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Der wahre Don Quichotte

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Wenige Epochen sind so reich an revolutionären, sich überstürzenden Ereignissen wie die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Der Mensch glaubt eine neue Dimension der Welt erobert zu haben, sein trunkenes Auge sieht gleichsam die Verwandlung der begrenzten Fläche in den unendlichen Raum. Die Erde weitet sich aus, jenseits der überwundenen Meere steigen neue Länder auf. Zugleich glaubt der Mensch auch in der Welt des Geistes die Grenze sprengen und letzte Erkenntnisse gewinnen zu können. Ein neues Lebensgefühl durchströmt ihn und steigert sich bald in den Triumph des Entdeckers und Eroberers.

Das ist die Zeit des Dichters Miguel de Cervantes. Als er nach einem abenteuerlichen Leben, nach vielen Kämpfen und Irrfahrten, nach Jahren der Sklaverei in die Heimat zurückkehrt, beschenkt sie ihn nicht mit Geborgenheit, sondern mit Armut und Mühsal, ja sogar mit der Bitterkeit einer neuen Gefangenschaft. Viele Jahre sitzt er in den Kerkern des Vaterlandes, verbannt in eine besondere und gefährliche Einsamkeit. Cervantes ist an diesem Schicksal nicht zerbrochen, es wird ihm im Gegenteil Mittel zur Besinnung und Verinnerlichung.

Ein Bild von elementarer Eindringlichkeit: Während nach der kopernikanischen Wende der Mensch ins „Außen“ stürzt, Erde und Kosmos erobert, sitzt ein einzelner in einem vergitterten Raum, wägt die Gesamtheit der Wirklichkeit und entscheidet sich nicht gegen das Außen, sondern für das „Innen“ als die strahlende Mitte der ganzen sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung. Die tönenden und blendenden Erscheinungen und Geschichten werden an gültigen Maßen geprüft und als aufgeblasene Verzerrungen und Grotesken erkannt. Aus dem Blickpunkt der Mitte relativiert sich der absolute Anspruch der maßlosen Größen, die Seinskomik der Gesamtwirklichkeit des Menschen in ihren Ursprüngen und Sachverhalten wird deutlich.

Es gibt wenige Realitäten, deren Sinn es ist, maßlos zu sein. Zu ihnen p '-iren die Kräfte des menschlichen Herzens, gehört vor allem anderen die Liebe. Nur ein maßloses Herz konnte solchen Schicksalen dieses liebensvürd:ge Geschöpf abringen: den Don Quichotte, den Ritter von der traurigen Gestalt. Die persönliche Erfahrung des Tragischen ermöglichte Cervantes eine um so tiefere Erkenntnis der Gegenwelt des Komischen. In der Zelle von Argomasilla sitzt ein aufmerksamer, kluger Beobachter. Erkenntnis und Erfahrung verdichten sich zum Bild und Symbol, eine geistige, unsichtbare Wirklichkeit — die Seinskomik des Menschen — wird in einer für alle Zeiten gültigen Weise sichtbar gemacht und aus der Kraft und dem Licht des Humors verklärt. Don Quichotte, ein Gesicht und ein Name, bestürzender, aufrüttelnder und wahrhaft aufheiternder Gesang — und ein Bild, in dem sich der Mensch bis zum Ende des Abendlandes erkennen wird.

Jede Generation, die sich ernsthaft auf die Gründe und Abgründe unseres Lebens besinnt, die im persönlichen Schicksal und in der Gesamtgeschichte die Grenze und Unzulänglichkeit, die Diskrepanz zweier Welten erfährt, muß im Leben und im Denken auf die Elemente des Komischen und Tragischen stoßen und sich um ihr Seins- und Sinnbild bemühen. Und doch haben so viele, in eingebildeter Selbstsicherheit erstarrt, die Bedeutung und Ernsthaftigkeit einer der ersten Dichtungen übersehen, deren Töne und Farben noch den abgestumpftesten und eingeschläferten Geist aufwecken sollten. Im Don Quichotte werden ja nicht zuerst komische Geschehnisse und Einzelheiten geschildert, sondern der grotesk-komische Sachverhalt der menschlichen Welt als einer ganzen und unteilbaren. Der Ritter von. der traurigen Gestalt ist die gültigste und gelungenste Verdichtung eines Themas, dessen Aktualität nur von jenen nicht begriffen wird, die in Langeweile oder Geistlosigkeit vegetieren.

Gibt es ein zweites Buch, das die innersten Gedanken und Erlebnisse so kühl und innig, so zurückhaltend und offen vermittelt? Freilich mußte der Dichter, der solche Abenteuer „mit gebundenen Händen“ zu schreiben hatte, zu ungewöhnlichen Mitteln greifen, um sich verständlich zu machen und zugleich die Kostbarkeiten vor den Unberufenen zu schützen. Vielleicht erschließt sich ihre Leuchtkraft und Durchsichtigkeit in ihrer ganzen Fülle nur denen, die ähnliche Not und Einsamkeit durchstehen. Dieses Buch verkündet den Triumph der Innerlichkeit, nicht im Gegensatz zum Außen, aber als der lebendigen, quellenden Mitte des Ganzen, es verkündet die Behauptung und den Sieg noch in der Niederlage. Die Mühle auf den Hügeln wird zum Symbol der feindlichen Mächte, gegen die wir anreiten sollen, in einem Wagnis, einem „Abenteuer“, in dem wir uns gewinnen, wenn wir uns völlig verlieren.

Die Geschichte dieses Wortes wäre in ihren wichtigsten Kapiteln zugleich eine Geschichte des Menschen, ein Spiegel, der den ganzen Zauber der Frühe zum Leuchten bringt, dann aber langsam und unerbittlich erblindet, weil auch das Gesicht des Menschen in der Masse erloschen ist. Wer von uns ist seit seinen Kindertagen noch ausgezogen, um Abenteuer zu bestehen? Nun sind auch die Kinder schon verdorben, so wie das Wort.

Sobald der Mensch der ungeheuerlichen Mühle der Masse verfällt, sobald er seine Freiheit an den Automaten verliert, verliert er auch die Fähigkeit zum „Auszug'', zum Vorstoß in die geistigen Realitäten. Mit seinem Gesicht verliert der Mensch die Möglichkeit, das Geistige als gegenständlich und als die ersten Gegenstände wahrzunehmen, sich mit ihnen nicht nur auseinander-, sondern zusammenzusetzen, ohne sich zu vermischen. Das ist die Aufgabe: die allgemeine, geistige und materielle Welt zu „bestehen“ aus der Kraft des eigenen Geistes und Herzens und sie in den Akten -der Erkenntnis und mehr noch der Liebe iii einmaliger und unwiederholbarer Weise zu bereichern. Wer aber in' dieser Bemühung existiert, weiß und erfährt das Zufallende, die aventiure, die heiteren, ernsten und traurigen Abenteuer.

Kein Dichter soll zu seinen Wegen verführen oder zwingen, sein Recht ist nur: zu bekennen und Zeugnis zu geben. Und kein Hörer soll auf seine freie Entscheidung verzichten, er kann das Bekenntnis des Dichters bejahen oder ablehnen, aber niemals hat er das Recht, das klare Zeugnis zu verbiegen oder zu säkularisieren. Don Quichotte ist ein Christ und ein Sohn des Abendlandes; wer das nicht versteht, hat keinen Zugang in die Tiefen seiner sinnreichen Abenteuer.

Es ist der Glaube des Christen, daß die Seele eines einzelnen Mensehen gewichtiger ist als die ganze ungeheure, doch nicht personale Welt. Das ist der absolute Gegensatz gegen jeden Ismus, gegen Menge und Masse in abstrakter und materieller Form und Uniform. Niemals und nirgendwo ist eine gewaltigere „Selbstbehauptung“ gesetzt und ausgesprochen worden. Die personalen Realitäten, die Personen selbst, sind die Mitte der sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung, und um ihretwillen werden einmal sein: die Auferstehung des Fleisches und mehr als das verlorene Paradies — ein neuer Himmel und eine neue Erde. Aus diesem Glauben wagt es der Christ, sein Herz gegen den Goliath, die Mühle zu setzen, vertrauend, mit diesen Waffen die Übermacht zu besiegen.

Der geistige Kosmos *ist „da“, bevor der Mensch als ein einzelner in ihn eintritt, aber das ist die großartige Möglidikeit, diesen Kosmos nicht nur zu bestehen, sondern in den Akten der Erkenntnis, der Liebe und der Selbstverwirklichung in einmaliger Weise reicher zu machen.

Auf dieser Ebene vermag sich der Mensch

— er sei denn ein Heiliger — nicht zu halten, er stürzt aus den seligen Trunkenheiten immer wieder hinab in grausame Ernüchterungen, in Versagen und Schuld, in die Tragik und Komik der Welt.

Auch das gehört zur Größe dieser spanischen Dichtung: nicht nur die unsterblichen Träume der Menschen zu sagen, die Sehnsucht nach glücklichen Inseln, die goldene Zeit; der ganze leib- und bluthafte Mensch steht vor uns, in seiner königlichen Berufung und in seiner Armseligkeit. Der Dichter sieht das eine und doch so vielfältige Menschenbild und entfaltet die Mehrseitigkeit der menschlichen Existenz in zwei gegensätzlichen Erscheinungen: Don Quichotte und Sancho Pansa. Aber beide gehören zusammen, sind Spiegelungen der einen lebendigen Gestalt. Und in ihren, in solcher Hintergründigkeit oft atemberaubenden Abenteuern geschieht wiederum ein Doppeltes: der Mensch wird sichtbar im Eindruck des Grotesk-Komischen, gegen das er sich nicht nur behauptet; er verwandelt und verklärt das komische Element aus der Kraft des Humors, so, daß mitten in ihm das unverzerrte menschliche Bild des Ursprungs und der Erwartung aufleuchtet.

Erst im letzten Akt Don Quichottes zerreißt die Verschleierung all der sinnreichen Geschichten und Gleichnisse seines Lebens. Es wird ernst, so bitter ernst, daß zu allen Zeiten die Leser den Schluß so schnell wie möglich vergaßen, ignorierten, nicht verstehen wollten oder konnten. So ist es geschehen, daß gerade einen der ernsthaftesten Dichter das Schidtsal widerfuhr, nicht ernstgenommen zu werden. Es wird dem Narren nicht verziehen, wenn er die Maske abnimmt, als Mensch seinem Nächsten ins Gesicht sieht.

Wer aus der Mitte ins Außen schaut, sieht die Schatten hinter aller irdischen Existenz, die Zeichen ihrer Auflösung; die vorherrschende Wirklichkeit enthüllt sich als konjunktivisches Dasein. Mit dieser Erkenntnis beginnt Cervantes das letzte Kapitel seiner Komödie: die Abdankung seines Helden. Don Quichotte de la Mancha verzichtet auf seine stolzen Titel und verkündet seinen Namen: Alonso Quixano. Das erschütternde Abschiedswort seines Helden ist auch das Bekenntnis des Dichters, es verbindet ihn mit dem Größten seines Vaterlandes, mit ihren leidenschaftlichen Träumen und Taten. Es ist ein Bekenntnis aus spanischem Geist, aus dem Herzen der großen Therese, des Johannes vom Kreuz, Ignatius, des Kaisers, der ein Reich aufgab, in dem die Sonne nicht unterging, und sich in die Einsamkeit von San Yuste zurückzog — aus dem Herzen aller, die den Weg nach innen gegangen sind. Die Verinnerlichung ist die gesegnete Kraft, die die Welt bewahrt, daß sie sich nicht für immer und tödlich ins Außen verliere.

Nicht zufällig ist der Berg Monsalvach der Ebene Don Quichottes so nahe; Parzifal i| unterwegs aus der gleichen Sehnsucht und nach langen Irrfahrten am gleichen Ziel. Doch der Glaube Don Quichottes ist klarer und geläuterter — Dostojewski nennt ihn den edelsten Menschen, der nach Christus über diese Erde gewandelt ist. Beide, Don Quichotte und Parzifal, werden durch ihre heilige Unruhe und ihre Liebe zum Gral in das Mysterium des Sakraments geführt. Die Vielfalt der gesdiilderten Bilder mündet in das eine, alle gezeichneten Linien stoßen in den „einen, innigen Punkt“, in dem sich Dieseits und Jenseits berühren und durchdringen — in der „religio“ zweier Welten

— im Sakrament. In diesem Mysterium wird die christliche Odyssee des Lebens und also auch des Geistes beschlossen.

Dieses letzte Kapitel ist von überwältigender Eindringlichkeit. Es bekennt, daß der Mensch in dieser Welt nicht „heil“ werden kann. Immer folgt ihm der tragische und komische Schatten, der in der irdischen Existenz eingewurzelt ist. Aber in der Liebe — und das Sakrament ist das Geheimnis der maßlosen Liebe — wächst in der zerbrechlichen und gefährdeten Hülle das kommende Leben, das Zeichen, an dem der Mensch in einer anderen Welt erkannt wird, das Licht, das die Engel suchen und heimholen zum Vater.

Die Tragik und Komik des Menschen kann nur in ihren Ursachen und Gründen überwunden werden. Das wird zuletzt und vollendet geschehen: jenseits von Zeit und Raum, jenseits des Todes. Weit ist der Weg und manches bittere Abenteuer muß in der Gefolgschaft Don Quidiottes bestanden werden, bis wir die Botsdiaft des Alonso Quixano verstehen und auch ihm die Gefolgschaft nicht verweigern. In seiner Abdankung verzichtet Don Quichotte auf die Symbole und Titel seines Rittertums. Mit diesem Akt völliger Selbsthingabe wird er zum „Poverello“, zu einem der seliggepriesenen Armen im Geiste, der Kinder, die das Himmelreich gewinnen. Durch diese Hingabe und in der Kraft des Sakraments, dem Gastund Abendmahl des Herrn, ist er bereit, für das letzte und entscheidende Abenteuer jedes Menschen den Tod so zu bestehen, daß er zum Eingang wird in das ewige Leben.

So mahnt uns Don Qutchote, ihm auf den gleichen Wegen nachzufolgen. Als dieser Krieg kam, der das Ende des Abendlandes zu bedeuten schien, konnte Don Quichotte über die Felder des Grauens wandern, aufrecht Und mit einem überirdischen leuchtenden Antlitz.

Immer noch drehen sich die Flügel wie rasend, getrieben von allen gefallenen und verurteilten Kräften der Schöpfung — und hinter ihnen grinst der Diabolus. Aber immer, solange es Tag wird und Nacht, ist der Christ bereit, die Lanze einzulegen und den Todesritt zu wagen, er weiß, daß er auch in der Niederlage triumphiert, daß ihm in der Gefolgschaft des Meisters der endliche, unendliche Sieg sicher ist.

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