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Weiter als Diesseitsideologien

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„Hoffnung ist kein Traum“ — dieses Wort des Kardinals Suenens, in einem Vortrag in Graz gebraucht, erinnert an Ernst Bloch. Mit diesem verbindet den Kardinal gewiß eine starke Zukunftshoffnung, seine Äußerungen und Sätze kommen im übrigen aber gelassener, einfacher, schlichter, vielleicht aber auch in mancher Hinsicht zeitloser. Wenn sich der Kardinal in der Beurteilung der Entwicklung in Kirche und Christentum weder zu einer Evolution'noch zu einer Revolution bekennt, sondern bei allem Neuen die Bedeutung der Kontinuität herausstellt, deutet gerade dieses Bemühen, zusammen mit der starken Zukunftshoffnung, auf das Element des Zeitlosen hin.

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„Hoffnung ist kein Traum“ — dieses Wort des Kardinals Suenens, in einem Vortrag in Graz gebraucht, erinnert an Ernst Bloch. Mit diesem verbindet den Kardinal gewiß eine starke Zukunftshoffnung, seine Äußerungen und Sätze kommen im übrigen aber gelassener, einfacher, schlichter, vielleicht aber auch in mancher Hinsicht zeitloser. Wenn sich der Kardinal in der Beurteilung der Entwicklung in Kirche und Christentum weder zu einer Evolution'noch zu einer Revolution bekennt, sondern bei allem Neuen die Bedeutung der Kontinuität herausstellt, deutet gerade dieses Bemühen, zusammen mit der starken Zukunftshoffnung, auf das Element des Zeitlosen hin.

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Die gegenwärtige Diskussion und Auseinandersetzung um die Kirche, ihre Strukturen, um die Demokratisierung und alle einzelnen überbewerteten und aus dem Zusammenhang gerissenen Probleme lassen immer wieder dieses Element des Zeitlosen vermissen, ja schon die Zukunftshoffnung — bei allem Bemühen, die Zukunft einzubeziehen in die konkrete Auseinandersetzung. Zuwenig sind unsere Synoden und anderen Diskussionsgremien von einer Kategorie des „Noch nicht“ erfüllt, vom Bemühen, auch das gegenwärtige Denken und Tun von Zukünftigem, heute noch nicht voll Erfaßtem mitbestimmen zu lassen.

Gibt es dieses „Noch nicht“ als Kategorie des Denkens, die das Tun im Heute mitbestimmen kann und muß? Sicher gibt es ein solches „Noch nicht“ in der Philosophie; in dem Bewußtsein, daß das menschliche Denken immer wieder an Begrenzungen durch heute nicht Erfaßbares gebunden ist, auch in allen Wissenschaften und im täglichen Leben: Ein Bewußtsein des „Noch nicht“ in dem Sinn aber, daß fast alles, was getan und gedacht werden muß, unter dem Aspekt eines „Noch nicht“ stehen muß, gibt es kaum. Und dennoch: Gerade das Christentum bedarf eines starken Bewußtseins eines solchen „Noch nicht“: Im christlichen Denken ist das heute nicht Erfaßbare und nicht Erkannte sehr umfangreich; dennoch muß dieses in der Zukunft liegende immer mitberücksichtigt werden. Die heute noch nicht gegebenen Ubereinstimmungen im Denken und Glauben können und werden mehr in jenen Bereichen liegen, die heute noch nicht voll erfaßt sind. So besteht auch die Hoffnung, daß vieles an Widersprüchlichem im Heute nicht voll erfaßbaren Gesamtzusammenhang begründet ist.

Im einzelnen Leben gibt es immer vieles heute noch nicht Gegebene und Erfaßbare, das dennoch das Handeln der Gegenwart bestimmt: Den Tod, aber auch mittel- und längerfristige Hoffnungen und Erwartungen. Warum soll nicht in der Auseinandersetzung um die Grundposition des Christentums ein solches „Noch nicht“ viel stärker hervortreten?

Eine Religion des „Noch nicht“?

Es ist ebenso unbestreitbar wie selbstverständlich, daß jede Religion auf ein bestimmtes „Noch nicht“ ausgerichtet ist, auf Entscheidendes, das sich erst in der Zukunft voll eröffnet. Ein solches Phänomen zeigt sich sehr deutlich im Judentum. Es spielt eine bedeutsame Rolle Im Denken jüdischer Philosophen und Theologen während aller Zeiten des Exils und der immer ungebrochenen Sehnsucht nach dem „gelobten Land“, aber auch ebenso deutlich in der Messiaserwartung. Gerade die immer wache Sehnsucht nach der Rückkehr verbindet sich aber zum Teil mit der Uberzeugung, daß diese nicht „vor der Zeit“ erfolgen könne; ein solches „Noch nicht“ reicht vom babylonischen Lehrer Juda bar Ezechiel bis zu Samson Raphael Hirsch, dem Begründer der Neo-Orthodoxie in Deutschland. Hirsch spricht geradezu von einer Zukunft, die nicht einmal „tätig von uns gefördert werden darf, nur erhofft“.

Wie würden solche Worte von reformeifrigen Christen unserer Zeit verstanden werden, die alles von der Aktivität im Heute erhoffen, von der Chance des Augenblicks, nichts mehr von der „Chance des Noch nicht“ und ihren Begrenzungen, von der Forderung, auf das Unerwartete warten zu können, um wieder an Suenens zu erinnern?

In der Anerkennung einer gegebenen Bestimmung, in der Hinnahme der dem einzelnen vorgezeichneten Entwicklung, in der Hoffnung auf eine sich erst voll erschließende Existenz finden wir im Christentum Kennzeichen einer „Religion des Noch nicht“. Darüber hinaus weist vieles im Alten und Neuen Testament auf dieses Phänomen hin; ein immer wieder hervortretendes „Noch nicht“ durchzieht die Gedankenwelt der Bibel. Die Prophetie des Alten Testaments, die geheime Offenbarung, die auf die letzten Dinge bezogenen Äußerungen von Christus sind nur Schwerpunkte dieser sich immer mehr erhellenden Erwartung. Der „Existenzphilosoph“ des Alten Testamentes, Kohelet, weist jedem Geschehen seine Stunde zu. Die immer wiederkehrende Vorhersage des Unheils bei den meisten Propheten weist in der Regel auf eine näherliegende Zukunft. In der Uberwindung aller dieser Katastrophen erwächst wieder ein neues Morgen. In den Abschiedsreden des Johannes-Evangeliums weist vieles auf die Begrenzung hin, die dann einem Neuen, heute noch nicht Erfaßbaren weicht: Die „kleine Weile“, das Kommen des Geistes der Wahrlieit, („ihr könnt es jetzt noch nicht tragen“), die vorübergehende Trauer und die neu aufbrechende Freude, die Stunde, da nicht mehr in Bildern gesprochen wird (16, 5—25). Ungezählt sind diese Aussagen und Bilder im Neuen Testament, so auch bei Paulus, in der „ungeduldigen Sehnsucht“, im Hoffen auf das, „was wir nicht sehen“ (Rom 8, 18—25). In den Visionen der Geheimen Offenbarung vollendet sich die gewaltige Konzeption eines nicht mehr zeitlich zu verstehenden „Noch nicht“.

Schlußfolgerungen für die immer neue Aufgabe der Erneuerung

Eine „Philosophie des Noch nicht“ könnte in dem Sinn Chance für die Erneuerung in Kirche und Christentum sein, als zunächst eine unendliche Gelassenheit gegenüber den „heißen Eisen“ der gegenwärtigen Auseinandersetzung geboten wäre. Es sind nicht Scheinprobleme, um die es etwa in der innerkirchlichen Erneuerung geht, aber dennoch weitgehend nur Randfragen, gemessen an dem, was zur Erörterung steht, wenn all das mitbedacht wird, was heute erst in vagen Vorstellungen oder in bruchstückhaftem Wissen vorhanden ist. Die Analogie zum Universum drängt sich auf: Der Blick des Menschen weitet sich mit der Erfindung immer präziserer Instrumente, mit der Entwicklung der Raumfahrt. Und dennoch ist der hier erfaßbare Bereich von so gerin' ger Größe, daß wir das allermeisti erst von einer fernen Zukunft erhof fen können. Doch lehrt uns das zu nehmende kosmische Bewußtsein daß wir uns immer mehr auf die Ge gebenheiten des Universums einstel len müssen, die Weite des Raumes vor allem aber die Expansion um explosionsartige Ausdehnung de Universums, die sich in so gewalti gen Dimensionen vollzieht, daß dii Zukunft Perspektiven bringt, die heute erst erahnt werden können.

Um diese Perspektiven geht es im wesentlichen auch, wenn die Erneuerung im Christentum zur Diskussion steht, nicht so sehr um vermehrte einzelne Kenntnisse, so wichtig diese sein mögen. Auch hier geht es wie beim kosmischen Bewußtsein um eine universale Schau, die sich freilich im Hinblick auf die gegebenen Begrenzungen mit dem immer wieder gegebenen Eingeständnis des Unfertigen, des Unsicheren begnügen muß. Das muß nicht im Widerspruch stehen mit dem Anspruch des Christentums, das Wesentliche geoffenbart zu haben: Ausreichendes Wissen zur eigenen Existenzbewältigung und zur Lösung gegebener Zeitfragen im Heute reicht nicht für das Morgen. Auch gibt es eine spezifische „Chance der Unsicherheit“ im Christentum: Der Vorbehalt, die Beschränkung, die Begrenzung ist an sich dem Menschen so wesenhaft, daß er beim wirklich ernsthaften Versuch einer auf das Ganze gerichteten Haltung die Grundtatsache der mit der menschlichen Existenz verbundenen Begrenzungen deutlich erfährt. Das zunehmende Gefühl der Unsicherheit, nicht nur der Unvoll-kommenheit, kann wohl geradezu als eine „Chiffre“ christlicher Existenz angesehen werden. Der von der Bergpredigt umschriebene Personenkreis läßt sich hier leichter einordnen als unter die Kategorie der Vollkommenheit und Sicherheit.

Im Bewußtsein eines „Noch nicht“ die Fragen der Erneuerung im Christentum anzugehen, bedeutet zunächst auch, Lösungen zu finden, die den Möglichkeiten des Heute entsprechen, ohne neue Entwicklungen zu verhindern. Dieses Offensein gegenüber dem Neuen wird zu einem entscheidenden Kennzeichen jeder Zukunftshoffnung. Ebenso wichtig ist aber, daß diese Zukunftshoffnung nicht zur Vorwegnahme des Morgen berechtigt; das genannte Zitat von Samson Raphael Hirsch besagt letztlich, daß es Dinge gibt, die man vorzeitig nicht einmal ernstlich anstreben darf. Vor der Diskussion um Fragen etwa der innerkirchlichen Erneuerung muß daher die Frage stehen, ob die gegebenen Kenntnisse und die gesellschaftliche Situation eine Klärung zulassen.

Die Struktur der Kirchen ist immer reformbedürftig, ebenso wie aller anderen gesellschaftlichen Einrichtungen. Vielleicht sind die Reformmöglichkeiten der christlichen Kirchen gerade im Hinblick auf die Tatsache, daß das Christentum weder aus der Vergangenheit noch aus der Zukunft, sondern mehr aus dem Zeitlosen lebt, einigermaßen begrenzt. Das macht die einzelnen Versuche der Reform nicht sinnlos, sondern zwingt nur zu einer realistischen Beurteilung gegebener Möglichkeiten.

Die gesellschaftliche Entwicklung in unserer Zeit drängt mit gewaltiger Dynamik zu größeren Einheiten,auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Aufgabe der Gesellschaftspolitik wird es in dieser Situation, diesen Prozeß so zu gestalten, daß nicht eine Fusion der vorhandenen gesellschaftlichen Einrichtungen zustande kommt, sondern die Grundzüge einer gegliederten Gesellschaft erhalten bleiben. Dies gilt auch für die einzelnen Kirchen, für die innerkirchliche Reform ebenso wie für das Verhältnis der Kirchen zueinander: Die Chance der Differenzierung birgt eine unendliche Chance des Geistigen schlechthin, das sich dort am besten entfalten kann, wo freie Entwicklungsmöglichkeiten gegeben sind. Dieses Miteinander und Nebeneinander organisierter Gruppen in der Zukunftsgesellschaft kann auch dem Christentum neue Möglichkeiten geben: Diese Entwicklung bedeutet nicht den Zerfall der Kirchen, sondern kann auch ungeahnte Möglichkeiten einer Bereicherung bieten: Dies freilich nur, wenn man sich der Tatsache bewußt ist, daß eine größere gesellschaftliche Differenzierung auch eine erhöhte Ordnungsaufgabe stellt. Hat diese Ordnungsaufgabe der Koordinierung aber nicht schon Thomas von Aquin richtig gedeutet, wenn er die Ordnung als Einheit in wohlgegliederter Vielfalt kennzeichnet?

Unsere Zeit zeigt große Erfolge im Zusammenführen von Gruppen mit gegenteiligen Interessen, etwa im Fall der Sozialpartnerschaft. Eine der Hauptaufgaben, die sich einem an christlichen Grundwerten orientierten sozialen Denken stellt, ist diese Ordnungsaufgabe des Ausgleiches, der Koordinierung, der Überwindung der Gegensätze. Die „Chance des Noch nicht“ gibt dabei die Möglichkeit, manches an ungeklärten Fragen auf ein nahes oder fernes Morgen zu verschieben, ohne allzu früh die Frage nach der vollen Wahrheitserkenntnis zu stellen.

Die Chance eines neuen geistigen Aufstieges verbindet sich im Christentum mit der Chance der Unsicherheit und der Bescheidenheit: Wenn das Verschiedenartige der einzelnen christlichen Konfessionen mehr in dem begründet ist, das „noch nicht“ voll erfaßt werden kann, das Gemeinsame mehr in dem, das heute erst teilweise erkannt wird, wird die Chance einer Annäherung mit dem Fortschreiten des Erkenntnisprozesses größer. Für die religiösen Ausdrucksformen muß es aber durchaus keine Angleichung, ja nicht einmal eine Annäherung geben. Im Gegenteil: Hier zeigt sich eine immer weiterreichende „Chance der Differenzierung“, ein unerhörter Reichtum der Ausdrucksformen. Dieser sollte gewahrt und vermehrt werden; denken wir etwa in diesem Zusammenhang an die Liturgieformen der orientalischen Kirchen. Je vielfältiger aber die Ausdrucksformen und Seinsweisen der christlichen Existenz werden, desto stärker wird auch das Bedürfnis einer Zusammenschau in den wesentlichen Fragen.

Die entscheidende Bedeutung, die der Ausgleichsfunktion im christlichen Denken zukommt, könnte in manchen Vorschlägen und Empfehlungen der Synoden mehr zum Ausdruck kommen: Die Erarbeitung von Konfliktregelungsmodellen wäre gerade in Österreich für den innerstaatlichen Bereich eine sinnvolle Aufgabe: wurde hier doch schon vieles geleistet in der Verwirklichung des sozialen Friedens. Manches könnte auch für andere Länder beispielgebend sein. Die Aufgabe der Friedenssicherung beschränkt sich nicht auf den internationalen Bereich, sie wird in unserer Zeit genauso wichtig zur Regelung des Verhältnisses der verschiedenen sozialen Gruppen zueinander: Fragen der Sozialpartnerschaft, der Mitbestimmung stehen hier ebenso zur Diskussion wie das Angehen der Probleme der benachteiligten Gruppen in der Gesellschaft — ein Fragenkreis, der schon von einigen Diöze-sansynoden in Österreich aufgegriffen wurde und nun auch einen der Schwerpunkte der Arbeiten des gesamtösterreichischen synodalen Vorganges bilden wird. Hier geht es nicht nur darum, Fehlentwicklungen aufzuzeigen, etwa beim Gastarbeiterproblem, sondern konkrete Aussagen und Vorschläge zu erstatten, so zur Integration der Gastarbeiter, zur Beseitigung der Benachteiligung der Körperbehinderten, zur Lösung offener Probleme der alten Menschen, weiters um wirksame Hilfen für Flüchtlinge. Gesellschaftspolitische Initiativen aus christlichem Geist erscheinen nur sinnvoll, wenn sie geeignet sind, eine Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen zu erreichen und so neue Hoffnungen nicht nur bei vielen Menschen zu erwecken, sondern auch die Hoffnung auf eine menschlichere Gesellschaftsstruktur.

Die Aufgabe, die Hoffnung stärker in den Mittelpunkt des christlichen Denkens zu rücken, reicht in alle Bereiche christlicher Aktivität, weit über die GeseHschaftspolitik hinaus. Die Neubegründung einer christlichen Philosophie richtet sich in diesem Sinn auf eine vielgestaltige Hoffnung: Sie reicht weiter als die Zukunftshoffnung der Diesseitsideologien. Sie ist letztlich in dem Sinn immer auf ein „Noch nicht“ gerichtet, als eine Hoffnung, die man schon erfüllt sieht, keine Hoffnung mehr ist, wie schon im Römerbrief sehr klar gesagt wird. Es ist Aufgabe der Diskussion innerhalb des Christentums und der Auseinandersetzung um dieses Christentum, Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung ebenso wie der Diskussion in den Synoden und anderen Gremien, die realen Chancen herauszuarbeiten, die sich in der Zukunft dem Christentum stellen. Es geht dabei um eine Hoffnung, die nicht mehr als Traum empfunden wird.

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