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Das Lachein

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Es war im Verlauf einer Reportage über den Bürgerkrieg in Spanien. Ich hatte die Unklugheit begangen, mich in einen Güterbahnhof einzuschmuggeln, um morgens um 3 Uhr dem Verladen geheimen Kriegsmaterials beiwohnen zu können. Die Bewegung der Mannschaften und eine gewisse Dunkelheit begünstigten mein Vorhaben. Aber ich schien den republikanischen Soldaten verdächtig zu sein.

Es war sehr einfach. Ich ahnte noch nichts von ihrem geschmeidigen und geräuschlosen Näherkommen, als sie mich schon umschlossen, sanft wie die Finger einer Hand. Der Lauf eines Karabiners richtete sich leicht gegen meinen Bauch und die Stille schien mir feierlich. Ich hob schließlich die Arme.

Ich beobachtete, daß sie nicht in mein Gesicht, sondern auf meine Krawatte starrten (die Mode einer anarchistischen Vorstadt ließ diesen Kunstgegenstand nicht geraten erscheinen). Meine Haut überflog es. Ich erwartete den Schuß, es war die Zeit der flinken Urteile. Aber es kam kein Schuß. Nach Sekunden einer absoluten Leere, in deren Verlauf es mir seinen, als tanzte die arbeitende Mannschaft auf einem andern Stern eine Art Traumballett, gaben mir meine Anarchisten mit einer leichten Kopfbewegung das Zeichen, ihnen voranzugehen, und wir setzten uns ohne Hast über die Ver-sehubgeleise in Marsch. Die Gefangennahme hatte sich in vollkommenem Schv/eigen abgespielt und mit außerordentlicher Sparsamkeit in der Bewegung. So spielt die Tierwelt der Tiefsee.

Bald verschwand ich in einem Kellerloch, aus dem man eine Wachstube gemacht hatte. Elend beleuchtet von einer schlechten Petroleumlampe, dösten dort andere Milizsoldaten, ihre Karabiner zwischen den Beinen. Sie wechselten mit unbeteiligter Stimme ein paar Worte mit den Männern meiner Patrouille. Einer von ihnen durchsuchte mich.

Ich spreche spanisch, aber ich kann nicht katalanisch. Ich verstand jedoch, daß man meine Papiere verlangte. Ich hatte sie im Hotel vergessen. Ich antwortete: „Hotel... Journalist...“, ohne zu erkennen, ob diese meine Sprache als Mittel der Verständigung taugte. Die Milizsoldaten reichten — wie ein Beweisstück — meinen Photoapparat von Hand zu Hand. Einige von den Gähnenden, die auf ihren krummbeinigen Sesseln zusammengesunken waren, richteten sich in einer Art Langeweile auf nnd lehnten sich an die Mauer.

Der vorherrschende Eindruck war der der Langeweile und des Schlafes. Das Aufmerksamkeitsvermögen dieser Männer schien mir längst verbraucht. Fast hätte ich mir ein Zeichen der Feindseligkeit gewünscht, nur um menschlichen Kontakt zu spüren. Aber sie würdigten mich weder eines Zeichens von Zorn noch eines der Mißbilligung. Ich versuchte zu wiederholten Malen auf Spanisch zu protestieren. Meine Proteste trafen ins Leere. Sie sahen mich an, ohne darauf einzugehen, so wie sie einen chinesischen Fisch in einem Aquarium angeschaut hätten.

Sie warteten. Worauf warteten sie? Auf die Rückkehr eines Genossen? Auf das Morgengrauen? Ich sagte mir: „Sie warten vielleicht darauf, Hunger zu haben...“

Ich sagte mir auch: Sie werden eine Dummheit machen! Es ist absolut lächerlich ... Das Gefühl, das ich empfand, war — viel mehr als ein Gefühl der Angst — der Ekel vor dem Abgeschmackten. Ich sagte mir: Wenn sie auftauen, wenn sie handeln wollen, werden sie schießen!

War ich wirklich in Gefahr, ja oder nein? Nahmen sie noch immer nicht zur Kenntnis, daß ich weder ein Saboteur noch ein Spion war, sondern ein Journalist? Daß sich meine Ausweispapiere im Hotel befanden? Hatten sie sich entschieden? Wofür? Ich wußte nichts von ihnen, außer daß sie ohne große Gewissenskämpfe füsilierten. Die revolutionären Stoßtrupps, gleichgültig, welcher Partei sie angehören, machen nicht Jagd auf Menschen (sie wägen den Menschen nicht nach seiner Substanz), sondern auf Symptome. Die gegnerische Wahrheit erscheint ihnen als epidemische Krankheit. Um eines zweifelhaften Anzeichens willen schickt man den Bazillenträger in das Isolierungslager. Den Friedhof. Darum schien mir dieses Verhör unheilvoll, das mich von Zeit zu Zeit in undeutlicher Einsilbigkeit traf und von dem ich nichts verstand. Ein blindes Roulett spielte um meine Haut. Deshalb empfand ich auch das wunderliche Bedürfnis, ihnen über mich etwas zuzurufen, das mich in mein eigentliches Schicksal hineintreiben würde — nur um das Gewicht einer wirklichen Gegenwart zu spüren. Mein Alter zum Beispiel! Doch, das Alter eines Menschen ist eindrucksvoll. Es enthält sein ganzes Leben. Die Reife, die nun sein ist, ist langsam entstanden. Sie hat sich gegen so viele nun überwundene Hindernisse gebildet, gegen so viele schwere, nun wieder geheilte Krankheiten, gegen so viele gestillte Schmerzen, überwundene Verzweiflungen, gegen Gefahren, von denen die meisten dem Bewußtsein entgangen sind. Sie ist quer durch Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte, durch viel Vergessen und viel Liebe hindurchgewachsen. Ja, das Alter eines Menschen, es bedeutet eine schöne Fracht von Erfahrungen und Erinnerungen! Trotz der Fallen, der Stöße, der Räderspuren hat man wohl oder übel seinen Weg verfolgt, holterdipolter wie ein guter Karren. Und jetzt, dank eines eigensinnigen Zusammenspiels glücklicher Umstände, ist man soweit. Man ist siebenunddreißig Jahre alt. Und der gute Karren wird, so Gott will, seine Last von Erinnerungen noch weiter schleppen. Ich sagte mir also: Soweit bin ich nun. Ich bin siebenunddreißig Jahre alt... Ich hätte meine

Richter gerne mit dieser vertraulichen Mitteilung belästigt... aber sie verhörten mich nicht mehr.

Da war es, daß sich das Wunder begab. Oh, ein sehr verschwiegenes Wunder. Ich hatte keine Zigaretten mit. Da einer meiner Kerkermeister rauchte, bat ich ihn mit einer kleinen Bewegung, mir eine abzutreten, und ich versuchte ein vages Lächeln. Der Mann reckte sich zuerst, führte langsam die Hand an seine Stirn, hob die Augen, so daß er nicht mehr auf meine Krawatte, sondern auf mein Gesicht blickte, und zu meiner größten Verblüffung machte auch er den Versuch eines Lächelns. Es war wie der Anbruch des Tages.

Dieses Wunder löste das Drama nicht, sondern schaffte es ganz einfach aus der Welt — wie das Licht den Schatten. Es gab kein Drama mehr. Dieses Wunder änderte nichts, was man hätte sehen können. Die schlechte Petroleumlampe, der Tisch mit verstreuten Papieren, die an die Mauer gelehnten Männer, die Farbe der Gegenstände, der Geruch, alles blieb so wie es war. Aber jedes Ding war bis in seinen Kern verwandelt. Dieses Lächeln machte mich frei. Es war ein ebenso endgültiges, in seinen Folgen selbstverständliches und nicht mehr umkehrbares Ereignis wie die Erscheinung der Sonne. Es öffnete den Zutritt zu etwas Neuem. Nichts hatte sich geändert, alles war verwandelt. Der Visch mit den zerstreuten Papieren lebte, die Petroleumlampe lebte, die Mauern lebten. Die Langeweile, die aus den toten Gegenständen dieses Kellerloches sickerte, verflüchtigte sich wie durch Zauberei. Es war, als hätte ein unsichtbares Blut wieder zu kreisen begonnen, das alle Dinge zu einem einzigen Körper zusammenband und ihnen so ihre Bedeutung wieder zurückgab.

Auch die Männer hatten sich nicht gerührt, aber während sie mir noch vor einem Augenblick entfernter erschienen waren als vorsintflutliche Geschöpfe, rückten sie nun in lebendige Nähe. Ich hatte einen außergewöhnlichen Eindruck von Gegenwart. So ist es: von Gegenwart! Und ich fühlte mich verwandt.

Der Junge, der gelächelt hatte, und der eine Sekunde vorher nur eine Funktion, ein Werkzeug, eine Art riesiges Insekt gewesen war, ließ sich ein bißchen linkisch an, beinähe schüchtern, von einer wunderbaren Schüchternheit. Nicht daß er weniger brutal als ein anderer gewesen wäre, dieser Terrorist! Aber die Geburt des Menschen in ihm machte sein verwundbares Teil so hell. Wir geben uns ein großartiges Ansehen, wir Menschen, aber heimlich im Herzen kennen wir das Zögern, den Zweifel, den Kummer.

Noch war nichts gesagt worden. Aber alles war entschieden. Ich legte meine Hand dankend auf die Schulter des Milizsoldaten, als er mir die Zigarette reichte. Das Eis war gebrochen! und da nun auch die andern Soldaten wieder Menschen geworden waren, trat ich in das Lächeln aller ein, wie in ein neues und freies

(Deutsch von Josef Leitgeb)

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