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Pakte, Takte, Katarakte

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Man hört in diesen Tagen manchmal, daß, während die nordatlantische Paktorganisation im Verblassen sei, das Gestirn der Vereinten Nationen mit erhöhter Leuchtkraft am politischen Firmament aufsteige. Soll dies eine poli-' tische Momentaufnahme sein, die nach Bruchteilen von Sekunden gemessen wird, mag das Bild hingehen. Will man jedoch mit solchen Worten den Beginn einer Entwicklung andeuten oder die These vertreten, daß die verschiedenen Pakte von Bagdad bis Warschau und von SAETO bis NATO der Wirksamkeit der UNO entgegenstehen, so beweist man nur, daß man weder die Anatomie des Friedens noch die Struktur des Untergangs analysiert hat.

Befassen wir uns zunächst für einen Augenblick mit den Erfolgen der UNO. Ganz greifbare Erfolge, wurde doch auf ihr Geheiß der Kampf am Suezkanal eingestellt, ziehen auf ihr Geheiß Briten, Franzosen und Israelis ihre Truppen zurück, eilen auf ihr Geheiß Männer der verschiedensten Nationen nach Aegypten, um unter der Standarte der Weltbehörde Kriegsdienst zu tun. So weit, so gut. Freilich ist all dies zunächst nur eine Symptombehandlung. Kein Streitpunkt wurde bislang gelöst, keine gestaltende Kraft wird fühlbar. Schlimmer noch: Die Kristallisationspunkte für zusätzliche, endlose Streitigkeiten sind bereits leicht zu erkennen. Ist nicht etwa Nassers Beharren, sich mit Großbritannien und Frankreich im Kriegszustand zu befinden, ein böses Omen? In diesem Schwebezustand zwischen Waffengeklirr und gelegentlichen Friedensdeklamationen besitzt der ägyptische Diktator schon eine jahrelange Erfahrung, und die Welt braucht nicht lange zu forschen, was er jetzt damit im Sinne führt: England, Frankreich und Israel soll die Passage durch den Kanal verwehrt bleiben, ehe sie nicht eine Entschädigungssumme gezahlt haben, die den Diktator des Nillandes wieder für eine Zeit lang solvent machen würde. Wird das Palais Bourbon, das Haus von Westminster, der jüdische Knesset, diese Summe bewilligen? Wohl kaum. Das ist nur eines der vielen Probleme. Ein zweites ist etwa, daß die arabischen Waffenkäufe im Osten weitergehen werden und damit die Vorbereitungen für die „dritte Runde“ gegen Israel, von der man jetzt in Kairo immer unverhüllter spricht. Noch immer weiß man nicht mit letzter Klarheit, was Hammarskjöld mit Nasser vereinbart tat; wenn“ es aber' richtig ist. daß Nasser die UNO-Truppe nach eigenem Ermessen wieder heimschicken darf, so wird sie nicht viel mehr als das Schild gewesen sein, hinter dem der auf Israel gerichtete Bogen gespannt werden konnte.

Die bisherigen UNO-Erfolge sind also etwas problematischer Natur. Soll man Hammarskjöld, diesem nie verzagenden, nie ruhenden Mann deshalb zürnen? Wohl kaum; der Generalsekretär der LINO hat wie ein Arzt gehandelt, der zunächst ein böses, gefährliches Fieber zum Abklingen bringt. Dieses Fieber mag ein Symptom, nicht die Krankheit selbst sein, wenn der Patient an seiner Heftigkeit stirbt, ist der Unterschied etwas akademischer Natur. Was aber ist dann die tiefere Ursache all des aufgestauten Unheils im Nahen Osten, all der aufgestauten Unruhe in Europa? Die tektonischen Gründe des nahöstlichen Bebens sind leicht zu erkennen: Zwischen der britisch-französischen Macht mit ihren überlegenen geographischen Voraussetzungen und der russischen Macht mit ihrem überlegenen Potential, hat sich ein Kräftegleichgewicht eingespielt; jede Gruppe verhindert die andere mit knapper Not daran, den nahöstlichen Raum machtmäßig auszufüllen. Daher hat sich für Vabanquespieler vom Schlage Nassers ein weites Manöverfeld aufgetan, eine „kaiserlose“ Zeit ist angebrochen, in der es, wie eh und je, möglich scheint, die alten Ordnungsprinzipien — Wirtschaftsvernunft, friedliches Zusammenleben, Achtung vor Konvention und Uebereinkommen — gering zu achten.

Nun muß dieses nahöstliche Kräftedispositiv noch in den weltweiten Rahmen gestellt werden. Hier haben wir Rußland auf der einen Seite, ein Land im Umbruch, eine Großmacht mit absterbender Ideologie und einer aufstrebenden Gesellschaftsschichte, ein Volk, dessen Geschicke in absehbarer Zeit 'von jenen jungen Männern geformt werden, die heute, bleich und sichtlich verstört, in Ost-Berlin, Polen und Ungarn hinter den Panzerkanonen kauern oder auf der Moskauer LIniversität ihre Skepsis über offizielle Lesarten zu erkennen geben, ein Land schließlich mit einem gewaltigen soziologischen Geschiebedruck, dessen Kräfte man durch die sogenannte „Entstalinisierung“ fassen, wenn nicht gar bändigen wollte. Amerika auf der anderen Seite, prosperierend, dynamisch, sekuritäts-besessen und von heimlicher Krieg- und Lintergangsangst geschüttelt, Amerika, das von einem <“'staltt!n<'“\'>rmen Prs?Menfen pefflhrt wird und dessen Außenpolitik in einzelne Stücke zerbrochen ist, die niemand zusammenzufügen imstande zu sein scheint. Wie riesige Isolatoren am Weltenhimmel aber die Organisation der UNO, bestimmt, zu verhindern, daß die Entladung zwischen den Polen LISA—UdSSR die Kettenreaktion des Untergangs auslöst. •

Wie funktioniert, global gesehen, die LINO? Die politische Bewegung, der ideologisch grundierte Territorialkampf kommt niemals zum Stillstand, Vorstöße werden unternommen, Risken ins Kalkül gestellt und gegen schwache Stellen und Bruchlinien der Abwehrfiont Vorstöße angesetzt. Es kommt zum Einsturz ganzer Systeme, wie die Auflösung demokratischer Lebensformen im Satellitenraum, zur Zurückdrängung von Infiltration und Aggression wie in Griechenland, zu einem Ausspielen der Großplanung gegen die Drohung wie bei der Berliner Blockade und zu einem Aneinanderwuchten und Messen der Blöcke wie im koreanischen Krieg. Dort, wo die Sowjetunion in der ihr stillschweigend zuerkannten Machtsphäre sich kaltblütig über die Satzungen der Charta hinwegsetzt — Ungarn ist nur das letzte, brutalste Beispiel, schon das, was sich vorher zwischen Baltikum und Schwarzem Meer abspielte, war weder mit den Friedensverträgen noch mit den UNO-Prinzipien vereinbar —, erweist sich die Weltorganisation als machtlos. Aber auch dort, wo die USA, deren Ziele allerdings mit den Idealen der Humanität nicht unvereinbar sind, ihren Willen hart und deutlich bekundet, zählt die Einstellung der Mehrheit der UNO-Mitglieder — siehe die Aufnahme Rotchinas in die Weltorganisation, für die zweifelsohne eine massive Mehrheit eintreten würde — nicht allzu viel. Dort aber, wo sich die Blöcke gegenüberstehen und es plötzlich wichtig erscheinen könnte, Vorsprünge abzubauen, allzu gefährlich gewordene Positionen zu liquidieren oder „Frontbegradigungen“ propagandistisch abzuschirmen, erfüllt die UNO als Versicherungsinstitut gegen weltgeschichtliche Risken, als Tauschzentrale der Konzession und Drehscheibe von Ausgleichskombinationen ihre Rolle. Aber auch die Lösungen, die in ihrem Rahmen getroffen werden, basieren letzten Endes auf der Einschätzung realer Kraftverhältnisse; die UNO ist nur eine Art Oberbau der Macht, nicht ihr Ersatz, zweifelsohne könnte sie eine radikale Veränderung des gegenwärtigen Gleichgewichtes nicht lange überleben. Die UNO kann, um es mit anderen Worten auszudrücken, nur dann wirklich funktionieren, wenn Sowjetrußland und die von ihm vorgeschickten Satelliten und Trabanten ständig durch die zusammengefaßte Kraft des Westens auf den Verhandlungsweg abgedrängt werden. Die Behauptung, daß man UNO-Politik auf Kosten der NATO-Politik betreiben könnte, ist daher ebenso überzeugend wie der Gedankengang, daß man sein Bankkonto durch ständige Abhebungen vergrößern würde. Für die Vereinigten Staaten in ihrer großen Kraftfülle mag es für den Augenblick ein bestechender Gedanke sein, reine UNO-Politik zu betreiben. Da aber ein solches Vorgehen zweifelsohne gewisse europäische Staaten zu einem Ausgleich mit Rußland um beinahe jeden Preis zwingen würde, könnte die Mehrheit in der Weltorganisation, auf die die USA jetzt mit soviel Sicherheit zählt, schon beim nächsten Anlaß dahinschwinden; man stünde dann allein, außerhalb der Bündnisse und außerhalb der UNO.

Hält man sich also vor Augen, daß jede Situation von den Sowjets zunächst rein machtmäßig durchdacht und in einer Art Kriegsspiel analysiert wird, so gelangt man, auch was Ungarn und die Verflechtung seines Schicksals mit dem Suezabenteuer anbelangt, zu neuen Einsichten. Man muß sich nämlich folgende Frage stellen: Hätte nicht unter Umständen die Intervention im Nahen Osten und die sich für die Sowjetunion daraus ergebende Notwendigkeit, bedeutende Kräfte bereitzustellen, um allen Eventualitäten gewachsen zu sein, dem Kreml ein Einlenken in Ungarn ratsam erscheinen lassen können? Diese Frage muß, rein theoretisch, bejaht werden, ist doch die Abriegelung eines Gefahrenherdes auf dem Kompromißweg eines der üblichsten Tricks einer in ihren Mitteln überforderten Großmacht. Tatsache ist natürlich, daß Sowjetrußland in seinen Mitteln keinesfalls überfordert war, da die NATO-Organisation die seinerzeit in Lissabon gesteckten Ziele nie verwirklicht hat, man mit jedem Düsenjäger, jedem Radargerät, vor allem aber mit jedem Soldaten knauserte und obendrein von der USA aus noch durch das unsinnige Durchsickern-Lassen des Radford-Planes den wehrbereiten Kreisen Deutschlands in den Rücken fiel. Erst unter dieser Voraussetzung wurde die Auslösung der Suez-Intervention für den ungarischen Freiheitskampf zu einer Belastung, da man zur gleichen Zeit das große moralische Potential des Westens reduzierte und sein ohnedies kleines ' 'ilitärpotential ungebührlich strapazieren mußte.

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