tage, welche die Initiative ergriffen haben.

Mit dieser ergänzenden Betrachtung können wir nun die Bedeutung der neuen europäischen Grenzen richtig einschätzen. Die Karte im Atlas zeigt nur einen Bruchteil des Staatenbildes, es zeigt sozusagen bloß die Häuser, doch nicht die darin wohnenden Menschen mit allen ihren Kräften. Erst die Kenntnis der machtmäßigen Lage der Einzelstaaten, ihrer Nachbarn, der außenpolitischen Beeinflussungen und endlich der internationalen Beziehungen, wie sie sich im Schöße der UN gestalten, gestattet es, zu sagen, was die neue Landkarte Europas bedeuten kann.

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