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Gnade und Ungnade

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Erinnerungsbücher, deren wir fast schon zu viel besitzen, haben nur dann einen Wert, wenn sie über das Persönliche hinausdringen ins Geschichtliche; ja, wenn sie auch bei den äußeren Erscheinungen des Geschichtlichen nicht stehenbleiben, sondern dem Geist begegnen, der sich in der Geschichte auswirkt. In diesem Zusammenhang erlangen' die Aufzeichnungen Rudolf Kässners: Umgang der Jahre, Gleichnis, Gespräch, Essay, Erinnerung ihren Wert; Abhandlungen und Aphorismen philosophischen und kunstkritischen Inhalts müßten, wohl durch andere Werke des Denkers ergänzt — wenigstens in Beziehung zu diesen gebracht werden; uns fesseln Urteile, Schilderungen von Begegnungen wie etwa die mit besonderer Verehrung und Liebe entworfene mit der verwitweten Fürstin Herbert Bismarck, die Kassner zum letztenmal im Jahre 1942 in Schönhausen sah, wenige Jahre, ehe das Geburtshaus Bismarcks samt dem herrlichen Park der Zerstörung anheimfiel. Von der Fürstin Herbert Bismarck ist das erstaunliche Geständnis Adolf von Harnacks überliefert, daß er „zu Gott keine Beziehung hatte“. (Welch ein furchtbarer Beitrag zu dem bisher ungeschriebenen Buch über die Theologie ohne Glauben!) “Kassner hat gelegentlich der Jahrhundertausstellung in Paris noch Oscar Wilde gesehen, wenige Monate vor seinem Tode, ein traurig maskiertes Bild menschlichen Elends und Verfalls; er gibt als erfahrener Physiognomiker eine Deutung Rilkes und Strindbergs aus der Sprache ihres Gesichtes: „Welcher Dissens bei R. M. Rilke zwischen dem kindlichen Blick seiner blauen Augen und dem übergroßen, gebrauchten, nicht gebrauchten, kranken Mund . . .“ Aber der Erscheinung liest Kassner allenthalben das Wort des Geistes ab; so scheint er uns, in den abschließenden Erinnerungen an Paris, Wesentliches über Rilkes Werk zu sagen mit der Bemerkung, daß sein Anliegen gewesen sei „das Rühmen einer Welt ohne Erbsünde“; daß er vermöge des „Unpaulinischen seines Wesens“ eine Stellung zu Christus nicht finden konnte. Mit solchen aus dem Unmittelbaren schöpfender) Erkenntnissen verbinden sich tiefe Einsichten in das Wesen der deutschen Geistestradition, Formulierungen, die etwas Endgültiges haben: etwa, daß die große Menschheitsepoche um Goethe keinen Begriff gehabt habe vom fleischgewordenen Wort; daß sie eine symbolische Vollkommenheit, die des Kreises, aber nicht die durch das Kreuz, erstrebt habe; oder daß Kants kategorischer Imperativ, welthistorisch gesehen, die eine Aufgabe gehabt habe, „die Idee der Gnade beiseite zu schieben“. Die Grenze des Buches zeigt sich in den Aufsätzen, die Pilatus und Simon Petrus gewidmet sind: es ist gewiß etwas Wahres in dem von Kassner entworfenen Bilde des Apostels: „Denn Petrus ist das ewige Kindtum des Menschenwesens, die Erneuerung dadurch, der Alte mitten unter den Gotteskindern, der Pförtner, der die Gotteskinder einläßt“. Aber es scheint uns nicht erlaubt, auch nicht vergleichsweise, eine Beziehung zwischen Petrus und Sancho Pansa, dem Evangelium und dem „Don Quiohote“ zu vertreten, so verehrungswürdig auch dieser als Kunstwerk ist.

Uber dem Buche dunkelt der letzte Zusammenbruch: wohl mit Recht rüdet es, was das Ausmaß der Katastrophen betrifft, die deutsche Geschichte an die erste Stelle; die Aufeinanderfolge der Jahre 1648, 1806, 1918, 1945 duldet in der neueren Geschichte keinen Vergleich. Dahinter birgt sich das Geheimnis, dem dieses Buch nachspürt, das schwerlich tn Worte zu fassen ist — darum müssen alle Formulierungen, so notwendig sie auch sind, wieder eingeschränkt werden —; es ist die Wesensart des deutschen Geistes selbst, die sich in der erschreckenden Kurve unserer Geschichte ausdrückt. „Es geht, was immer man sage, stets um das eine: Gnade und Ungnade“. Daß so viele unserer Hochbegnadeten doch nicht in der Gnade waren: das ist unser Unglück; und es wäre unsere Gnade, wenn wir es erkennten. Reinhold Schneider

Puschkin, der religiöse Genius Rußlands.

Von Dr. Leo Kobilinski-Ellis (Band 4 der Reihe: Kämpfer und Gestalter). Verlag Otto Walter AG, Ölten. 227 Seiten.

Puschkin, der in der Geschichte der russischen Literatur und Sprache eine zugleich überragende wie inspirierende Stellung einnimmt, war im deutschen Sprachbereioh durch lange Zeit mehr durch die Opern bekannt, deren Libretti auf seine Werke zurückgehen („Eugen Onegin“, „Boris Godunow“, „Piquedame“) aU durch diese letzteren selbst. Während in dieser Hinsicht allmählich Wandel eingetreten ist, berührt eine Durchforschung von Pusdikins religiös-psychologischer Entwicklung noch weitgehend Neuland. Hier möchte das vorliegende Buch, das sich in seinem Vorwort als „religiös-psychologische Monographie“ bezeichnet, ein vorbereitender Schritt zu einer umfassenderen Arbeit sein. An Geschlossenheit, Reichhaltigkeit des Materials und Stärke der Beweisführung gemessen, ist es jedoch weitaus mehr, als dieses bescheidene Selbstbekenntnis ausdrückt. Es schöpft seine Argumente nicht nur aus einer auf die Zeugnisse der Zeitgenossen gestützten Aufhellung des inneren Entwicklungsganges des Dichters, sondern auch, und dies in meisterhaften Uber-tragungen, aus seinen Werken. (Hier sind auch die tiefreligiösen Gesprächsworte Puschkins über das Christentum — S. 208 — zu nennen.) Puschkins Ringen um seine innere Gestaltung, das ihn aus den vielfachen Wirrnissen seines Lebens und unter schmerzhaftesten Kämpfen nicht nur zu einer persönlichen christlichen Uberzeugung gelangen, sondern geradezu zum Sänger des „alten heiligen Rußland“ werden ließ, wird überzeugend dargetan: er gewinnt nach Schwankungen und Irrungen wieder den vollen Einklang mit der zutiefst christlichen Seele seines Volkes. Allgemein Biographisches ist nur soweit einbezogen, als es zum Verständnis des Besonderen notwendig war. Einige kleine Satzfehler in der „Zeittafel“ (Peter der Große starb 1725, nicht 1765, Leo Tolstoi 1910, nicht 1881, die erste Teilung Polens war 1772) können bei einer Neuauflage leicht berichtigt werden.

C. v. Rauenthal

Das Attentat. Roman. Von Graham Greene. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien. 309 Seiten.

Der neue Roman entspricht nicht den Erwartungen, die der Name des berühmten Dichters in dem Leser weckt. Die Ausgangssituation des düsteren Geschehens ist ein Kriminal-fall, die Hauptfigur eine Gestalt vom Rande des Lebens. Ein von der Natur gezeichneter Mann, ein einsamer Außenseiter, wird von dunklen Finanzmächten gedungen, den Kriegsminister eines fremden Staates zu ermorden, um damit einen Krieg zu entfesseln, der dem Profit eines großen Rüstungsünternehmens dient. Nach vollbrachter Tat kann der Mörder entkommen, aber da seine Auftraggeber ihn mit gestohlenem Geld ausbezahlt haben, wird er von Scotland Yard als Bankräuber verfolgt. Seine abenteuerliche Flucht bildet den Kern der Handlung. Eine junge Schauspielerin, mit der sein Schicksal auf seltsame Weise verknüpft wird, vermag in dem Unseligen noch etwas von seiner verschütteten Menschlichkeit zu wecken und sein Vertrauen zu gewinnen, aber auch sie verrät thn zuletzt. Nachdem er die Anstifter seines Verbrechens getötet und damit den drohenden Ausbruch des Krieges verhindert hat, fällt der Mann im Kampfe mit der Polizei. Die Voraussetzungen sowie die Lösung der politischen Verwicklung, die den Hintergrund der Handlung bildet, wirken unwahrscheinlich und etwas kolportagehaft billig; die ethische Problematik ist nur angedeutet und wird von den äußerlichen kriminalistischen Spannungselementen überwuchert. Der Roman erreicht nirgends die tragische Schärfe von „Die Kraft und die Herrlichkeit“ oder die psychologische Tiefe von „Das Herz aller Dinge“. Man könnte annehmen; daß es sich um ein frühes Werk des Autors handelt, auf das nun auch das Licht seines gegenwärtigen Ruhmes fallen soll. Wenn das Buch auch als Ganzes künstlerisch nicht befriedigt, so bietet es trotzdem manches von dem, was wir an Greene schätzen, vor allem seine Kunst, Menschen mit ein paar Strichen unheimlich echt zu veranschaulichen und das Abgründig-Geheimnisvolle hinter aller Realität ahnen zu lassen. Dr. Theo Trümmer

Der Gottsucher. Roman, Von Martin Flinker. Verlag Aleert de Lange, Amsterdam. 107 Seiten.

Ein auffallend gutes Buch: einfach, männlich gedacht, klar in Stil und Sprache, der selten gewordene Glücksfall einer schriftstellerischen Einheit und das Versprechen einer interessanten Entwicklung. Der Sohn, der nicht Sohn ist, vielmehr ein irrtümlich an Sohnes Statt aus einer historischen Kinobrandkatastrophe in Marseille 1919 geretteter Fremder, der nun für den vereinsamten Vater mit dem Verlorenen identisch wird und doch nur Erinnerungsbild an ihn: dieser Sohn erwacht zur Erkenntnis seines Nichtseins fern vom toten Blutsvater, von seinem Namen. Von dem Augenblick an, da er sich nach Jahren auf dem Gedenkstein des Unglücks unter den Toten findet, weiß er, daß nur die Wiedergewinnung seines Namens ihn dem Lebenssinn wiedergibt, ihm den Vater und durch diesen Gott. Die Mutter ist das natürliche Band aller Wesen ans Sein; der Vater symbolisiert das Geistige, mit Gott Verbindende.

Die Gespräche des Sohnes mit dem Rechtsanwalt, dem Priester bewegen sich in der Spannung hoher Objektivität; das Sprengende seiner Aufassung für Staat und Kirche wird klar geformt. Alles ist für die große Szenerie eines Selbsterkenner- und Bekennerlebens gestellt: da mündet die Erzählung, ehe sie sich zum Roman weitet, in einen abrupten, willkürlich herbeigeführten Schluß, einen nichts lösenden Tod — man möchte sagen in einen Verzicht Flinkers aus Erschöpfung gegenüber der Aufgabe. Die Schwelle vom bloß gedachten zum gelebten Gott wird nicht überschritten. Trotzdem: ein ausgezeichnetes, lesenswertes Buch. H. Menningen

Schatten über den Blauen Bergen. Von

Richard Mason. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien. 396 Seiten. \

Unter den zahlreidien begeisterten Freunden, die Richard Mason mit seinem Erstlingsroman gewonnen hatte, mögen manche sich mit einiger Sorge gefragt haben, ob das nächste Werk des jungen Dichters sich würdig an das erste anreihen und nicht, wie dies nach einem sensationellen Ersterfolg so oft der Fall ist, irgendwie enttäuschen würde. Eine solche Besorgnis ist nun, wie der Kritiker mit Freude feststellen darf, gegenstandslos geworden. „Schatten über den Blauen Bergen“, der Roman eines jungen Engländers aus gutem Hause, der, dem Leid einer zerbrochenen Ehe und der Nachkriegsdepression seiner englischen Heimat entfliehend, in Jamaika, in einem ihm gänzlich fremden Beruf, Vergessenheit sucht, hält alles, was jene Liebesgeschichte aus dem Indien des zweiten Weltkrieges „. . denn der Wind kann nicht lesen“ versprach. Auch in seinem zweiten Buch zeigt sich Mason als ein ungemein feiner Psychologe und als Meister sowohl im dramatischen Aufbau seiner Erzählung wie in der plastischen und dabei doch so behutsam schattierten Zeichnung seiner Charaktere. In Hinkunft wird sein Name mit an erster Stelle zu nennen sein, wenn man von der wachsenden Schar der jungen Autoren spricht, deren Werke dem modernen englischen Roman einen so hohen Rang in der Weltliteratur erworben haben. — Besonders hervorzuheben ist auch das Geschick des Ubersetzers Edmund Th. Kauer, dem js gelungen ist, die Eigenart der Originalsprache voll zur Geltung zu bringen, ohn dadurch die Flüssigkeit seines deutschen Textes im geringsten zu beeinträchtigen.

Kurt Strachwitz

Meistererzählungen. Von Franz Karl G i n z-k e y. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien. 249 Seiten.

Ein klug gewähltes Dutzend beispielhaft gebauter Erzählungen und Novellen mit Ausgriffen in den Bereich des Märchens, der Fabel und der Legende, klassisch im Vortrag und in der Haltung zur Welt. Durch und durch geformte Gebilde, zugleich eines Dichters und Weisen, eines Sprach- und Lebenskünstlers, eines Meisters ha umfassenderen, im Goethe-schen Sinn, nämlich eines Bemeisterers der äußeren und inneren Form, die erst im Zusammenklang sich die Welt, den Rohstof!, restlos einverwandeln. Im übrigen zeigt das Buch, das die Forderung nach Stete und Dichte so vollkommen erfüllt, daß es den jüngeren Erzählern als Lehrbuch dienen könnte, wohl mit Absicht auch Ginzkeys andere Palette auf, also nicht nur das Leise, Liebenswürdige, das still und heiter Besinnliche; denn es enthält auch den „Prinzen von Capetrano“, also ein Stück von Kleistischer Darstellungs- und Schicksalswucht.

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