6888337-1979_37_01.jpg
Digital In Arbeit

Mensch im Zentrum

Werbung
Werbung
Werbung

Die Geschichte unserer Heimat, besonders der vergangenen Jahrzehnte, hat uns gezeigt, daß Überlegungen und Beschlüsse, die jeweils bei einem Bundeskongreß des österreichischen Gewerkschaftsbundes gefaßt werden, dank der Zähigkeit und dem klugen und maßvollen Einsatz österreichischer Gewerkschaftsfunktionäre die Sozial- und Wirtschaftspolitik unseres Landes weitgehend beeinflußt haben.

Bei meinen zahlreichen Betriebsbesuchen, die mir stets Gelegenheit gaben, mit der Arbeiterschaft und mit Vertretern der Gewerkschaft Fühlung aufzunehmen, ihre Probleme und ihre Sorgen kennenzulernen, konnte ich immer wieder feststellen, mit welcher Verantwortung und mit welchem Emst die Arbeiter wie die Vertreter der Gewerkschaft im Interesse des Betriebes und der Erhaltung der Arbeitsplätze bemüht und besorgt waren.

Wenn die Sorge um den Menschen auch in den kommenden Jahren im Zentrum der gewerkschaftlichen Bemühungen stehen sollen, so kann die Verantwortung für Arbeits-, Freizeit- und Bildungspolitik nicht übersehen werden. Es bedarf eingehender Überlegungen, um hier gesellschaftspolitisch und volkswirtschaftlich richtige Entscheidungen zu treffen, die schließlich auch für ‘ den einzelnen die Chancen zur besseren Verwirklichung seines Mensch- Seins fördern können.

Der Mensch bedarf heute mehr denn je der immer neuen Arbeit an sich selbst, der immer neuen Bildung im beruflichen und in anderen Bereichen, um die Probleme dieser dynamischen Zeitepoche zu bewältigen. Von daher ist die ernste, nachdrückliche Frage berechtigt, ob in den Überlegungen des rechten Verhältnisses zwischen Arbeitsstunden und Freizeit nicht auch die Zeitintensivi- tät der persönlichen Bildung verstärkte Beachtung finden müßte.

Die Nützung von Bildungschancen und -angeboten als bloß persönliche Angelegenheit des einzelnen zu betrachten, ohne auch die soziale Dimension dieser Frage zu bedenken, wäre ein Trugschluß. Es kann nicht übersehen werden, daß die Bildungsfreistellung - in welchem Ausmaß auch immer - als eine entscheidend wichtige Variante in die Arbeitszeitpolitik einzubeziehen ist.

Diese Politik soll nicht bloß ein Gedanke des Augenblicks, sondern eine im Hinblick auf die Entwicklung der ganzen Gesellschaft und des einzelnen Menschen verantwortungsgetragene Entscheidung sein.

Die christliche Gewerkschaftsfraktion hatte für ihren Bundestag die Beschlußfassung über ein Grundsatzprogramm angesetzt, in welchem klar und bewußt die katholische Soziallehre, wie sie von der kirchlichen Führung und den päpstlichen Rundschreiben im Hinblick auf das christliche Menschenbild dargestellt wird, zum Ausdruck kommt.

Prof. Johannes Messner, auf dessen Verdienste um die christliche Soziallehre immer wieder hingewiesen werden muß, hat eben eine kurzgefaßte christliche Soziallehre veröffentlicht, um die wichtigsten Grundsätze in verständlicher und übersichtlicher Weise vielen zugänglich zu machen.

Darin bringt er zum Ausdruck, „daß das Eigene der christlichen Soziallehre darin besteht, daß ihre Auffassung vom Menschen, ihr Men schenbild, eine besondere Prägung besitzt. Diese beruht darauf, daß Gott den Menschen, wie es in den ersten Abschnitten der Bibel heißt, nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat Auf dieser Gottesebenbildlichkeit beruht die Würde des Menschen. Infolge dieser Würde muß der Mensch Träger, Schöpfer und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein!” Dies bilde, sagt Johannes XXIII., den „obersten Grundsatz der christlichen Soziallehre”.

Viele Menschen erheben heute einen energischen Anspruch auf jene Güter, de ihnen nach ihrer tiefen Überzeugung durch Ungerechtigkeit oder falsche Verteilung vorenthalten werden. Die hungernden und notleidenden Völker oder Volksschichten erwarten und fordern von uns Verständnis und Hilfe, sie verlangen Rechenschaft von den reicheren Völkern dieser Erde.

Zum ersten Mal ist es eine weltweite Überzeugung geworden, daß die Vorteile der Zivilisation, des wirtschaftlichen und des wissenschaftli chen Fortschritts allen zugute kommen sollen und daß alle daran Anteil haben müssen.

Neben diesen Ansprüchen steht ein noch tieferes, weiter reichendes Verlangen: Die einzelnen sowie die gesellschaftlichen Gruppen und Volksschichten tragen Verlangen nach einem erfüllten und freien Leben, das der Würde des Menschen einigermaßen angemessen ist, und daß alle Anrecht haben auf das, was die heutige Welt mit ihren Schätzen und ihrem Können allen anbietet. Wir müssen heute alle hineinwachsen in Mitverantwortung für jene Menschen, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen.

Aber oft stehen die materiellen Sorgen gar nicht im Vordergrund. Es sind häufig Sorgen und Probleme allgemein menschlicher Art: Sorgen in der eigenen Familie, Kinder, Fragen der Erziehung, Eheprobleme, Angst vor einer Scheidung, psychische Probleme, Gewissensfragen, Fragen, die in den Bereich der Seelsorge und der Religion gehören.

Prof. Messner weist auch darauf hin, daß in den Industrieländern die alte soziale Frage mit der Überwindung der Proletarisierung der Arbeiterschaft gelöst ist: „Der Weg dazu war die Sozialversicherung und die Wohlstandsentwicklung”, also die soziale Sicherheit bei Unfall im Betrieb, bei Erkrankung, im Alter, bei Arbeitslosigkeit. Dazu kam die Anteilnahme der Arbeiterschaft an der Schaffung und Verteüung der nach dem Zweiten Weltkrieg wachsenden neuen Wohlfahrt durch Sozial-, Steuer-, Gewerkschaftspolitik.

„Die neue soziale Frage besteht in der Arbeitslosigkeit, besonders der Jugendlichen, in den großen Einkommensunterschieden, in den Schwierigkeiten (Einsamkeit!) der alten Menschen, in der Wirtschaftsmacht nationaler und übernationaler Unternehmen (Multis), im Proletariat der Entwicklungsländer”, führt Messner aus.

Schließlich sei es mir gestattet, auch auf die Tatsache aufmerksam zu machen, daß Österreich ein Flüchtlingskontingent aufgenommen hat. Ich bitte Sie als einzelne, als christliche Gewerkschaftsfraktion, ich bitte den Gewerkschaftskongreß, daß Sie nach Möglichkeiten Ausschau halten, diesen schwergeprüften Menschen eine neue Heimat zu schaffen. Die Kirche selbst wird durch die ihr zur Verfügung stehenden Einrichtungen Ihnen dabei behilflich sein.

(Auszug aus dem Referat, das der Erzbischof von Wien am 9. September vor dem 8. Bundestag der Fraktion christlicher Gewerkschafter hielt.)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung