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KARFREITAG UND OSTERFREUDE

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„Der“,Renouveau catholique'“, -schrieb Paul Claudel, „ist eine der interessantesten literarischen Revolutionen, die sich jemals in der Geschichte Frankreichs ereignete. Wir schreiben jetzt 1938 — das sind 136 Jahre nach der Veröffentlichung von Chateaubriands .Genie du Christianisme' — und man kann wohl sagen, daß es heute in Frankreich keine Dichtkunst gibt außer der christlichen. Es ist dies eine epochale Tatsache.“ Es fällt dem Literarhistoriker nicht schwer, dieses summarische Urteil des großen, selbstbewußten Dichters zu nuancieren. Der „Renouveau catholique“ bildet jedoch im Sinne Claudels eine „epochale Tatsache“, steht es doch außer Zweifel, daß der Katholizismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts, im Gegensatz zur Lage und Entwicklung der Dichtung im 19. Jahrhundert, zum nicht wegzudenkenden Kulturwert, zum literarischen Faktum geworden ist. Die Darstellung einer christlichen Problematik der Conditio humana ist nun ein vollgültiges künstlerisches Thema, ein ertragreicher Wert und sogar eine Hauptquelle der dichterischen Inspiration, die an Tiefe, Lebensnähe und Tragik dem Absurdismus des atheistischen Existentialismus in nichts nachsteht. Die christlichen Dichter und Denker haben dem Erlebnis der Angst und der Hoffnungslosigkeit ihr christliches Erlebnis der Hoffnung und sogar der Hoffnung in der Angst entgegengestellt, dem existentialistischen Erlebnis der Ichgefangenschaft und der metaphysischen Einsamkeit ihr Erlebnis des mystischen Mitseins, dem Erlebnis der anti-flnalistischen Absurdität des Kosmos und der Geschichte ihr Erlebnis der Kohärenz in der Finalität, dem Erlebnis des Unglücks und des unheilbaren Bösen ihr Erlebnis des Mysteriums und der Erlösung vom moralischen Übel.

Die Darstellung dieses „inkarnierten Zeugnisses“ würde ein großes Buch beanspruchen. Es seien nur hier zwei kennzeichnende Punkte dieser christlich existentiellen Botschaft hervorgehoben: zuerst einmal das hellsichtige Sichfbewußt-werden des geheimnisvollen Vorhandenseins des Übels, der Gegenwart Satans in der Zeitlichkeit, der Schicksalhaftigkeit des Unglücks, zugleich aber auch die Überwindung und die mystische Verklärung des Schmerzes und der Angst durch das Medium der mystischen Stellvertretung und durch das Miterlebnis des Todeskampfes Christi. Und zweitens das sichere, obstinate und dynamische Sichbewußtwerden des Sinnes des Menschen, der Sinnhaftigkeit des Kosmos und die bewußte Anerkennung Gottes als Schopfer und Urgrund der menschlichen wahren Freiheit.

,,Ich bin traurig geboren, traurig in einer tiefen, fürchterlichen Art“, schrieb Leon Bloy, der große Ahnherr der existentiell-christlichen Schriftsteller französischer Zunge, „Das bloße Wort .Unglück' riß mich in Begeisterung hinein. Die Hauptanziehungskraft des Christentums ist für mich die Unermeßlichkeit der Schmerzen Christi gewesen, die grandiose, transzendente Schreckliehke'it dieser' Passion...“ Und L. Bloy hat tatsächlich in seinen Romanen und Tagebüchern sein eigenes tragisches Leiben in Szene gesetzt, sein ganzes Schicksal als „Passion“ betrachtet und erlebt, an dem er „mit einer wilden Raserei“ wie an „seinem eigenen Werk“ gearbeitet hat. In ihm haben sich Transzendenz und Immanenz, Ewigkeit und Zeitlichkeit, persönliches Schicksal und Geschichte, Schmerz und Freude, Hoffnung und Verzweiflung, Anbetungshymnen und manchmal gotteslästerliche Revolte auf die seltsamste Weise vereinigt.

In der vollkommenen, organischen Einheit, in der persönlichen Koexistenz des Schöpfers und des Geschöpfes hat er das metaphysische Abenteuer der menschlichen Existenz erblickt: Er hat es bis zum äußersten angespannt, und eben in dieser „Hochspannung zwischen Gott und Mensch“ die existentielle Wahrheit seines eigenen Schicksals, aber auch seines unzerreißbaren Mitseins mit der ganzen Menschheit erlebt, im Schoß einer Vorsehung, die „immer gerade auf krummen Zeilen“ schreibt. „Unsere Freiheit hängt mit dem Gleichgewicht der gesamten Welt untrennbar zusammen“, schrieb er schon 1886. Das eben muß man verstehen, will man sich über das tiefe Mysterium der Reversibilität nicht wundern. Jeder Mensch, der eine freie Tat vollführt, projiziert seine Persönlichkeit ins Unbegrenzte. Die ganze christliche Philosophie basiert auf der unaussprechlichen Bedeutung des individuellen freien Aktes und auf dem Begriff einer allumfassenden und unzerstörbaren Gemeinschaft. Das „Projizieren der menschlichen Persönlichkeit ins Unbegrenzte durch die freie Tat, die unaussprechliche Bedeutung des individuellen freien Aktes“: dies sind lauter Formeln, durch die auch ein J. P. Sartre sein neohumanistisches Bekenntnis hätte zum Ausdruck bringen können. Und das allein besagt die tiefe existentielle Bedeutung jener „Passion als Schicksal“, wie sie L. Bloy erlebt und verwertet hat.

Dasselbe Bekenntnis zu einem existentiellen Christentum hat sich auch C. Peguy sein ganzes Leben hindurch zueigen gemacht. In den Fußstapfen der katholischen Heiligen, welche die geheimnisvolle Lichtsäwle seines ganzen religiösen Werdeganges gewesen ist, Jeanne d'Arc, ist Peguy in das Mysterium des Bösen, des Leidens und der Seelenverdammnis, schließlich aber auch in das Mysterium der Hoffnung und der Erlösung vorgedrungen. Zuerst läßt Peguy seine Heldin gegen eine Vorsehung revoltieren, welche die ewige Verdammnis auch nur einer einzigen Menschenseele zuläßt: darin sieht er, gleich den späteren Figuren von Camus' Roman „Die Pest“, nicht nur einen fragwürdigen Sieg der Gerechtigkeit über das göttliche Erbarmen, sondern auch ein Versagen, ein Fiasko der Allmacht und des Rettungswillens Gottes. Und im Geist einer verzweifelten Solidarität, eines hoffnungslosen „Mitseins“ mit der ganzen unglücklichen Menschheit will er als Erfüllung seiner eigenen Mission, mit der ganzen Schwere seines Existenzwertes das universelle Gleichgewicht wiederherstellen, ganz gleich, ob er selbst dabei seine eigene Seele verliert. Es ist wirklich ergreifend, zu sehen, daß Peguy l^aSe vor allen Existentialisten oder Absurdisten von heute und außerdem viel tiefer als die enttäuschten Pessimisten < Ramant k, Vigny oder Lamartine, dem Problem der angeblichen Absurdität der Welt so leidenschaftlich gegenübergetreten ist und die Tragik jedes christlichen Schicksals so packend unterstrichen hat. „Was fürchterlich ist in der Wirklichkeit des Lebens“, schrieb er 1902, „ist nicht so sehr das dauernde Nebeneinander von Gut und Böse, sondern ihr gegenseitiges Sichineinanderflechten, ihr gegenseitiges Sichdurchdringen und manchmal ihre seltsame, geheimnisvolle Verwandtschaft.“ Er und die Jeanne d'Arc, die er erdichtet hatte, verurteilten zuerst eine Weltordnung, in deren Vollendung das Böse und der Schmerz, der Haß und die Angst noch einen Platz haben sollten, und in der Betrachtung der Diesseitigkeit war ihnen die rätselhafte Vermengung des Guten und des Bösen ein skandalöses Geheimnis und eine Quelle der Revolte und der Verzweiflung.

Das Wiedererwachen des christlichen Glaubens und das dauernde Erlebnis des Leidens lehren ihn aber allmählich Jeanne d'Arcs Revolte und tollkühne Hingabe in eine tiefere Erkenntnis des Mysteriums der Schöpfung, des Sündenfalls, der Liebe Gottes und der Hoffnung verwandeln. Im Menschensohn, in dessen „tödlicher Traurigkeit“ im Garten Gethsemane erblickt er die einzig denkbare Lösung des göttlichen Skandals, die einzig denkbare Erklärung des göttlichen „Betrugs“: es ist dies das Mysterium der „begnadeten Angst“, das Mysterium der ganzen menschlichen Problematik und der christlichen Berufung, derzufolge die Christenheit eine Gemeinschaft von Heiligen und Sündern ist, die unzertrennbar auf jene „Achse der Trostlosigkeit“ gestellt worden ist, die sich Peguy selbst als seinen vorbestimmten Platz ausgesucht hat, um „dem Härtesten entgegenzugehen und das Schmerzvollste zu erleiden und das treffsichere Übel gerecht zu erleben...“ Eine machtlose Revolte hat somit einer echten Kommunion Platz gemacht, die die immer zitternde Hoffnung verherrlicht, jene „geheimnisvolle Tugend unter den drei göttlichen Tugenden, ohne die die Gnade in der Welt vergreisen würde“. Peguys „fleischliche“, inkar-nierte Seele, das heißt der mystische Realismus seines Glaubens und seiner Hoffnung, sein inkarniertes Denken, rettet ihn aus Clios Klauen. Das Miterleben des Schmerzes und der Agonie des fleischgewordenen Wortes vertieft diesen existentiellen Sieg. Peguy, ein Dichter des Karfreitags, ist eben dadurch ein Dichter der Hoffnung. Die „heidnische' Seele des Menschen kann erst dann christlich werden, wenn sie, gleich dem göttlichen Wort „inkarniert“, „Fleisch wird“. Clio ist dann nicht mehr nur eine Muse, sie ist die Gnade.

Denselben tiefen, intuitiven Sinn für die Tragik der Conditio humana, für den furchtbaren Ernst eines inkarnierten Christentums und zugleich für die unzerreißbare Einheit der ganzen Menschheit in der Gemeinschaft der Seelen, dasselbe Bekenntnis zum christlichen Postulat der angeborenen übernatürlichen Verantwortung des freien Menschen dokumentiert auch der bekannteste geistige Sohn Peguys und Bloys, Georges Bernanos. Die ergreifendsten seiner erdichteten Ramanflguren hat Bernanos als Zeugen, Mitschaffende und Erlöste, nach jener Pflanzstätte der göttlichen „begnadeten und begnadenden Angst“ verlagert, die die ganze Problematik der Conditio humana und noch mehr der Conditio chri-stiana aufstellt und befruchtet. Der Pfarrer Donissan und Chantal de Clergerie, die Priorin de Croissy und Blanche de La Force, die alle in der Verklärung der Angst das Schlüsselwort und beinahe das Sakrament der mystischen Freude und der seelischen Vollendung gefunden haben, treffen ebenda den Menschen und Christen Bernanos selbst. Im Tagebuch seines Landpfarrers hat er erstaunliche Zeilen geschrieben: sie schließen abgrundtiefe Geheimnisse der Seele auf, und sie entsprechen zugleich in stupender Weise den psychologischen und metaphysischen Analysen der existentiellen Denker der Gegenwart: „Ich glaube immer mehr: das, was wir Schwermut, Angst und Verzweiflung nennen — wie, um es uns einzureden, es handle sich um gewisse Seelenregungen —, ist eben die Seele selbst. Denn nach dem Sündenfall ist die Lage des Menschen derart, daß er alles nur unter der Form der Angst wahrzunehmen vermag. Auch der dem*Übernatürlichen gegenüber Gleichgültigste bewahrt bis in das Vergnügen hinein das dunkle Bewußtsein des erschreckenden Wunders, daß sich nämlich auch nur eine einzige Freude bei einem Wesen entfalten kann, das fähig ist, seine eigene Vernichtung zu denken und sich gezwungen sieht, seines Fleisches wütende Empörung gegen diese widersinnige und schauerliche Annahme mit seinen allzeit unzureichenden Vernunftschlüssen mühevoll zu beschwichtigen. Wäre nicht Gottes wachsames Erbarmen, würde der Mensch, wie mir scheint, beim ersten Bewußtsein seiner selbst in Staub zerfallen.“

Daraus aber, das. heißt, aus einem solchen vernichtenden Gefühl der menschlichen Prekarität, der angeborenen existentiellen „Sorge“, auf eine billige Romantik eines metaphysischen Zusammenbruchs, einer „Vision des Untergangs“ oder noch auf ein hoffnungsloses, passives Resignieren der menschlichen Subjektivität zu schließen, wäre vollkommen falsch. Denn genau wie Bloy und Peguy hat Bernanos gewußt „Hoffnungen aus der Verzweiflung zu schöpfen und Ewigkeit aus einer Handvoll Erde zu kneten“. Im vollen Bewußtsein der tragischen Problematik der menschlichen Freiheit hat er sogar eine jubelnde Hymne an die Schönheit des „süßen Königreiches der Erde“ und an die einmalige Würde des menschlichen Schicksals siegesbewußt angestimmt, die nur im hinreißenden Schwung des claudeischen Optimismus ihresgleichen finden kann. „Ich habe geträumt“, schrieb Bernanos in seinem Tagebuch 1939. „Ich wußte wohl, daß es Träume waren. Die Illusion ist nur ein Kümmerling, ein Zwerg von einem Traum: ich aber wollte meine Träume grenzenlos. Und darum eben haben sie mich nicht enttäuscht. Könnte ich mein Leben von vorne anfangen, dann würde ich danach trachten, meine Träume noch größer zu gestalten, weil das Leben unermeßlich größer und schöner ist, als ich selbst im Traum geglaubt hatte, und ich viel kleiner bin. Ich habe von Heiligen und Helden geträumt und die Zwischenstufen unseres Geschlechts übergangen: nun aber sehe ich, daß es allein auf die Heiligen und die Helden ankommt. Die Zwischenstufen sind ein Brei, ein Magma: wer eine Handvoll davon erfaßt hat, der kennt schon alles übrige. Dieser Schleim würde nicht einmal verdienen, einen Namen zu besitzen, wenn ihm die Heiligen und die Helden nicht einen gäben, seinen Namen, den Namen: Mensch.“ Gleich den besten, humansten Helden, die die existentialistischen Atheisten erdichtet haben, will also der bernanossche Held, das heißt, der einzig mögliche wirkliche „Übermensch“, der Heilige, gleich dem fleischgewordenen göttlichen Wort, aus seinem „nackten Dasein ein erhabenes, exemplarisches Schicksal gestalten“ und somit der ganzen Menschheit ihr echtes „Menschsein“ verleihen. Auf diese Weise erzeugt und nährt die bernanossche Theologie der Inkarnation der heldenhaften Heiligkeit und der göttlichen „begnadeten Angst“ eine Anthropologie der Hoffnung, der vollendeten Lebenserfahrung, der unbeschränkten Weltbejahung und der christlichen Freude.

„Unser Anteil am Glück“, schrieb Bernanos im Jahre 1938, „unser armseliges Glück haftet allenthalben an der Erde, und an unserem letzten Tag wird es wieder mit uns zu Erde: das Wesen unseres Unglücks ist übernatürlich. Das Leben bringt keine Enttäuschung. Das Leben besitzt nur ein Wort, und das hält es auch. Was ich vor allem im Menschen sehe, das ist sein Unglück. Das Unglück des Menschen aber ist das Wunder der Welt.“ Die Formulierung grenzt an ein Paradoxon: Man braucht nur ein einziges Zitat aus Sartres „Das Sein und das Nichts“ in Erinnerung zu bringen — „So ist also der Mensch, das sich selbst vernichtende Ich..., die Seinserfahrung des Unglücks, ein Wesen, das in diesem Zustand des Unglücks hoffnungslos eingekerkert ist“ —, um die echt christliche dritte Dimension und den wahrhaftigen Exstenzwert des ber-nanosschen Bekenntnisses wahrzunehmen. Denn der Mann, der diese Zeilen des Sieges und der vitalen Weltbejahung geschrieben hat, ist eben derjenige, der aus eigener Erfahrung um das Unglück des Menschen und um das Mysterium des Bösen wußte und abseits von jedem gedanklichen, geschweige denn kirchlichen Triumphalismus, in der Angst Hoffnung zu schöpfen vermochte, in der Einsamkeit und Verlassenheit Mitsein und echte Kommunion, sogar im Absurden selbst, das heißt, in den scheinbar unlösbaren Antinomien des Schicksals, den geheimen Sieg des Sinnes begrüßen konnte, die beste Dokumentation der Sinnhafüg-keit des Menschen und des Kosmos.

Bloy, Peguy, Bernanos, denen man Mauriac und auch Claudel hinzufügen könnte, sie alle gehören mit ihrem inkarnierten Denken — und dies ist viel mehr als eine rein literarische „epochale Tatsache“ — zu jenem Geschlecht der „opfergeweihten Wesen“, der „Christen des Karfreitags“, die am Ostersonntag um so siegreicher Hoffnung und Frsude ausstrahlen.

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