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Rüstung und Reform

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Die Eidgenossen seien „liberi e armatissimi“, schrieb seinerzeit Machiavelli. Des Diktums erster Teil bildet nach wie vor einen Gemeinplatz der europäischen Völkerkunde. Daß der folgende Superlativ noch gültig sei, wird man heute nicht mehr unbesehen zu behaupten wagen.

An Feldtruppen umfaßt die schweizerische Armee 9 starke Divisionen und 6 Spezialbrigaden; regional gebunden sind 11 Grenz-, 3 Fe- stungs- und 3 Reduitbrigaden; Territorial truppen (die älteren Wehrpflichtigen) und Hilfsdienste aller Art ergänzen das System. Es sind ungefähr 450.000 Mann, die sich in diesem Rahmen mobilisieren lassen, gegen 9 Prozent der gesarn-

ten Bevölkerung also, welche Vergleichszahl nirgendwo in Europa erreicht wird. Belegt dies auch aufs beste den Wehrwillen, so besagt es doch gar nichts über den Ausbildungsstand und die Schlagkraft der Armee.

Nun ist zwar Landesverteidigung heutzutage nicht nur und nicht einmal in erster Linie eine militärische Angelegenheit. Aus dieser Ueber- legung heraus ist auf Anfang 1959 ein besonderer Landesverteidigungsrat ins Leben gerufen worden, dessen 26 Mitglieder, rekrutiert aus leitenden Persönlichkeiten, die Verteidigungsmaßnahmen in allen wichtigen Bereichen des schweizerischen Lebens koordinieren sollen. Dieses Gremium ist nicht zu verwechseln mit der Landesverteidigungskommission, dem beratenden Organ des Militärdepartements, aus Parlamentariern und hohen Offizieren zusammengesetzt, die sich mit allen Fragen des eigentlichen Wehrwesens befassen.

Bewaffnung und Ausbildung verstehen sich als Funktion dessen, was man als notwendig erkannt hat. Was aber notwendig sei, darüber streiten sich die Schweizer seit Jahren, und Einigkeit herrscht nur in wenigen Grundsätzen, hauptsächlich aber in der Auffassung, daß der derzeitige Stand nicht genügt, eine Erkenntnis, die in den Erfahrungen aus dem Koreakrieg und im technischen Fortschritt der Rüstungsmittel gründet. Ebenso alt wie die Erkenntnis sind die Reformversuche; keiner davon ist bisher über Stückwerk hinausgediehen.

Zu Beginn dieses Jahres erschien auf dem Tisch des Bundesrates ein neuer Plan zur Gesamtreorganisation der Armee, von seinen Urhebern „Grünbuch“ genannt. Die für helvetische Verhältnisse ungewohnte und im übrigen an Vorkriegszeiten gemahnende Titelmagie brachte aber die höchste Behörde wiederum nicht dazu, das Ding mit Schuppen und Gräten zu schluk- ken: Ende April gab das Bundeshaus bekannt, das Farbbuch sei „zur Ausarbeitung einer Alternativlösung“ wieder an die Landesverteidigungskommission zurückgegängen. Offensichtlich hatte der Bundesrat gar nicht an der militärischen Konzeption herumgemäkelt, sondern an den Kosten, welche in der „Alternativlösung“ dem Vernehmen nach um ein Viertel zu senken wären.

Kosten… da liegt der Hund begraben. Ueber die jährlichen Militärausgaben hinaus sollte anscheinend der erste Reformplan gegen 2000 Millionen Franken verzehren; die Forderungen des „Grünbuches“ hätten sich auf 1600 Millionen belaufen, und ihrer 1200 scheint der Bundesrat für tragbar zu halten. Vergleichsweise erwähnen wir, daß die militärischen Aufwendungen im Jahre 1958 eine Milliarde Franken überschritten haben, obwohl bei der mühsamen Neuordnung der Bundesfinanzen vor einem Jahr den Räten und Stimmbürgern versichert worden war, die obere Grenze werde bei 800 Millionen liegen. Zweifellos wird die sozialistische Partei im kommenden Herbst, im Kampf um die Nationalratswahlen, diese Diskrepanz ausgiebig beleuchten, und weil auch viele Bürger in anderen Lagern sich angesichts dieser Entwicklung am Kopfe kratzen, begreift sich die Haltung des Bundesrats, welcher sich schließlich weniger um die militärische Konzeption als um ihre finanziellen und wirtschaftlichen Folgen zu kümmern hat. Ob allerdings die Kosten eines solchen Vorschlages beliebig zu kürzen sind, ohne auch das Gesicht des Reformplanes zu verändern, steht noch dahin. Bundesrat Chaudet hat angekündigt, die Kostendeckung sei jedenfalls nicht im Rahmen der Bundesfinanzordnung zu suchen, was den Schweizern ein neues Gesetz über neue Abgaben in Aussicht stellt, nebenbei aber auch heißt, daß die Sozialisten, die mit einiger Wahrscheinlichkeit auf das Jahr 1960 zwei Bundesräte stellen werden, bei diesem Vorhaben mittun und die Verantwortung mittragen müssen.

Was in den letzten Tagen über die großen Züge der neuen Truppenordnung zu erfahren war, fassen wir zunächst in Gruppen und Stichworten zusammen.

Die Grundlagen: Bewaffnete Neutralität, allgemeine Dienstpflicht, Milizsystem.

Die Ziele: Kriegsgenügen der Armee ohne Hilfe von außen, Verteidigung des größtmöglichen Territoriums.

Die Mittel: Stärkere Bewaffnung, größere Beweglichkeit, Verstärkung des Geländes, Verbesserung der Luftwaffe und der Fliegerabwehr.

Wir finden also bekräftigt, daß sich die Schweiz weiterhin von allen Bündnissen fernhalten wird, die ein militärisches Engagement mit sich bringen könnten; es läßt sich in keine; Weise etwa ein Anschluß an die NATO oder ein Verteidigungspakt mit anderen Neutralen lies Oesterreich, erwägen. — Ferner wird nur klipp und klar festgestellt, daß es auf lange Sicht hinaus in der Eidgenossenschaft keiner Armeekern von Berufssoldaten irgendwelche; Spezialwaffen geben wird. Die Ausbildungszeiten (viermonatige Rekrutenschulen, Wiederholungskurse in bestimmten Intervallen) werdet auch angesichts der fortschreitenden technischen Ansprüche als genügend erachtet. Für die Spezialwaffen soll bei der Aushebung gesorgt werden, indem darein nur Leute aufzunehmen sind, die sich genügend vorgebildet und geeignet zeigen. Ueberdies vertraut man auf die freiwillige außerdienstliche Aus- und Weiterbildung.

Daß als Ziel der Truppenordnung das „Kriegsgenügen der Armee ohne Hilfe von außen" expressis verbis festgehalten wurde, dient jenen Leuten zur Antwort, die hartnäckig am Verdacht festgehalten haben, die Schweizer würden, ungeachtet all ihrer Paradephrasen über Neutralität, doch ihr Wehrwesen so einrichten, daß im Ernstfall ihre Truppen jene der NATO ergänzen würden und leicht mit ihnen zu koordinieren wären, daß beispielsweise einige Panzer und Flugzeuge lediglich zu Paradezwecken angeschafft würden, im Vertrauen darauf oder gar auf Grund geheimer Abmachungen, die westlichen Mächte sorgten gegebenenfalls für das Fehlende.

Daß die Schweiz allein angegriffen würde, ist undenkbar. Also muß ein Angriff selbstverständlich zur Zusammenarbeit mit jenen Mächten führen, die den gleichen Gegner haben. Solches in Rechnung zu stellen, ist wie überall Arbeit des Generalstabes, welcher eben nicht über das Ausmaß der Kriegsmittel zu befinden hat, sondern über die Möglichkeiten, das, was in seine Hände gelegt ist, anzuwenden.

Für die Schweiz können sich in absehbarer Zeit nur zwei Kriegslagen ergeben: Falls russische Truppen die europäischen Streitkräfte der NATO zu vernichten suchten, könnte es ihre Führung aus strategischen Gründen für wünschbar halten, schweizerisches Territorium zu besetzen; andernfalls ließe sich denken, daß ein russische Vorstoß daran vorbeiführte, der eidgenössischen Neutralität gewiß, um nachher gestört, erledtgen zu. kpqnen. . Für beide„Fäll? gilt dasselbe Ziel, sowenig Gebiet wie möglich preiszugeben. Indessen sind nicht in beiden Lagen die gleichen Mittel gleicherweise dienlich: handelt es sich hier darum, den Feind daran zu hindern, seine über die Schweiz hinausgesteckten Ziele zu erreichen, indem eine möglichst große Zahl seiner Truppen so gebunden und geschwächt würde, daß schon das Vorhaben unrentabel erschiene, so heißt es dort, sich solange zu wehren, als es irgend angeht, zuletzt in den Festungsanlagen der Alpen, im „Reduit", während ein Rückzug auf diese Stellungen beim direkten Angriff nicht in Frage kommt, um nicht dem Feind in seinen Plänen geradezu freie Hand zu lassen.

Welcher Fall als wahrscheinlicher zu betrachten und auf welche Waffen demzufolge mehr Gewicht zu legen sei, hat nun seit Jahren die öffentliche Meinung stark beschäftigt. „Dynamisch" und „statisch" hießen die Losungen im Streit, wobei die Anhänger der beweglichen Kriegführung verlangten, es müßten sehr bewegliche, schwer gepanzerte Heereseinheiten von großer Feuerkraft geschaffen werden, während die Statiker das Heil in der Bildung vieler kleinerer, selbständiger Kampfverbände von Kommandocharakter erblickten, welche vor allem zur Panzer- und Luftabwahr vorzüglich auszurüsten wären. Offenbar soll jetzt versucht werden, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen, dies immerhin unter deutlicher Betonung des dynamischen Prinzips; soviel lassen die bundesrätlichen Auskünfte erkennen. Wir rechnen mit der. Aufstellung von zwei, drei starken, vollmotorisierten, gepanzerten Stoßverbänden, was die Anschaffung von mindestens 200 Panzern und ebenso vielen Kampfflugzeugen über die bisherigen Bestände hinaus erforderlich macht.

Auf welchem Wege die Panzer und Flugzeuge beschafft werden sollen, wird allerdings der Landesverteidigungskommission, der kriegstechnischen Anstalt und den eidgenössischen Räten noch sehr viel Kopfzerbrechen verursachen, wenn man bedenkt, daß die Schweiz mit der Eigenentwicklung von Kampfflugzeugen geradezu abenteuerliches Pech hatte und vom Prototyp des Panzers eigener Fabrikation noch nicht mehr bekannt ist, als eine aus respektvoller Distanz aufgenommene Photographie zeigt, wenn man ferner bedenkt, daß die Großmächte nicht darauf versessen sind, Kleinstaaten ohne politische Gegenleistungen mit Fabrikationslizenzen ihrer neuesten Typen zu versehen und auch Verkäufe von Kriegsmaterial nicht eben nach kommerziellen Gesichtspunkten behandeln.

Unklar bleibt vorläufig, in welchem Ausmaß zukünftig die schweizerische Armee mit Raketenwaffen ausgestattet werden soll. Hier bildet die Beschaffung kein Hindernis, weil die Industrie des Landes durchaus in der Lage ist, auch große, ferngelenkte Waffen in ausgezeichneter Qualität zu liefern; sie wird ebenfalls das übrige Kriegsmaterial zum großen Teil selber entwickeln und herstellen.

Wir haben absichtlich bisher von Nuklearwaffen nicht gesprochen, deswegen nämlich, weil diese Frage die neue schweizerische Trup-

penordnung nicht berührt. Die grundsätzliche Entscheidung, ob Kernwaffen zu seiner Verteidigung überhaupt verwendet werden dürften, wird das Volk in einer Abstimmung selber fällen, wohl im Frühling des nächsten Jahres. Wie der Entscheid ausfallen wird, läßt sich zwar ohne besondere Sehergabe voraussagen; denn kam die Initiative zur Volksbefragung auch von sozialistischer Seite, so läßt sich doch nicht überhören, was Robert Bratschi, der bedeutendste sozialistische Politiker der Schweiz, erklärte: Es gelte bereit zu sein, wenn nötig auch bereit zu sein mit Waffen, von denen wir aus tiefstem Herzen und mit der ganzen Kraft unserer Seele wünschen, daß sie nie eingesetzt werden müssen“.

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