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Neutralität und Weltstrategie

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Wenn wir in der letzten Woche die strategische Doktrin der Sowjetunion dargelegt haben*, so bedeutet das nicht, daß schon heute oder morgen die Sowjetarmee imstande ist, in groß angelegter Aktion auf dem amerikanischen Kontinent zu landen. Zweifelsohne ist der Aufbau der Sowjetflotte, vermutlich auch der der Luftwaffe, für eine derartige Operation noch nicht genügend fortgeschritten. Auch die industrielle Grundlage genügt wohl noch nicht, was sich schon in der Tatsache ausdrückt, daß die

USA viereinhalbmal soviel Stahl und Eisen pro Kopf der Bevölkerung produzieren wie die Sowjetunion. Doch zweifellos ist eine solche Operation das strategische Ziel des roten Generalstabes. Es entspricht genau dem militärischen Denken der Russen, welche es immer für richtig gehalten haben, mit ungeheurem Kraftaufwand, ungeachtet noch so gewaltiger Verluste, dorthin vorzustoßen, wo der Krieg endgültig entschieden werden kann.

Vgl. „Furche“ Nr. 32 „Neutralität und Weltstrategie“.

Welche strategische Konzeption stellen nun die USA dieser russischen Doktrin gegenüber? Ein einheitliches Bild ist allerdings diesbezüglich nicht zu gewinnen. Bemerkenswert ist nur, daß die amerikanischen Militärs in ihrer Publizistik die Möglichkeit einer russischen Invasion in Amerika ganz außeracht lassen und sich nur in Theorien über einen Krieg in Europa ergehen. Dabei bleibt die Frage vollständig offen, wie ein zukünftiger Krieg gewonnen werden soll und ob dabei der Westen eine Besetzung Rußlands anstreben würde. Trotzdem ist anzunehmen, daß man im Pentagon ziemlich genau über diese Dinge Bescheid weiß. Man muß feststellen, daß die geographischen Umstände für die Vereinigten Staaten Amerikas gar nicht günstig liegen. Wenn den Sowjets eine Landung in Amerika gelänge, so befänden sie sich damit mitten im amerikanischen Lebenszentrum oder wenigstens in unmittelbarster Nähe desselben. Umgekehrt schlösse eine amerikanische Landung auf russischem Gebiet im Fernen Osten ungeheure Gefahren in sich. Wenn man in Wladiwostok oder anderswo an der ostsibirischen Küste gelandet ist, so heißt es erst noch einige tausend Kilometer bis hinter den Baikalsee vorzudringen, bis diese Aktion sich strategisch effektiv auszuwirken begänne. Der Bürgerkrieg und die alliierte Intervention 1918 bis 1921 haben deutlich diese Schwierigkeit aufgezeigt. Japaner mit mehreren Armeekorps, Amerikaner mit mehreren Divisionen, Engländer und Kanadier drangen damals in den russischen Fernen Osten und in Sibirien ein. Die ungeheure Weite des sibirischen Raumes, die Unwegsamkeit der Urwälder zwang diese'ganze Truppenmacht, sich eng an die sibirische Eisenbahnmagistrale zu klammern. Ohne daß die Japaner, welche das größte Truppenkontingent gelandet und eigentlich beabsichtigt hatten, den russischen Fernen Osten dauernd zu erwerben, je eine Schlacht verloren hatten, waren sie doch nach drei Jahren so zermürbt, daß sie die Räumung des russischen Territoriums beschlossen. Dabei wurde der damalige Krieg nach merkwürdigen Regeln geführt. Keiner der beiden Gegner zerstörte nämlich die Eisenbahn. Heute würde die Sowjetarmee auf einem erzwungenen Rückzug bestimmt die Eisenbahnmagistrale durch Sibirien gründlich zerstören. Was für katastrophale Schwierigkeiten die westlichen Truppen in Sibirien dann hätten, kann man sich kaum ausmalen. Damals bildeten sich die Partisanentruppen aus der einheimischen Bevölkerung, unvorbereitet, improvisiert. Heute hat der rote Generalstab reichlich Zeit und Mittel, um in die Taiga rechtzeitig Reservearmeen zu legen.

Nach den Erfahrungen Napoleons und Hitlers, nach den eigenen Erfahrungen der Amerikaner 1918/19 hat der Westen überhaupt eine weitgehende Scheu, sei es in Europa oder in Asien, in den großen russischen Raum einzudringen. Eine der Kampfmethoden ist, von außen her das gesamte sowjetische Gebiet mit nuklearen Waf* fen zu bombardieren, um auf diese Weise den Gegner niederzuringen. Es gab ursprünglich sogar einen Plan, rings um die Sowjetunion einen sogenannten toten Gürtel zu legen, aus welchem die Bevölkerung evakuiert '■' werden sollte trrid, von dem aus eine lückenlose' -Bombardierung des gesamten Sowjetgebietes hätte erfolgen können. Die realistischere Verwirklichung dieser Idee sind die amerikanischen Stützpunkte rings um die Sowjetunion, aus amerikanischer Sicht zweifellos eine militärisch richtige Maßnahme. Doch seitdem die Sowjetunion selber nukleare Waffen besitzt, ist es fraglich, ob man damit allein zum Ziel kommt. Hier spielt nun der europäische Kriegsschauplatz eine große Rolle. .

Europa würde in einem dritten Weltkrieg Neben kriegsschauplatz sein. Doch der westliche Teil Europas zählt etwa 300 Millionen Einwohner und stellt ein sehr ausgedehntes Gebiet dar, also einen gewaltig großen Nebenkriegsschauplatz. Wenn hier auch strategisch nichts entschieden wird, so kann dieser Kriegsschauplatz derart große Kräfte absorbieren, daß der Gegner so geschwächt ist, daß seine Niederrin gung durch frische amerikanische Kräfte leicht möglich wird. Gelingt es, die Russen zu zwingen, in Europa nachhaltig zu kämpfen, große Verluste an Menschen und Material zu erleiden, später gewaltige Anstrengungen machen zu müssen, um die eroberten Gebiete zu halten, dann kann der Krieg auch vom Wester gewonnen werden. Es geht dieser Konzeption darum, sowjetische lebendige Kraft auf dem europäischen Kriegsschauplatz zu binden.

Hier auf dem europäischen Kriegsschauplatz wird dadurch die Rolle der neutralen Alpen zu einem wichtigen Faktor. Strategie und Ideologie sind zwei grundverschiedene Dinge. Der geographische Faktor hängt von keiner Ideologie ab. Mit Ideologien lassen sich auch keine Berge verschieben. Will man die reale Situation klar erkennen, muß jede Ideologie beiseite gelassen werden. Wie die wirkliche Lage ist, zeigt schon die Tatsache, daß die neutralen

Alpen, vom Neusiedler See bis zum Genfer bee, Westeuropa, das Operationsgebiet der Nato, in zwei Teile teilt. Die neutrale Schweiz und das nun auch neutrale Oesterreich stehen dem direkten Verkehr zu Lande und in der Luft zwischen Norden und Süden der Nato im Wege. Indessen darf dieser Faktor auch wiederum nicht überschätzt werden. Im Kriegsfalle würde ja die Versorgung für Südeuropa und das Mittelmeergebiet von den westlichen Alliierten nicht vom Norden her kommen, aus dem Kampfgebiet, sondern über den Atlantik, Spanien und Gibraltar. Die strategische Bedeutung der neutralen Alpenkette liegt vor allem in der Tatsache, daß das wichtigste Hindernis auf dem Vormarsch der Sowjetarmee aus dem Kampfe gewissermaßen ausgeklammert wird. Die Nato hat alles Interesse daran, daß die Russen um Europa solange wie möglich kämpfen und sich dabei erschöpfen. Die Sowjets haben wieder Interesse daran, die Entscheidung auf dem europäischen Kriegsschauplatz so rasch wie möglich und mit möglichst geringen Verlusten herbeizuführen. Die Sowjets haben kein Interesse daran, um die Alpen zu kämpfen. Stehen jedoch sowjetfeindliche Truppen in den Alpen, so müßten sie gestürmt werden, denn unmöglich können vordringende sowjetische Armeen intakte feindliche Kräfte, dazu noch durch das Gebirge geschützt, in der eigenen Flanke dulden. Die Nato hat jedoch alles Interesse, daß möglichst viele russische Truppen in den Bergen sich binden.

Trotz aller Ideologie ergibt sich daraus, ob man es will oder nicht, daß die Neutralität der Alpen in das Konzept des russischen Generalstabes paßt. Damit erklärt sich auch ein gut Teil der europäischen Politik des Kremls. Es war ihm wichtiger, daß die österreichischen Alpen neutral werden, als daß ihre Truppen in der niederösterreichischen und burgenländischen Ebene verbleiben. Daher der Abschluß des Staatsvertrages und die weitgehenden Konzessionen an Oesterreich. Sie stärkten damit auch die schweizerische Neutralität, denn dadurch entstand ein einheitlicher neutraler Block mit über 12 Millionen Menschen als Kriegspotential. Vor allem bildet das neutrale Oesterreich im Kriegsfall auch einen wirtschaftlichen Korridor, welcher der Schweiz auch den Verkehr mit dem Osten erlaubt und damit einen allfälligen wirtschaftlichen Druck vom Wester her abschwächt. Die westliche Publizistik behauptet, daß die Sowjets auch ein neutrales Deutschland anstreben. Davon ist in der sowjetischen Literatur nichts zu bemerken. Der Kreml strebt kein neutrales, sondern ein vorübergehend bündnisfreies Deutschland an. Und auch das nicht einmal unbedingt. Das Ziel der Sowjetpolitik geht nämlich über Deutschland hinaus. Die Sowjetpolitik erstrebt, daß ganz Europa neutral bleibt, mit den neutralen Alpen als festem Kern. In diesem Falle würden die USA sich entweder genötigt sehen, mit der Sowjetunion zu einem langfristigen Einvernehmen zu kommen oder aber würden in einem russisch-amerikanischen Krieg die sowjetischen Chancen gewaltig steigen.

Für die neutralen Staaten Schweiz und Oesterreich ergibt sich daraus zwangsläufig die Notwendigkeit, einen kühlen Kopf - zu bewahren und in der Frage der militärischen Neutralität sich nicht von Ideologien beeinflussen zu lassen. Es ist gefährlich, Gefahr für Oesterreichs Neutralität nur aus dem Osten kommen zu sehen. Die Ueberfliegung neutralen österreichischen Gebietes, trotz anerkannter Neutralität, schon zu Friedenszeiten zeigt zudem deutlich, daß im Kriegsfall alles möglich ist. Die neutralen Staaten haben die historische Pflicht, schon in Friedenszeiten nach allen Seiten wachsam zu sein, mit allen Möglichkeiten zu rechnen und alles zu unterlassen, was bei dem einen oder anderen der potentiellen Kriegsgegner Mißtrauen in dem Verteidigungswillen erwecken könnte. Sie dürfen niemanden ermutigen, die Neutralität zu verletzen, so daß diese Macht glaubt, das risikolos unternehmen zu können, und sie dürfen beim anderen potentiellen Gegner nicht den Eindruck erwecken, daß sie deren Feind ins Land hereinlassen könnten.

Es erhebt sich nun die ideologische Frage, ob in einem zukünftigen Weltkrieg Neutralität moralisch noch gerechtfertigt ist. Dar-. auf ist zu antworten, daß noch nie in der Geschichte ein Volk freiwillig für ein anderes sich aufgeopfert und verblutet hat. Die westlichen Mächte haben zum Beispiel erst dann gegen Hitler gekämpft, als er ihre eigenen Lebensinteressen bedrohte. Die Vereinigten Staaten traten erst dann in den Krieg ein, als sie überfallen wurden. Norwegen, Dänemark, Holland und Belgien wären am liebsten den ganzen Krieg über neutral geblieben. Wenn die beiden neutralen Alpenstaaten ihre wohl erworbene Neutralität freiwillig aufgeben würden, so wäre das absolut kein Idealismus, sondern ein tragischer Irrtum.

Viele Gegner der Neutralität der beiden Alpenstaaten argumentieren damit, daß, wenn in einem zukünftigen Weltkrieg der Osten siegen würde, auch das Schicksal dieser Staaten furchtbar wäre. Das ist eine Fehlspekulation. Was am Ende eines so furcht-barenKriegesseinwürde, daskann niemand voraussehen. Es hat gar keinen Sinn, heute schon sich darüber Gedanken zu machen. Die Geschichte der Schweiz widerlegt solche Spekulationen. In den 150 Jahren, seitdem die schweizerische Neutralität völkerrechtlich anerkannt ist und nicht verletzt wurde, gingen in Europa mehrere bjutige Kriege vor sich, auch ideologisch ausgerichtete. Die Ideologien kamen und vergingen, Staaten lösten sich auf und es bildeten sich neue, doch die Schweiz und ihre Neutralität bestanden weiter.

Die Neutralität der beiden ATpenstaaten ist eine historische Mission. Wenn sie sie verteidigen und stark ausbauen, so dienen sie damit dem Frieden und erschweren den Krieg. Das ist bereits eine genügende moralische Begründung für diese Neutralität.

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