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Der erste Tag

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Als ich mich unter einem brütenden Augusthimmel mit meinen Gefährten in mühseligem Zug dem Lager näherte und sein Tor sah, kam mir durchaus nicht Dante und seine schon ein wenig abgedroschene Inschrift in den Sinn; eher mahnten mich der Nachmittag, die Zeit der noch nicht eingebrachten Ernte, die friedlich atmende Landschaft und vor allem das Weitoffenstehen des Tores, das wie verlassen dastand, an die Gastfreundschaft des Herrn Richters Soplica in dem bekannten Epos von Mickiewicz. Kaum aber hatten wir das Tor durchschritten, waren wir mitten in der Fülle der Lagereindrücke. Mit Lärmen umringten uns die Kapos. Was wäre ein Hitler- KZ ohne Kapo gewesen? Schwer vorzustellen! Erst sie gaben ihm seine Farbe und seine Besonderheit. In diesem Augenblicke taten sie uns nichts zuleide, obschon die Lagerschichten uns belehrt hatten, wie gerne die Kapos zusammen mit SS-Leuten gerade den Neuankömmlingen sofort zu kosten gaben, was sie hier erwartete. Wir wurden nicht mit einer solchen spontanen Feier in die Lagergemeinschaft aufgenommen; nur mit Geschrei und harmlosen, wenn auch saftigen Grobheiten belehrten sie uns über unsere gegenwärtigen Pflichten. Vom Kopf bis zum Fuß staubig aber noch behäbig angezogen, mit Gepäckstücken in den Händen, machten wir den Eindruck einer Karawane von Reisenden, die von Räubern überfallen wurde. In Reih und Glied stellten wir uns der berüchtigten Mauer entlang auf; vor uns amtierten an kleinen Tischen würdigere Kapos. Ihnen übergaben wir alles, was wir mit und an uns hatten. Das hätte rasch vor sich gehen können, aber im Lager geschah alles auf die verwickelte Art, die in vielen Vortäuschungen wurzelte. Man brachte riesige Säcke aus vor- treflichem Papier. Jeder Von uns warf seine Sachen in einen eigenen Sack, dann wurden diese zusammengebunden und bezeichnet. Wir mußten mehrmals unterschreiben, denn die kleineren Wertgegenstände wurden in Umschlägen verwahrt. Von Zeit zu Zeit wahrsagte ein Kapo mit besonders vertiertem Gesicht:

„Du meinst selbstverständlich, daß wir das alles klauen."

Nach diesem traurigen Lustspiel, das den endgültigen Abschied von unserer Habe bedeutete, waren wir wie Kinder, die eben zu neuem Leben geboren wurden, auf einer schon ganz anderen Welt, und als solche begannen wir unser Da

sein mit einem Bad. Aus den Leitungen im Baderaum pfiff kein Gas, sondern sprudelte wohltuend warmes Wasser. Nachdem wir hierauf durch die Hände der Haar- und Bartscherer gegangen Waren — fachkundige, gewandte und genaue Hände —, bekamen wir unsere Gewänder, leider keine sauberen Flanellanzüge mit den schönen blauen Streifen, sondern ein Flickwerk aus Fetzen, die schon zum xtenmale von Leichen her-: untergerissen worden waren. Man warf mir zerrissene Schuhe mit Holzsohlen zu, die dringend einer Ausbesserung bedurft hätten. Auf dem Wege zu unserem weit abgelegenen Block weckte ich in meiner Erinnerung einst an Kirchenstiegen gesehene Bettlergestalten auf und mußte feststellen, daß ich — lumpig, ermattet, abgehärmt, vor Hunger aufgedunsen, meine Holzschuhe in den Händen und bestrebt, jedem spitzigen Stein am Wege auszuweidien — in diesem Augenblicke alle Rekorde nicht nur wirklichen Elends, sondern auch jener Erfindungsgabe schlug, mit der diese Ärmsten sich öfter zu besonders wichtigen Auftritten bei Kirchweihen aufputzten.

Vor dem Block begegnete ich einem Bekannten, einem ungarischen Aristokraten. Auf meine Bitte brachte er mir in einer Schüssel etwas Trinkwasser, das erste nach fünfzig Stunden; mit einem Gefühl unbeschreiblicher Wonne nahm ich den kühlen Schatz in die Hände. Es wurde schon Abend und es war schon nach dem Appell, Wie die Zeit der Rėkreation nach den Unterrichtsstunden der Schule! Wir gingen in die Holzbaracke. Als mein ungarischer Führer mir in schönem Französisch die Einteilung des Blockes erklärte und mich mit der Tagesordnung vertraut machte, konnte ich meinen, ich sei auf das Schloß seiner Väter gekommen. Und als er mich unter Einhaltung aller gesellschaftlichen Formen den prominenten Häftlingen vorstellte, fühlte ich mich fast als Gast in einem vornehmen Klub.

Wir sollten in einem der beiden Säle auf dem Boden schlafen. Das wäre nicht so schlecht gewesen. Aber wie viele Quadratmeter wurden uns zugeteilt und wie viele Hunderte waren wir da? Wie viele entfielen auf einen Strohsack? Hat jemals ein Maler einen solchen Rausch von Körpern auf die Leinwand zu werfen gewagt? Man befahl mir, an der, Wand und in einer Ecke zu liegen; das war ein ausgesprochenes Lächeln des Schicksals. Denn das Holz drückte zwar unbarmher

zig, aber beim Drücken behauptete es wenigstens nicht, ich sei ihm lästig und störe seinen Schlaf. Mein Leiden war also von zwei Seiten ausschließlich physischer Natur, und das war im Lager schon ein großes Glück. Mein Schlaf wurde das Ergebnis des Ringens meines vollkommen erschöpften Körpers mit allem anderen; aber nach Mitternacht wurde ich endgültig wach!

Es fielen Kanonenschüsse; nach einer Weile bekam ich das Brummen anfliegender Flugzeuge zu hören. Das eine wie das andere nahm rasch zu. Die Schüsse fielen immer dichter und das Gebrumme der Flugmotoren wurde zum Dröhnen. Plötzlich glänzten über dem Lager Lichter auf, die langsam niedersanken und es mit einem grellen Kranze umgaben. Jetzt waren wir, deren Leben vor kurzem noch keinen Wert hatte, vor jeder Gefahr geschützt. Die Artillerie raste ringsum. Die Flieger waren genau über uns. Der Anflug war gewaltig, ununterbrochen kamen Flugzeuge nach und das Dröhnen minderte sich nicht. Der Kanonendonner wuchs immer noch an, war aber unregelmäßig, wie fiebrig. Einmal war es still, um dann wieder mit verdoppelter, betäubender Wut sich zu entladen. Es kam mir vor, eine vielköpfige Meute ungeheurer Wachhunde, die unseren Drahtpferch bewachten, bedrohte, an ihren Ketten reißend, die Frechlinge, die die Stille der deutschen Nacht störten. Die Baracke erzitterte und erbebte. Die Wand, an der ich lag, bog sich und stieß mich immer wieder von sich ab. Noch mehr als das Donnern des Anfluges, als das Brüllen der Kanonen, als die zauberhafte Beleuchtung durchdrang mich die dramatische Wucht der Gegensätze, die in dem erlebten Geschehnis steckte. Wir hier unten zusammengepferchte, mißhandelte Sklaven und über uns hoch, aber doch so greifbar nahe, unter den Briten auch Polen, zwar anders als wir, frei, fröhlich und siegreich; wenn auch dort vielleicht unsere Brüder und unsere Söhne waren, sie flogen an uns vorbei, nur auf die Ausführung ihrer Aufgabe bedacht, ohne auf die deutschen Kanonen und auf unsere Gefühle und unsere Sehnsüchte Rücksicht zu nehmen, die zugleich mit den feindlichen Geschoßen zu ihnen empordrangen, mit diesen Geschoßen sie im Raume suchten. Und wir versenkten uns hörend in die Stimme der Flugzeuge, in ihre ruhige, ausdauernde, hartnäckige Stimme, die hier in unserer Baracke wie die Stimme des britischen Imperiums selbst klang, das gleich ihnen sich durch nichts aus der einmal gewählten Bahn abdrängen ließ, das gleich ihnen ruhig, ausdauernd und hartnäckig zum unausbleiblichen Siege schritt. '

Und heute noch, wenn ich mich an die damaligen Eindrücke erinnere, muß ich gestehen, daß diese Stunden meiner ersten Nacht in Mauthausen schön waren.

Die Nächte im August sind noch kurz, und bald schreckte der scharfe Ton der Morgenglocke manche aus dem Schlafe; viel mehr aber riß er aus ihren Wachträumen. Denn die, die nicht schliefen, dachten an die Freiheit und an ihre Schätze, die sie vorher nie richtig zu werten gewußt hatten. Nach dem Morgenläuten konnte man nicht mehr träumen, denn das ganze Denken richtete sich auf den Kampf mit den Vielen Übeln des Tages. Die Verbindung sehr unbedeutender Tätigkeiten mit sehr großen Schwierigkeiten war eine von den Plagen des Lagers, zwar eine Von den milderen, aber dafür andauernd. Die in der Freiheit belanglosesten Dinge nahmen hier das Ausmaß von Lebensfragen an.

Dafür gab es drei Ursachen. Die Zusammenballung und der Wettstreit untereinander, dann die Eile, die nie begründet, aber immer verlangt war, und endlich die Einmischung der Kapos, die immer feindlich war und alles erschwerte. Schon die Kleidung, die so bescheiden war, in Ordnung zu halten, war nicht leicht. Noch viel schwieriger aber war der Aufbau der Lagerstätten und der Decken. Das mußte nicht nur genau, sondern einfach kunstgerecht ausgeführt werden, wobei nicht zu unterschätzende Strafen drohten. Es war auch eine Künst, sich an die wenigen Waschgelegenheiten heranzudrücken.

Da wir zum Quarantäneblock gehörten, mußten wir noch nicht äüf den großen Platz marschieren, wo sich zweimal im Tage die unzähligen Reihen der Häftlingsärmee zum Appell aufstellten.

Wir stellten uns auf dem schmalen Streifen zwischen unserem und dem Nachbarblock auf. Hier sahen wir nur die Wände und Dächer der Baradcen, die Tore und die Drahtverhaue und nur der Himmel über uns war uns ein Beweis, daß es außerhalb des Lagers noch etwas gab. Er war das Bindeglied z'wischen uns und der Welt. Jetzt schwebten auf ihm, hoch oben im Blau verloren, weiße, scharf umrissene Wölkchen, die kleinen Propheten andauernd schönen Wetters. Der Tag versprach schon heiß zu werden, aber ein sanfter Lufthauch kühlte uns angenehm ab. Wir standen da und warteten und plauderten halblaut. Wir, die gestern angekommen waren, hatten uns schon an die uns umgebende Stimmung angepaßt. Wir verstanden sie, vereinigten uns mit ihr und staunten über nichts mehr, als wären wir Schon seit langer Zeit hier. Wir verstanden zum Beispiel ausgezeichnet, daß das Leben der Katze des Blockführers, die jetzt eben unschuldig vor uns spielte, wertvoller war als das Leben eines jeden einzelnen von uns. Wir plauderten ruhig und heiter über verschiedene zufällige Dinge. Auf die ersten Eindrücke des Lagers antwortete unser seelisches Empfinden mit unterbewußter Geduld, mit Gleichmut und Stumpfheit.

Und doch glühte unter dieser Decke der Gleichgültigkeit und der Abstump

fung in mir und in jedem von uns der Wille zur Freiheit, es glühte eine Sehnsucht, bis zur Weißglut erhitzt. Was für einen Ausbruch unserer Gefühle hätte es in dem Augenblick gegeben, wenn auf einmal die wunderbare Kunde erklungen wäre: „Der Nationalsozialismus ist zusammengebrochen, Schluß mit den Lagern!" Aber noch kündete nichts die unmittelbare Nähe dieses uferlosen Glücks an. Die ersten Tage sollten für uns sogar ohne Nachricht aus der kämpfenden Welt bleiben.

Bewegung entstand in unseren langen Reihen. Der Augenblick des Appells nahte, wir streckten uns alle und richteten uns aus, wobei jeder den anderen bis auf den Zentimeter überwachte. Sogleich wird im Stacheldrahttor die Gestalt eines SS-Mannes erscheinen, sogleich wird eine feierliche Stimme erschallen: „Mützen ab!“ und wir werden unsere Mützen schneidig in Schwung setzen — heute und noch viele, viele Male.

Wie deutlich, wie greifbar sehe ich das Bild dieses unseres ersten Appells, wie wir uns streckten und geduldig ausrich- tetenj und über uns lag der in seiner Bläue unendliche, zur Freude geschaffene Himmel prachtvoll ausgebreitet, der stille Himmel eines Augustmorgens.

Aus dem Polnischen übersetzt von Eustachy Swiezawski

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