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Kriminalität und Weltanschauung

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Der Kriminelle von heute unterscheidet sich wesentlich vom herkömmlichen Verbrechertyp, also etwa vom stachelbärtigen Spießgesellen, der, „aus besserem Hause stammend, frühzeitig, in, schlechte Gesellschaft geriet und im Laufe der Jahre von Stufe zu Stufe sank", wie man in älteren Kriminälberichten stereotyp lesen kann; oder vom Verbrecher aus proletarischem Milieu, den soziale Konflikte in Gegensatz zum Gesetz und Gesellschaft brachten. Wir kennen —- wenn man vorn Sondergebiet der Jugendkriminalität absieht — eigentlich keinen modernen Verbrechertyp. Dife Menschen, die heute die Strafgefängnisse füllen, kommen aus allen Vermögens- und Gesellschaftsklassen, aus allen Ständen und Berufen. Wir finden das allzeit gewohnte menschliche Strandgut: Fehlerzogene, Erb- belastete, moralisch Widerstandslose, bei denen die verbrecherische Handlung nur den sichtbaren Ausdruck der innerlich längst vollzogenen Absonderung aus der menschlichen Gemeinschaft darstellt. Aber wir treffen heute in den Gefängnissen auch Menschen, die noch eine Stunde vor ihret Tat niemand eines Verbrechens fähig gehalten hätte; deren Lebensbahn keinerlei Distanzierung in den moralischen Anschauungen und im sozialen Empfinden von einer gesunden Lebenseinstellung vermuten ließ, Menschen in Beruf und Ansehen, die, wie man zu sagen pflegt, „es gar nicht notwendig gehabt hätten". Und wir finden richtige Doppelnaturen, die, wie die heute gar nicht seltenen geheimen Bigamisten, zwei gänzlich verschiedenen Lebenskreisen angehörten, zwischen denen sie hin und her wechselten, bis ihnen eines Tages einer der Kreise zur Schlinge würde.

So kann man sich einzelne Figuren von Gestapo; oder KZ-Beamten verständlich machen, die privat empfindsame Menschen vielleicht sogar Kunstjünger gewesen seih mochten, während sie in ihrer dienstlichen Stellung zu jeder iąhumapen Tat bereit waren. Doch auch, die umgekehrten Fälle sind. bekannt: Menschen, die innerhalb der Familie brutal und gemein sind und sich im Beruf von der entgegenkommendsten Seite zeigen.

Es ist also für die , gegenwärtige Lag charakteristisch, daß das Verbrechen von der gesellschaftlichen Grenzsphäre immer tiefer in alle Schichten der sozialen Struktur rückt. „Die Mörder sind unter uns", könnte man sagen. Wir stehen mit ihnen in Reih und Glied in der Alltagsfront des Lebens. Es gibt keine gesellschaftliche Scheidewand mehr zwischen ihnen und uns.

Bezeichnend für die heutige Kriminalität ist. weiterhin die Niedrigkeit und Nichtigkeit der Motive. Pseudoheroische Beweggründe sozialen oder nationalen Ursprungs treten zahlenmäßig zurück hinter ganz primitive Triebhandlungen und der Preis, um den es beim einzelnen Verbrechen geht, ist oft unverständlich gering. So etwa, wenn einer zum Raubmörder wird, um seiner Freundin ein Geschenk kaufen zu können.

Die Bagatellisierung der verbrecherischen Handlung, die sich in diesen Umständen zeigt, kann man aber durchaus nicht bei kriminellen Elementen allein feststellen, denn auch die allgemeine Ansicht über das Verbrechen hat sich gegenüber früher stark geändert. Das Verbrechen wirkt heute in erster Linie als Sensation. Wir werden von ihm erregt, aber nicht mehr in der Tiefe unseres Menschseins getroffen. Wir empfinden es nicht mehr als Ausfluß dämonischen Wirkens, wir sehen in ihm nicht mehr die prinzipielle Verneinung der- Sinnhaftigkeit unseres Daseins, einen Angriff auf die Wesensgrundlage der menschlichen Existenz. Im Gegenteil. Wir suchen es heute immer mehr „menschlich“ zu begreifen.. Es ist in vielen Fällen so, daß sich Interesse und Mitgefühl nicht so sehr dem Opfer als dem Täter- zuwenden. Man sucht die Motive seiner Tat aus der Situation, aus dem Lebensschicksal, aus Erziehung und Erbanlagen Zu verstehen und ist geneigt, über die persönliche Verantwortung des Menschen in jeder Lebenssituation wegzusehen. Das Schicksal wird in erster Linie als Kismet und nicht als-Beruf und Lebensaufgabe verstanden. „Nicht der Mörder, sondern der Ermordete ist schuld." Diese auf Sonderfälle zutreffende Feststellung wird allmählich zur allgemeinen Richtschnur bei der Beurteilung von Verbrechen, in dem man den Täter zum Opfer einzelner Personen, politischer Vorgänge oder bestehender Gesellschaftsverhältnisse stempelt.

Wir sehen uns also heute einer sozialen Generalisierung und einer generellen Abwertung des Verbrechens gegenüber. Es ist klar, daß zwischen beiden Erscheinungen eine direkte Beziehung besteht. Je geringer das Verbrechen an sich und seine individuelle und soziale Bedeutung eingeschätzt,

je menschlicher es gesehen und empfunden wird, desto leichter bricht es sich Bahn. Und umgekehrt. Je weiter seine Verbreitung wird, desto selbstverständlicher und menschlicher wird es aufgefaßt: ein verhängnisvoller sozial-psychologischer Circulus yitiosus im modernen Gesellschaftsleben!

Es ist aber auch klar, daß sich eine derartige Umstellung des Massenempfindens in einer so allgemein wichtigen Angelegenheit nur im Zusammenhang mit einer Änderung der Anschauungen hinsichtlich der Grundfragen der menschlichen Existenz entwickeln konnte. Kaum wo wie hier liegen die schwerwiegenden Folgen schematischer Anwendung naturwissenschaftlichen Denkens auf die spezifischen Lebensfragen des Menschen so offen zutage. Der rasche Fortschritt der Naturwissenschaften im vergangenen Jahrhundert schien die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise aller Lebensvorgänge nicht nur zu rechtfertigen, sondern schlechthin per rationem zu verlangen. Für die Aufklärung somatischer Tatbestände traf dies in weitem Umfange ein. Dieser Umstand sowie die unleugbare Tatsache somatisch-geistiger Wechselbeziehungen innerhalb der menschlichen Natur verleiteten dazu, Leben und Geist ebenfalls als Funktion somatischmaterieller Vorgänge anztisehen. Unter Vorwegnahme künftiger, heute noch immer ausstehender exakter wissenschaftlicher Beweise entstand ein rein physikalisches Weltbild, das die Form der geschichtlichen Entwicklung in der Gegenwart nachhaltig beeinflußte. Sein Geltungsanspruch als Grundprinzip im Aufbau der Gesamtkultur manifestiert sich im wissenschaftlichen Sozialismus.

Die naturwissenschaftliche, streng deterministische Deutung der kriminellen Handlung ist mit dem Namen Cesare Lombroso verknüpft. Er erkannte in der verbrecherischen Natur den Zusammenhang mit der menschlich-somatischen Natur des Verbrechens. Er deckte die Beziehung des Verbrechens zu biologischen Tatbeständen auf. Für Lombroso stellte sich das Verbrechen als biologisches Ergebnis und Ereignis dar, das den Menschen schicksalhaft in seine Bahn zwinge wie irgendein organisches Gebrechen.

Auf der gleichen Linie der Auffassung lag die Deutung de Verbrechens als Ergebnis der Umwelteinwirkung, insbesondere der sozialen Lage des Individuums, die vom Sozialismus in den Vordergrund gestellt wurde. Das Wesensbild des Verbrechens gestaltete sich hiedurch im Massenbewußtsein allmählich zu einem medizinischen und sozialen Krankheitsbegriff um und wurde damit dem Verständnis und Empfinden menschlich nähergerückt. Der Verbrecher selbst, der somit unter dem Zwang seines äußeren oder inneren Schicksals handelt, gelangte in die Mitleidsrolle eines Stiefkindes der Natur oder gar in die Gloriole eines Märtyrers der Gesellschaft. •

Die zerstörende Auswirkung dieser Denkweise läßt sich unschwer aufzeigen. Zunächst beseitigt sie im Menschen, dem sich aus der jeweiligen Situation der Anreiz zur Übertretung moralischer Schranken bietet, das Haupthindernis des eigenen inneren Widerstandes, der ihm als Gewissen und durch die Ehrvorstellung entgegentritt. Eine Betäubung dieser Gegenkräfte durch die Ausflucht, daß er seine Tat nicht frei, sondern unter biologischem oder sozialem Zwang vollführe, schafft der bösen Absicht freie Bahn. Soziologisch führte diese Denkweise zu der eingangs erwähnten allgemeinen Umstellung in der Beurteilung des Verbrechens und seines Urhebers, das sich auch in der Rechtspflege widerspiegelt. Vor allem hier, in der Gesetzgebung als in der Rechtsprechung, zeigt sich ihre verhängnisvolle Wirkung. Die Schwächung der Rechtsauffassung aber bildet eine weitere Herausforderung zum Rechtsbruch.

Die naturalistische Einstellung zum Verbrechen stellt eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung gewisser an sich beachtenswerter Erfahrungstatsachen dar. Niemand kann die Bedeutung medizinischer Feststellungen oder den Einfluß sozialer Verhältnisse in diesem Zusammenhang unter schätzen und im Einzelfall außer acht lassen. Andererseits führt ihre Überwertung an den wichtigsten Wirkursachen menschlichen Handelns, der freien Willensentscheidung und dem Verant- wortunsbewußtsein, vorbei. Mögen auch Kraft und Freiheit des Willens dem Materialismus problematisch und unbeweisbar erscheinen, so sind sie doch die Haupttriebfedern der Kulturentwicklung und als solche auch eindeutig erkennbar. Niemals wäre in der Geschichte Kultur lebendig geworden, wenn sich nicht unzählige Menschen in freier Willensentscheidung unter Zurüdcdrängung ihrer Triebnatur zum Guten entschlossen hätten. Nichts muß verheerender auf die sozialethische Haltung des Menschen und damit auf die Kultur wirken als die Leugnung der Willensfreiheit, wie sie der Materialismus lehrt und in der marxistischen Theorie der streng naturgesetzlich gelenkten Wirtschaft als alleiniger Grundlage der Kultur zum Ausdruck kommt. Es gibt Naturen, bei denen die Willensfreiheit krankheitsbedingt eingeschränkt, vielleicht sogar aufgehoben erscheint. Diesen Fall ausgenommen, wird sich auch ein willensschwacher Mensch immer wieder aufraffen und im Gemeinschaftsrahmen halten können, wenn man andauernd an den Willen appelliert und nicht im Gegenteil jeden Hauch einer Willensregung mit „wissenschaftlichen“ Beweisen der Unmöglichkeit der freien Willensentschließung erstickt.

Muß die Bejahung der Willensfreiheit schlechthin als Voraussetzung jeder sittlichen Willensanstrengung angesehen werden, so ist die Frage der Sinnhaftigkeit sittlichen Wollens unmittelbar mit dem Problem der Verantwortlichkeit menschlichen Handelns verknüpft. Denn nur, wenn der Mensch eine bestimmte Norm für verbindlich anerkennt, wird er sich vernünftigerweise bereit finden, den Verzicht auf Wünsche, die seiner eigenen Natur entstammen, auf sich zu nehmen, ja diesen Verzicht nicht mehr als etwas Negatives, wider seine Natur Gerichtetes, sondern als eine einzig ihm als Menschen gebotene Möglichkeit der Verwirklichkeit geistiger Werte empfinden. Soweit im Materialismus, insbesondere im Sozialismus, Ansätze zu einem eigenen Moralsystem erkennbar sind, gründet dieses im Menschen selbst im Sinne der Rousseauschen Lehre des Contract social. Die menschlichen Gemeinschaftsformen wären demnach einfache Zweckkonstruktionen, die zu bilden die einzelnen Individuen aus Selbsterhaltungsgründen überein- gekommen sind. Die Moralgesetze wären eben nur die notwendigen, selbsterdachten Spielregeln dieser Gemeinschaften. In Wahrheit kann diese Logik weder die menschliche Vernunft zufriedenstellen noch die dämonischen Kräfte der Triebnatur zähmen. Sie bedeutet nichts anderes als die Personalunion von Richter und Kläger, von Gesetzgeber und Gesetzbrecher und ist also vom Standpunkt der Vernunft au inkompatibel.

Nach christlicher Auffassung stellt das Sittengesetz die dem Menschen wesensmäßig entsprechende Lebensordnung dar, die der in Gott wirkenden Fülle und Ganzheit ethischer Werte entspricht. Die Verpflichtung des Menschen an das Sittengesetz beruht nicht, wie dem Christentum fälschlich unterschoben wird, auf dem Prinzip der Lohngerechtigkeit. Gott zahlt nicht mit klingender Münze. Er ist kein Kapitalist, der sich den Menschen kauft. Die Aberkennung des Sittengesetzes befähigt den Menschen zur Teilnahme am Reich jener Ordnung des Geistes, für das er sich auf Grund seines innersten Verlangens nach Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit geschaffen fühlt. Er kann sich dafür in freier Willensäußerung, allerdings unter Wahrung voller Eigenverantwortlichkeit, entscheiden. Durch die bewußte Ablehnung schneidet er sich den Weg zur Vollendung und Erfüllung der letzten Zielsetzung seines Lebens ab. So gesehen, ist die Verletzung des Moralgesetzes mehr als eine menschliche Fehlleistung: sie ist geistiger Selbstmord. Das Verbrechen ist eine absolut sinnlose, wider die Wesensart des Menschen gerichtete Handlung, die sich aus Schwäche, Krankheit und Not allein nicht begreifen läßt. Es ist umgeben vom „mysterium miquitatis“, vom Geheimnis des Bösen, das wie das Geheimnis der Liebe seine einzig verständliche Deutung durch den Glauben erhält, der allein einen Einblick in die sittlichen Urkräfte des Seins, Gottes und seines Widersachers gewährt.

Gegenüber der lethargischen Wirkung der materialistisch-deterministischen Auffassung des Verbrechens stellt die christ liehe Morallehre der Willensfreiheit und Verantwortlichkeit den stärksten Anruf der Willenskräfte des Menschen zur Verwirklichung ethischer Werte dar. Sie stellt die Schwächen der menschlichen Natur in Rechnung, aber sie beharrt darauf, daß dem Menschen — von Ausnahmsfällen wirklichen Krankseins abgesehen — selbst in schwierigen Schicksalslagen die Möglichkeit zu sittlicher Kraftentfaltung gegeben ist und daß der Schritt über die Grenze das Ergebnis einer bewußten Entscheidung, der wissentlichen Abkehr vom Guten, darstellt, wie dies auch Grillparzer in „König Ottokar“ treffend charakterisiert: „’s wird keiner bös, der nicht, bevor er’s ward, erst gut gewesen." Rechtspflege und Kriminalogie mögen im Sinne einer fortschrittlichen Ent wicklung aus der Aufklärung psychophysischer Zusammenhänge mit klugen Gebrauch Vorteile ziehen. Die Festigung der individualen und sozialen Ethik jedoch, die für den Bestand von Kultur und Gesellschaft heute zweifellos eine sehr ernste Lebensfrage geworden ist, wird nicht erreicht, indem man einseitig die Schwachpunkte der charakterlichen Veranlagung heraushebt, sondern wenn man in einer großangelegten Volkserziehung, die weit über das Schulalter hinausreicht, den tiefen Lebenssinn und die Vollgültigkeit des Sittengesetzes in allen Lebenslagen im Bewußtsein der Massen lebendig werden läßt.

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