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Warum nicht sozialistisch?

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Seit dem 10. Oktober 1971 ist in der österreichischen Innenpolitik ein Tabu entstanden, um dessen Aufrechterhaltung sich Teile der politischen Publizistik eifrig bemühen: zu vermeiden ist demnach der Gebrauch des Eigenschaftswortes „sozialistisch“ im Zusammenhang mit Österreich, Regime in Österreich, Bundesregierung. Es soll demnach zugehen, wie im Märchen vom Rumpelstilzchen: Ach, wie gut, daß niemand weiß, daß ich sozialistisch heiß. Dieses Tabu wird im Sinne einer angeblich „ideologiefreien“ Sachgerechtigkeit quasi wissenschaftlich fundiert: Eigenschaftsworte wie „sozialistisch“ haben nach dieser Meinung in ihrer Formelhaftigkeit in verschiedenen Situationen eine verschiedene Bedeutung; in Österreich zum Beispiel eine ganz andere als in einer „sozialistischen“ Volksrepublik; sie machen keine Unterschiede, sie verwischen sie nur.

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Seit dem 10. Oktober 1971 ist in der österreichischen Innenpolitik ein Tabu entstanden, um dessen Aufrechterhaltung sich Teile der politischen Publizistik eifrig bemühen: zu vermeiden ist demnach der Gebrauch des Eigenschaftswortes „sozialistisch“ im Zusammenhang mit Österreich, Regime in Österreich, Bundesregierung. Es soll demnach zugehen, wie im Märchen vom Rumpelstilzchen: Ach, wie gut, daß niemand weiß, daß ich sozialistisch heiß. Dieses Tabu wird im Sinne einer angeblich „ideologiefreien“ Sachgerechtigkeit quasi wissenschaftlich fundiert: Eigenschaftsworte wie „sozialistisch“ haben nach dieser Meinung in ihrer Formelhaftigkeit in verschiedenen Situationen eine verschiedene Bedeutung; in Österreich zum Beispiel eine ganz andere als in einer „sozialistischen“ Volksrepublik; sie machen keine Unterschiede, sie verwischen sie nur.

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Bruno Kreisky, anerkannter Sieger vom 10. Oktober 1971, hält von derlei Tabus wenig. Er disqualifiziert einen Gegenkandidaten mit dem von der Neuen Linken geprägten Ausdruck „faschistoid“; und er setzt sich damit anscheinend durch. Er erklärt mit erhobenem Zeigefinger, was oder wer „demokratisch“ ist und wer und was nicht; und das wird vielfach kommentarlos abgedruckt. Er gebraucht das Eigenschaftswort „konservativ“ im unrichtigen Sinn als rückständig und riskiert in der Diskussion mit Karl Sčhleinzer die Gegenfrage, ob der so gemeinte Typ nicht eher auf die SPÖ zutrifft.

Die offizielle Wahlwerbung der SPÖ vermied in jüngster Zeit derlei „traditionelle“ Unterscheidungsmerkmale für politische Ziele, Methoden und Typen. Ja, sie unterdrückte sogar an prominenter Stelle den zeitgemäßen Ausdruck „progressiv“, um dafür das Wort „modern“ in ihr Image zu montieren. Das paßte recht gut zu der Oberflächlichkeit jener Wald-und-Wiesen-Plakat-Wer- bung 1971. Denn mit „modern" wird eines der zugkräftigsten und unverbindlichsten Motive des Kundenfangs umschrieben: damit ist nichts über die Qualität gesagt, nichts über die Angemessenheit des Preises.

Jetzt, da Wähler geworben werden wie Laufkunden, nehmen die Wähler mit in Kauf, daß das, was heute „modern“ ist, in jener Zukunft, von der vorwiegend die Rede ist, schon un-modern sein wird. Und wie in Sachen Kleidermode, wird auch im Politischen das Diktat einzelner Modezaren der Image-Fabrikation befolgt; das Eigentümliche wird charakterlose Konfektionsware; die Laufkunde ist König. Färber und Farbverkehrer haben Konjunktur.

Sozialismus und Demokratie

Um die versuchte Tabuisierung des Wortes „sozialistisch“ kümmern sich vor allem jene Österreicher nicht, die es mit der fortdauernden Erwartung: Sozialismus das Ziel, Demokratie der Weg, ernst nehmen. Noch wichtiger ist die im neuen Programm der SPÖ vorgenommene

Identifizierung von Sozialismus und Demokratie: Sozialismus ist die Übertragung der Demokratie vom Gebiet der Politik auf das der Wirtschaft. Ein unterscheidbares Programm, das der ÖGB, wenigstens dessen sozialistische Fraktion, vor, am und nach dem 10. Oktober 1971 richtig transparent gemacht hat.

Um aber mit der Problematik einer willkürlichen Tabuisierung von Teilen des Politischen fortzufahren:

Unlängst wurde die in Fragen des Pressewesens eher als rückständig qualifizierte Öffentlichkeit unseres Landes belehrt, es gehöre sich für eine fortschrittliche Zeitung, alles zu drucken, that fits to print. In dieser Hinsicht hält Franz Kreuzer, Exchefredakteur der „Arbeiter-Zeitung“, jetzt „der Mann am Schalthebel der Nachrichten des reformierten Fernsehens, dafür, das „irreale Autoritäten“ — gemeint waren Bundeskanzler, Bundesminister usw. der ÖVP-Ära — abzubauen seien.

Jetzt, im Falle des sozialdemokratischen Bundeskanzlers und Frie densnobelpreisträgers Willy Brandt, stellt der journalistische Comment fest, die fragliche Preisverleihung dürfe nicht in „Niederungen der Tagespolitik gezerrt werden“. Sehr zum Ärger gewisser Tabuwächter hat die Bonner Opposition der „Christdemokraten“ nichts verzerrt, sondern gratuliert. Die Jury der Nobelstiftung reflektiert auf einen der umstrittensten politischen Vorgänge, der nicht nur für Deutsche von existenzieller Bedeutung ist. Nach Ansichten, die früher Herr Rudolf Augstein und sein jetziges gouvemementales Magazin „Der Spiegel“ vertraten, läge hier die Voraussetzung für ein „national government“ vor, für die Allparteienregierung, statt der Konfrontation zwischen Regierung und Opposition. Indessen blieb Willy Brandt in der Verstrickung jener kontroversiellen Situation, in der er Mithilfe einer „hauchdünnen“ Mehrheit das Majorzsystem der Bonner Linkskoalition praktiziert.

Hier wird nicht der Beschluß der Jury der Nobelstiftung gescholten und es werden keine anderen Motive als jene einer ideologiefreien Sachlichkeit unterstellt. Indem aber die Jury auf eine unfertige, umstrittene und riskante politische Aktion reflektiert, schafft sie in der ingang befindlichen Auseinandersetzung ein neues, politisch relevantes Faktum. Beweis dafür ist die Tatsache, daß die Tabuwächter das entstandene Politikum mit scheinbar un-politischen Argumenten weg-eskamotie- ren möchten. Zudem sind die dafür gewählten historisierenden Vergleiche meistens hinkend. Denn mit der 1926 vorgenommenen Verleihung des Friedensnobelpreises an den Deutschen Gustav Stresemann und an den Franzosen Aristide Briand konnte die vollzogene Einigung im Sachlichen (Locarnopakt, Eintritt des Deutschen Reichs in den Völkerbund) und die Hoffnung auf ein Ende der „Erbfeindschaft“ von einer für beide Preisträger relevanten Instanz gewürdigt werden. Es ist aber allgemein bekannt, daß das, was heute im Sinne der Pax sowjetica Frieden ist und dem Frieden dient, nicht nach den Kriterien für den Nobelpreis gewürdigt wird,

sondern nach jenen für den Lenin- preis. Und was soll die Beschwörung des Fatums: Einmal Carl von Ossietzky, Friedensnobelpreis 1935, KZ, Verfolgung und Tod — zum Vergleich heute des Phänomen Alexander Solschenitzyn. Einmal „Geist von Locarno“ am Vorabend des Konflikts von Volksfront und Faschismus, heute Generaloffensive der Linken aller Schattierungen in Europa.

Wem nützen Tabuisierungen?

Kehren wir zum Effekt besagter Tabuisierung in Österreich zurück: Nobelpreis für Willy Brandt ist in Ordnung. Im übrigen: tabu.

Wem sollen solche Tabuisierungen nützen? Sie nützen nicht dem Politischen an sich, denn die Entpolitisierung eines politischen Faktums ist eine Perversion. Ein Politikum, das zum Un-politikum gestempelt wird, ist suspekt. Mit solchen und ähnlichen Maßnahmen kommen politische Tatsachen jedenfalls nicht in jener modernen .Klarsichtpackung“ unter die Leute, die bei mangelnder „Transparenz“ eher den

Verdacht haben, daß etwas oder jemand „eingewickelt“ wurde.

Ganz gewiß dienen solche Tabus nicht der besseren Unterscheidbarkeit im Politischen. Und auf die letztere kommt es im Mehrparteiensystem, also speziell im Falle der Konfrontation zwischen SPÖ und ÖVP besonders an. Wir erleben jetzt eine Zwischenphase, in der beklagt wird, daß die FPÖ beim Abbiegen nach „liberal“ die Kurve nicht gekriegt hat; nach dem 14. Bundesparteitag der ÖVP wird deren „liberale“ Variante gesucht und von einigen Kommentatoren gefunden; und in Kreisen der SPÖ mußte die Frage entstehen, wie groß der Abstand im Maximum sein kann, der die moderne Liberalität der Bundesregierung Kreisky von der innerparteilichen Resultante einer geprägten sozialistischen Partei trennt.

Wünschen wir uns bei all dem nicht, Was Wilhelm Röpke, kompetent in Fragen des Liberalismus, vor Augen hatte, als er voraussah, wie sich „ein kompaßloser Liberalismus, der den Sozialisten in interventionistischen Konzessionen den Rang ablaufen möchte, und ein sich klug mäßigender Sozialismus in einem Punkt treffen, wo schließlich nur noch Unterschiede des Grades und der Terminologie zu erkennen sind.“

Ultima Ratio: Majorzsystem

Leopold Gratz hat, wenn ich nicht irre, bei seiner Berufung zur Leitung des SPÖ-Parlamentsklubs die Methode erwähnt, wonach die jetzige sozialistische Parlamentsmehrheit im Umgang mit der Opposition womöglich die Einigung im Sachlichen versuchen wird. Das der Mehrheit zustehende Majorzprinzip soll Ultima ratio werden, wenn die politische Räson des Sozialismus mit jener der Gegner nicht konform sein kann. Diese Methode ist genuin demokratisch. Sie geht, soweit als möglich, konform mit dem in der Paritätischen Kommission statt einer mechanischen Majorisierung gehandhabten „partnerschaftlichen Interessenausgleich“. Mehr, etwa Ersatz des parlamentarischen Majorz- systems durch partnerschaftliche Koordinierung, wäre Einschwenken auf eine kooperative Verfassung im Staate.

Es wäre ein Schlangenrat, der ÖVP den Glauben an das eingangs erwähnte Märchen vom Rumpelstilzchen zuzumuten. Seit dem 10. Oktober 1971 bestehen die früheren kompakten ÖVP-Mehrheiten nur noch in Niederösterreich, Tirol, Vorarlberg, in den Handels- und Landwirtschaftskammern und in einigen Verbänden. Wer angesichts dieser Gewalt der Tatsachen das gane Übergewicht der sozialistischen Dominanz in Österreich verniedlichen, verharmlosen oder verfälschen möchte, reflektiert auf politische Blindheit oder selbstmörderische Naivität der Betroffenen. Man soll den Grad der qualitativen Veränderungen, die am 10. Oktober 1971 bekräftigt wurde, weder überschätzen noch unter- oder verschätzen. Sicher fand nicht einer jener Umstürze, Umbrüche usw. statt, deren es in der neueren Geschichte des Landes zu viele gab; es geschah aber auch nicht bloß das, was sich vor 100 Jahren in England ereignete, wenn im Unterhaus wieder einmal die Mehrheit von den Konservativen an die Liberalen ging. Falsch wäre es, das Ereignis der ÖVP-Alleinregierung 1966 und jenes der SPÖ-Alleinregierung 1970/71 in einer Linie zu sehen. Die Zäsur fand statt, als das Wählervolk nicht länger den staatstragenden Motiven des Politischen den Vorrang gab, sondern den sozialreformatorischen. Die ÖVP verlor Stimmen, aber auch eine Last, der sie zuweilen zuviel Kräfte widmete.

Zum Neuen gehört der neue Typ: Der Bundeskanzler des Jahres 1971 ist weder ein Honoratiorenpolitiker oder bürgerlicher Intellektueller noch ein ent-ideologisierter Technokrat. Er ist ein im Anschluß an die Philosophie des Karl Marx erzogener Denker und Staatsmann; indem er vom Staat her die Gesellschaft ändert, erfüllt er das Prinzip seiner politischen Existenz, die für ihn weder Job noch Mission ist.

Das Neue ist für die ÖVP zugleich Risiko und Chance, weil hier der klassische Fall von Herausforderung und Antwort im Sinne Arnold Toynbees stattfindet. Die Antwortshandlung kann kein Überholmanöver sein; kein anders als die anderen sein wollen; schon gar kein Justamentstandpunkt. Auf die ÖVP fällt jetzt erst recht die Wahrung der drei Fundamente der Persönlichkeit zurück: Vita, Liberias, Pro- prietas. Schon morgen werden darin die Unterscheidungen und Entscheidungen beginnen. Grundsatzpolitik wird mehr als bisher Tagespolitik sein.

Die ÖVP ist nach einem zeitwili- gen Steuergebrechen kein wurmstichiges Orlogschiff, das ins Dock gehört. Wenn schon von Schiffen und Kampf die Rede war: Sie muß sich — wie Churchill 1940, nach Dünkirchen — stellen und handeln.

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