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Das kategorische Gesetz in der Gemeinschaft

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Es bleibt ein unfaßbares Rätsel, warum der Mensch aus der Geschichte nichts lernen will; warum sich der Mensch, von Natur mit einem unleugbaren Sinn für das Sinnvolle, für Ordnung und Schönheit begabt, immer wieder selbst dem Sinnlosen überantwortet; wie des Menschen Herz, dessen tiefes Empfinden für Gerechtigkeit und Liebe tausendfach erwiesen ist, zugleich Heimstatt unergründlicher Dämonie des Hasses und der Grausamkeit sein kann. Wie oft hat der Mensch diese Fragen schon gestellt, wenn er sich dem Geheimnis um Liebe und Bosheit gegenübersah. Und doch: Geheimnis? Gibt es da noch Geheimnisse im Zeitalter der Vererbungslehre, der Hormonforschung, der Psychologie und Psychoanalyse? Hat nicht die Naturwissenschaft den siebenfachen Schleier, der das menschliche Herz vor dem Intellekt verbarg, Schicht für Schicht abgetragen und liegt es nun nicht unverhüllt, ein zuckendes Bündel armseliger Triebe, vor uns? Die paar Taschenspielertricks, mit denen es sich ein Leben lang abmüht, andere einzufangen, um sich schließlich selbst darin zu verstricken, sind sie nicht selbst nur mehr ein offenes — Geheimnis? Und wenn es so ist, müßte nicht die verstandesmäßige Einsicht in diese Zusammenhänge hinreichen, den Menschen bei seinen Entschlüssen zu lenken, zu führen und zu warnen vor dem, w a s er ist? Solange er die Dämonen unerkannt in seiner Brust verbarg, war er ihnen unterworfen. Aber nun, da er seine Konstitution feststellen und seine Komplexe analysieren gelernt, da es eine Psychotherapie gibt, die ihm seine psychischen Übel ähnlich wirkungsvoll behebt wie etwa eine Massage seine Zirkulationsstörungen, ist es da nicht einfach eine Affenschande, daß es noch immer Kriege, noch immer Grausamkeiten am laufenden Band gibt?

Die Tiefenpsychologie hat — hei aller Vorsicht, die gegenüber einzelnen Schlußfolgerungen und Anwendungsformen am Platze ist — so viele bedeutende Erkenntnisse ans Licht gebracht, daß es heute zweifellos als Frage von besonderer Wichtigkeit angesehen werden kann, ob und wie weit diese das allgemeine Denken beeinflussen sollen. Professor T h i r r i n g unternimmt in einem mehrteiligen, „Homo sapiens” betitelten Werk den Versuch, die moderne Psychologie für die Besserung der menschlichen Beziehungen fruchtbar zu machen. Der erste Band, der vor einiger Zeit erschien, ist aus dem tiefen und schmerzvollen Erleben des kulturellen Zusammenbruches des 20. Jahrhunderts mit seiner Auflösung sozialethischer Begriffe und Verpflichtungen und der unheilvollen Diskrepanz zwischen dem naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt und geistig-sittlichen Tiefstand geschrieben. Die Ursache erblickt Thirring im psychologischen Bildungsmangel der Menschheit. Er legt dar, daß vielfach nicht böser Wille a priori die Menschen entzweit. Häufig genug sind an der Katastrophe zwischenmenschlicher Beziehungen an sich wertvolle seelische Kräfte mitbeteiligt, die der Mensch in ihrer Wirksamkeit noch nicht erfaßt und unter die Kontrolle des Verstandes gebracht hat. Er greift eine Anzahl ihm wesentlich erscheinender seelischer „Mechanismen” heraus und demonstriert ihre Bedeutung im Rahmen der Gesamtkultur. Es handelt sich hiebei gar nicht um völlig neue psychologische Erkenntnisse. Die Verwandlungsfähigkeit des Sexualtriebes zum Beispiel wie überhaupt die Maskierung verdrängter Wünsche durch Manöver aller Art ist bekannt. Wir wissen, welch schmutzige Absicht sich in nach außen- hin edel, gerecht und wohltätig erscheinendem Handeln verbergen kann. Wir wissen, daß manches Verbrechen weniger einer von Haus aus schlechten Absicht entspringt, sondern den Verzweiflungsschritt eines von seinen „gerechten” Mitmenschen gehetzten Opfers darstellt. Die Bezeichnung „böse” und „gut” reicht sohin häufig weder für die Charakterisierung der Menschen noch für ihr Handeln aus. Thirring weist besonders auf die Entstehung überwertiger Ideen sowie auf die sogenannte seelische Perspektive und das Wertwachscum hin. Unter den letztgenannten Begriffen ist die Neigung gemeint, gewisse Vorstellungen oder Objekte durch besondere Beschäftigung mit ihnen, vor allem, wenn ihre Erlangung verwehrt wird, über ihren tatsächlichen Wert hinaus einzuschätzen und anzustreben. Andere wichtige Eigenschaften sind das seelisch-geistige Beharrungsvermögen und der Mangel geistiger Adaption. Allediese Eigenschaften der Seele können sich je nach Situation kulturell fördernd oder hemmend auswirken. Selbstverständlich erfordern die primären asozialen Neigungen, wie Neid, Rache usw., besondere Beacbtung.

Wie weit kann nun von der Allgemeinkenntnis dieser psychologischen Vorgänge eine Besserung des Zusammenlebens der Menschen erwartet werden? Thirring sagt: „Psychologie ist heute die wichtigste Wissenschaft. Sie muß uns vor allem helfen, den Mechanismus der Triebe zu verstehen und zu durchschauen, von denen die Handlungen der Menschen gelenkt werden.” Für ihn ist die Triebpsychologie geradezu das Ei des Kolumbus in der kulturpolitischen Problematik der Gegenwart. Dieser Optimismus wird nur verständlich, wenn man das Grundgesetz der Welt im Evolutionismus erblicht, zu dem sich Thirring auch ausdrücklich bekennt. Darunter versteht man die Anschauung, daß die Welt und selbstverständlich auch die Erde mit allem, was sie erfüllt, nichts als Materie sei, die sich im Laufe von Millionen Jahren nach unabänderlichen physikalischen Gesetzen aus primitiven Anfängen zu immer komplizierteren und höher differenzierten Organisationsformen entwickle, mit anderen Worten, daß die Pflanze die Vorstufe zum Tier und der heutige Mensch ein Larvenstadium vom Affen zum Übermenschen sei, womit wir wieder beim anscheinend unvermeidlich gewordenen Nietzsche angelangt wären, den Thirring andernorts so heftig kritisiert. Soweit sich diese Weltanschauung auf naturgescbichtliche Kriterien stützt, hat sie wenigstens den Schein, aber auch nur den Schein einer Wahrscheinlichkeit für sich, da es einen absoluten Beweis hiefür nicht gibt. Man staunt aber über die Kühnheit des Mathematikers Thirring, der erzählt, man könne ruhig annebtnen, daß sich auf irgendwelchen Fixsternen Menschen befänden, die über unser armseliges Larvenstadium bereits hinaus seien, und uns die tröstliche Versicherung gibt, daß wir es in einigen 10.000 Jahren auch noch so weit bringen würden. Die Geistseele des heutigen Menschen ist demnach wesentlich nichts anderes als ein Ragout von Trieben, aus welchem sich ein Häutchen als Verstand abgeschieden und an der Oberfläche abgesetzt hat. Der Prozeß der Vollendung der Menschwerdung besteht eben darin, daß das Häutchen auf Kosten des Ragouts immer dicker wird, (das heißt (faß das Unbewußt-Triebhafte sich allmählich in Wissen und Bewußtsein umwandelt. Jene Menschen, die sich in grauer Zukunft mit dem eigenen Verstand bis zum Boden ihrer Seele leuchten können, werden nur mit einem Lächeln an nns zurück, denken. Sie selbst werden als Götter oder Übermenschen vermöge ihres Wissens in voller Harmonie leben und sich den Himmel auf Erden oder die Erde zum Himmel machen.

Aus dieser Grundanschauung leitet sich die Hoffnung her, im seelisch-geistigen Raum mit Vernunft und Verstand allein ebenso restlos Ordnung machen zu können wie mit Hilfe der Planwirtschaft im ökonomischen Bereich. Der Rationalisierung der Geistseele folgt die Rationalisierung der geistigen Beziehungen zwischen den Menschen. Beides vollzieht sich nach materialistischen Vorstellungen.

Hinsichtlich der praktischen Durchführung dieses Programms muß man sich vor Augen halten, daß es wenig nützen mag, den Bildungsumfang durch die schlag wortartige Einprägung einer Reihe von psychologischen Kenntnissen zu erweitern, so wenig als die Popularisierung Freudscher Ideen etwas zur Verminderung der Neurosen beitragen konnte. Für ein tieferes Eindringen in die Seelenproblematik aber, vor allem jedoch die vernünftige Anwendung psychologischen Wissens zum Zwecke der Selbsterkenntnis und einer fast schon intuitiven Analyse der Handlungen der Mitmenschen, fehlen bei der Masse einfach die psychologischen Voraussetzungen. Aber selbst dort, wo Interesse und Talent vorhanden sind, ist das Praktizieren analytischer Umgangsmethoden ein zweischneidiges Schwert. Die Möglichkeiten des Irrtums, der Mißdeutung, der Projektion eigener Wünsche und Anschauungen in die Seele anderer bilden eine schwere Gefahr, an der selbst der geübte Psychologe nicht achtlos vorübergehen kann.

Letzten Endes scheitert das ganze Konzept an seiner inneren Schwäche, welche in der einseitigen materialistischen Auffassung der Seele, ja des Menschen überhaupt liegt.

Alle physiologischen Kenntnisse vom lebendigen Organismus reichen nicht aus, uns zu sagen, was Leien ist. Analog hiezu können experimentalpsychologische Erfahrungen nicht das Wesen der Seele wiedergeben. Menschliches Wissen ist in allen Dingen Stückwerk. Davon macht auch die Tiefenpsychologie keine Ausnahme. Wollte man aber das wenige, was sie uns — und auch da nur mit Vorbehalt — über die Seele mitteilt, zmr Grundlage unserer Einstellung zu .i Nächsten, ja zur Gesamtaufgabe des Lebens machen, hieße das die Kultur und mit ihr den Menschen in die Zwangsjacke von in ihrer absoluten Gültigkeit höchst fragwürdigen Verstandesprodukten stecken. Die Naturwissenschaft korrigiert sich doch dauernd selber, wächst und ändert sich, die Psychologie ebenso. Was uns psychologisch an Medianismen und Trieben entgegentritt, ist ein Aspekt der Seele, sonst nichts. Ihre Totalanwendung auf das Leben würde das Bild des Menschen aufspalten in eine Kollektion von Trieben und Mechanismen, deren Vereinigung nur mehr einen verzerrten Reflex der lebendigen Wirklichkeit ergäbe.

Die beste Illustration bietet Thirring selber, wenn er das Religiöse als etwas Triebhaftes, Anlagebedingtes hinstellt und unter dem Oberbegriff der Verklärung verschiedenen idealistischen Betätigungen, also etwa der Beschäftigung mit Wissenschaft der Musik, gleichstellt. Das Streben, die Seele anatomisch nach allen Richtungen zu Zergliedern, führt zu einer groben Verkennung ihrer fundamentalsten Äußerungen. Beim Religiösen handelt es sidi um ein existentielles Anliegen des Menschen, der aus dem direkten Anruf des Ewigen die Antwort auf die kategorische Frage nach dem Sinn und nach der Sendung seines Daseins empfängt. Die Sinnerkenntnis des Lebens aber ist die unabdingbare Grundlage seiner geistigen Existenz. Durch sie vollzieht der Mensch seine Einordnung in das Absolute, für das die Kunst nur symbolischer Ausdruck ist. Im Augenblidc, da das Leben die religiöse Sinnhüüe verliert, zerfällt es in Bestandteile, deren Werthaftigkeit dem Kriterium der sekundären Größe und Relativität des Verstandes unterworfen ist. Ihre innere Be- zogenheit verliert sich im Dämmer des Ungewissen. Wo der Mensch sie mit eigener Weisheit wiederherstellen will, sind Irrtum und Willkür die Folge, deren Opfer wieder er selbst ist.

Thirring bemerkt, daß der einzig eindeutig feststellbare Fortschritt der Menschheitsgeschichte der naturwissenschaftlich-technische ist. Die geistig-sittliche Entwicklung hingegen wird andauernd von Exzessen der Triebhaftigkeit gehemmt und zurückgeworfen. Warum ist das so? Etwa weil die Menschen die Ergebnisse der Trieb Psychologie nicht kennen? Auch das mag gelegentlich ausschlaggebend sein. In der Mehrzahl der Fälle sind sich die Menschen aber der Motive und der Tragweite ihrer Handlungen völlig bewußt. Sfa sind nur meistens bestrebt, einen Deckmantel von Ausflüchten und einen Aufputz von Moral darüber zu breiten, wenn das Triebhaft-Schmutzige der eigentlichen Absicht allzu deutlich erkennbar ist. Es kommt sicher viel darauf an, daß sich der Mensch über seine Absichten nicht selbst täusche und daß er seine eigenen seelischen Tendenzen erkenne. Wissen i s t Macht, jedoch nicht die einzige,’ auf die es im Leben ankommt. Entscheidender noch ist das Bewußtsein der persönlichen Verpflichtung an ein kategorisches Gesetz menschlichen Verhaltens in des Gemeinschaft. Dieses soziale Grundgesetz wird dem Menschen jedoch nicht auf wissenschaftlichem Wege in logisch zwingender, eindeutiger Weise evident, noch verbürgt das Wissen um ein solches Gesetz seine Realisierung durch den Menschen in der Gemeinschaft. Der Glaube an ein unbedingtes Gesetz sozialen Handelns und die Kraft seiner Befolgung, welche nichts weniger als die freiwillige Beschränkung der stärksten, nämlich der egozentrischen Triebe voraussetzt, ist überhaupt nur vorstellbar, wenn der Mensch aus der persönlicHerlebten, inneren Beziehung zum Seinsursprung den Antrieb hiezu erfährt. Eben diese Beziehung aber ist Gegenstand und Inhalt des Religiösen. Die Verwechslung und Gleichsetzung des religiösen Anliegens des Menschen mit anderen, sogenannten kulturellen Bedürfnissen und die Deklaration aller aufs Geistige abzielenden seelischen Äußerungen als Modulationsformen primitiv, animalischer Triebe ist eine willkürliche Rationalisierung der Seele und geeignet, den Menschen gerade im Hinblick auf die sozial überaus bedeutungsvolle Funktion seines tiefsten Strebens und Sehnens zu verwirren.

Der primitive biologische Materialismus der Haeckel und Darwin und die aus seinem Geiste geborenen politischen und gesellschaftlichen Theorien sahen in der praktischen Auswertung der Naturwissenschaften die einzige Möglichkeit einer Lösung der Lebensprobleme.’ Heute setzt sich die Auffassung durch, daß man dabei auch der Eigenart der menschlichen Seele Rechnung tragen müsse. Man gewinnt aber nichts, wenn man diese Seele wieder nur als Transformationsprodukt stofflictriebhafter Mechanismen ansieht. In der Summe seiner Gedanken stellt daher das Buch Thirrings den Versuch dar, den eklatanten Fehlschlag der Erlösung des Menschen durch die Naturwissenschaften mit den feineren Mitteln einer materialistischen Psychologie doch noch zu retten. Seine Auffassung vom Menschen bleibt am animal Rationalen, am Intelligenztier, hängen und übersieht die Kern problematik der Seele, die in ihrer letzten Zielsetzung weit über das stoffliche Verlangen der Selbst- und Arterhaltung hinausreicht. In der Tiefe dieser Kernproblematik aber liegt das Wesensgeheimnis der Seele beschlossen, das die Experimentalpsychologen mit ihren triebmechanischen Taschenlampen vergeblich zu durchdringen suchen. Hier herein fällt Licht nur ex alto, aus der Transzendenz. Die Neuordnung der menschlichen Beziehungen als Voraussetzung einer Wiedererweckung der Kultur muß von vornherein scheitern, wenn man sie in erster Linie auf experimentalpsychologischen Grundlagen aufzubauen versucht. Sie liefe letzten Endes wieder auf eine Vergewaltigung des Menschen hinaus und wäre nur ein Teil jenes tragischen Großexperiments, dessen Augenzeugen wir geworden sind und das Frank Thieß kürzlich mit den Worten charakterisierte: „Es scheint, daß das Intelligenztier sich in unseren Tagen abermals anschickt, den Menschen zu verdrängen.”

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