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Wir zögerten ni

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In welche herrliche Landschaft waren wir verschlagen. Los Angeles, wozu Hollywood gehörte, zog sich über Hügel hin und war so groß wie eine Provinz. Endlos die Hauptstraßen, durch die vom Morgen bis in die Nacht die Autos roll--ten. Es gab über eine Million Autos, wer bewegte sich überhaupt zu Fuß, man ging zu Fuß nur in die nächste Nachbarschaft, zu einem market oder einer Haltestelle.

Man fuhr; die Straßen waren weithin unbebaut, dann stellten sich irgendwo wieder Häuser ein, dann gruppierten sich einige um ein Geschäftszentrum mit Läden, Kinos und drugstors. Mächtig entwickelt war als solches Zentrum Down-town in Los Angeles, mit großen Warenhäusern, Geschäften jeder Art, mit Kinos, Restaurants, Theatern, Cafeterias. Es gab Kirchen und Bibliotheken. Ich sah ein mexikanisches Viertel. In der Mitte lag der Pershing Square.

Man fuhr 'nach Santa Monica hinaus,-das lag am Meer, es war eine herrliche Gartenstadt, wo einige unserer Freunde wohnten. Oft lagerte man sonntags an der Beach, im heißen Sand, wo Tausende kamen, nicht nur sonntags, badeten, unterhielten sich mit Wasserspielen, setzten sich in die Cafes und Erfrischungslokale, Händler zogen über den Strand und boten feil: Hotdogs und Dougnuts. Weiter entfernt lag Pazific-Palisades.

Während der fünf Jahre sah ich Hollywood im Frieden, im Krieg und zuletzt beim Waffenstillstand. Das große politisch-militärische Geschehen warf nur leise Wellen an unseren verlorenen Strand. Hier war man nur Zuschauer oder Leser und Hörer. Was tat ich, was konnte, was mochte ich tun? Ich beobachtete die Menschen auf der Straße, in den Lokalen und in Gesellschaft, wie ich immer tat. Ich las Zeitungen und Zeitschriften und studierte die Bücher, die mir zugänglich wurden. Ich hörte viel Radio. Ich sammelte während dieser Jahre Zeitungsausschnitte und Bildmaterial aus Zeitschriften. Ende 1940 gab es den Wahlkampf um die Präsidentschaft, Roosevelt gegen Wendell Wilkie, 1944 den Wahlkampf Roosevelt gegen Dewey. Dann der plötzliche Tod Roose-velts, nachdem der Präsident schon, wie die Kinos und Photos zeigten, bei den berühmten vorangegangenen Auslandsreisen nur mit Mühe sich aufrechtgehalten hatte. Es gab das Völkertreffen in San Franzisko und die Bildung einer Liga der Vereinten Nationen. In den Kirchen wurde für das Gelingen des Plans gebetet.

Während dieser langen Zeit ruhte es nicht in mir. Ich dachte an die Reise von Cahors nach Mende, und ich fühlte, diese Reise war noch nicht beendet. Es wurde mir von Monat zu Monat klarer.

Unser Jüngster besuchte eine Junior-High-school. Sie gefiel ihm, er paßte sich rasch an, ich nahm einmal an einer Unterrichtsstunde als Besucher teil und konnte das Ganze nur loben, besonders den Gemeinschaftsgeist, die Kameradschaft, die Abwesenheit jeder Art von Obrigkeit. Aber in einem wichtigen Punkte sagte mir diese Art Belehrung und Erziehung doch nicht zu. Und darüber kam es zu Gesprächen zwischen meiner Frau und mir. Es zeigte sich, wir waren einer Meinung.

Man konnte den Jungen nicht so aufwachsen lassen, ohne Wissen von dem, was die Welt und die menschliche Existenz war, ohne Kenntnis von unserem Los, ohne Weg und ohne Halt. Denn weder der Unterricht in Sprachen, Mathematik, Naturkunde noch der gute Gemeinschaftsgeist konnte es leisten. Woran sollte eine junge Pflanze sich hochranken? Wir waren selbst so aufgewachsen. Wir hatten Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften geschluckt, mit welchem Ergebnis? Wie hatte es uns geformt? Der Junge sollte besser geführt werden.

Wir sprachen vom Christentum. Wie kam ich darauf, davon zu sprechen? Es war so: ich ließ die Dinge, wie es meine Gewohnheit war, sich hinziehen, ohne sie zu bedrängen. Aber wie ich den Jungen so sah, schien es mir, man konnte zwar mit sich so umgehen und die Dinge so hinziehen lassen, aber ihn--so“ zulassen, war unrecht.

Ich hatte mich inzwischen nicht bewußt um die christlichen Dinge bemüht. Ich ließ sie in mir arbeiten. Ich wartete, bis die Dinge reif wurden und etwas an mein Bewußtsein kam.

Wir waren, meine Frau und'ich, nun der Meinung, man müßte die bisherige unernste Art unseres Hinlebens beenden. Wir konnten den Jungen nicht in derselben Weise an die Schule, den Staat und die Dinge des Tages weggeben, wie man uns ihnen einmal hingegeben, weggegeben, hingeworfen hatte, und 1 wir sollten sehen, wie wir mit ihnen fertig würden, falls sie nicht vorher mit uns fertig wurden. Ein wirkliches Koordinatensystem mußte das Leben haben, und keinen bloßen, leblosen Rahmen.

Der Tag, die Politik, Krieg und Frieden durfte nicht das A und O der Existenz bilden. Unter dem Namen: „Der Ursinn“ stand mir ja seit lange eine Wahrheit fest, ich hatte sie dunkel im

Gefühl und fand sie sichtbar bestätigt m der Natur, in ihren großen und kleinen Dingen — aber weder auf mein Handeln noch auf die Ordnung des täglichen Lebens gewann diese Wahrheit Einfluß. Sie blieb stumme Wahrheit, regloses Wissen. Ein Kind ließ sich damit gewiß nicht führen, und ich selber konnte sie nicht in meinen Alltag tragen. Nun sollte das, was ich in mir trug, an den Tag. Es verlangle danach. Es war soweit. Das Herz war voll und der Mund ging über.

Die Katastrophe, in die ich hineingerissen war, sollte aufbewahrt weiden und der Verschüttung durch die Zeit entgehen. Es sollte ihr ein Denkmal gesetzt werden. Und das sollte kein bloßes Erinnerungszeichen sein.

Das Christentum — war ich schon soweit? Womit? Worin? In Gedanken, in formulierbaren, war ich kaum fortgeschritten. Aber die dunkle Neigung, der Hang, ja der Wille,war gebieterisch geworden. Mir war sicher, obwohl ich nicht wußte, warum: es war das Christentum, Jesus am Kreuz, was ich wollte. Ich hatte keine Schritte getan, um mich ihm zu nähern, ich hatte keine Bücher gewälzt. Kaum, daß ich einmal in die Evangelien blickte. Ich mochte es nicht. Ich mochte nichts tun, um mich zu nähern — aus Scheu, denn ich fühlte, jede Bewegung in dieser Richtung, von mir ausgeführt, konnte falsch sein, gefährlich. Wie ein zartes Flämmchen hielt ich, beschützte ich ein Gefühl in mir, das da seit langem brannte. Es brannte wahrhaftig verloren, wie eine einzelne Altarkerze in einem schwarzen Dom.

Als es darum ging, sich um die Erziehung des Jungen zu kümmern, öffnete ich'den Mund. Ich sprach mit meiner Frau und brachte das Gespräch auf das Christentum. Wenn auch über meine Gedanken das Christentum noch keine Kraft hatte, mein Schiffchen suchte diesen Kurs und ließ sich nicht aufhalten. Ich empfand eine große Warme, eine unbedingte Sicherheit in mir, wenn diese Dinge in mir auftauchten. Ich sollte mich jetzt konkreter und bewußter mit ihnen befassen, die ich geglaubt hatte, noch weiter sprachlos, formlos als Gefüjil in mir zu bewahren.

Ich überzeugte mich in den Bibliotheken: es gab nicht nur die alte Spaltung in zwei orthodoxe Kirchen, und nicht nur die jüngere Spaltung in eine orthodoxe und reformierte protestantische Kirche, sondern noch innerhalb der abgespaltenen protestantischen Kirche gab es hunderte Spielarten, verschiedene Bekenntnisse und Sekten. So viele Kirchen und Kirchlein, und alle gruppierten sich um das Kreuz.

Wo war die Wahrheit, wohin sollte ich mich wenden? Wie sollte ich mich orientieren, was diese verschiedenen Bekenntnisse voneinander trennte — denn ich mußte zu einem bestimmten Bekenntnis gehen und konnte nicht isoliert und im leeren geistigen Raum bleiben. In welche Haut sollte ich schlüpfen?

Man mußte sich schon umsehen; es war eine zum Verzweifeln schwere Sache. Wie sollte das überhaupt sein, daß man eine Religion „wählte“ und sie sich quasi aus einer Kollektion aussuchte! In der Tat, nachdem ich einige Wochen in Bibliotheken gesucht und gelesen hatte, sah ich keinen Weg. Diese Bemühung ermüdete und war sinnlos. Ich hatte sogar Furcht, dabei das Flämmchen in mir auszulöschen.

Ja, man lebte in einem fremden Land. Die Sprache verstand und sprach ich unvollkommen, und Menschen kannte man wenig. Gelegentlich hatten wir, wegen der Verbindung mit Europa, mit einem Unitarier zu tun. Es war ein praktischer Mann. Ich las, was also diese Unitarier meinten, planten und betrieben. Es war nicht schlecht, wie vieles andere, wovon man hörte, nicht schlecht war; aber es berührte mich nicht, sie besaßen nicht den Schlüssel zu mir.

Wie sich aber schon auf der Reise, bei der Flucht, so oft der Finger Gottes gezeigt hatteT so tat er es jetzt. Und nachträglich meine ich: es war eigentlich selbstverständlich, nein, naheliegend und zu erwarten, daß er sich hier einmischte, der Himmlische, wo es sich um den Weg zu ihm selber handelte. Wir standen in freundschaftlicher Verbindung mit einem Kunsthistoriker, einem deutschen Gelehrten, der erst vor kurzem mit seiner Familie Deutschland verlassen hatte. Er war Westfale und aus einem frommen katholischen Hause. Mit ihm kamen wir ins Gespräch, auch über das Thema, das uns beschäftigte, und da meinte er: wir wohnten ja in der Nähe einer Kirche, an der gute, gebildete und aufgeschlossene Priester waren, eine jesuitische Kirche. Die Priester seien gewiß zu Besprechungen bereit.

Es kam zu einer Verabredung mit ihnen. Die Priester wußten, was wir wollten. Wir kamen oft. Von uns wurde es aufgefaßt als eine Gelegenheit, sich zu informieren. Es wurde rasch mehr und etwas anderes.

Man gab uns Katechismen in die Hand. Und so verlief die Stunde: der , Priester las einen Paragraphen oder auch mehrere und erläuterte sie. Das war uns recht, und so bekam man eine Vorstellung und lernte außer den Paragraphen noch mehr kennen. Man fragte und erhielt Erläuterungen. Es war schon nicht mehr eine Information; es wurde eine Belehrung, in die man aktiv hineingezogen wurde.

Ich nahm an den Stunden teil, wie gesagt, um über den christlichen Glauben etwas zu erfahren aus dem Munde eines Katholiken. Ich wollte wissen, wie der katholische Glaube das Christentum, die Lehre von dem Gekreuzigten, vom Gott am Kreuz, begriff, aufbewahrte. Ich nahm Kenntnis, zunehmend mehr Kenntnis. Aber was bedeutet Kenntnis in diesen Dingen?

Da war zunächst der Priester. Wir sprachen während der Monate mit dreien, denn die Belehrung zog sich über Monate hin. Der eine ging nach San Franzisko, und der uns am längsten lehrte und aufklärte, war der Pfarrer dieser Kirche, ein ernster und entschiedener Mann, und dann war da noch ein jüngerer Priester, alle vom Jesuitenorden. Es war merkwürdig, daß ich auf diesen Orden stieß, denn mit ihm und seinen Angehörigen hatte ich mich jahrelang in Paris befaßt, in meinem Südamerikaroman, der von der Gründung einer christlichen Republik in Paraguay erzählte. Männer also dieses christlichen und sehr aktiven Ordens saßen uns gegenüber, sehr gebildete Männer, die mir, obwohl sie .Jesuiten“ hießen, gar keinen Schrecken einjagten. Sie gaben sich in ihrer sicheren Gläubigkeit, und was sie sagten und wußten, entbehrte jeden aggressiven Charakters. Sie waren Menschen, deren Charakter und Haltung sichtbar vom Christentum geformt war. Sie waren Christen und Priester, so wie Menschen Christen und Priester sein können. Es tat wohl, vor ihnen zu sitzen und ihnen zuzuhören und zu erfahren, was sie überlieferten von den irdischen und himmlischen Dingen. Sie übermittelten uns den christlichen Glaubensschatz, so wie ihn die alte und jetzt katholisch genannte Kirche aufbewahrte und behütete.

Was für greuliche Dinge hatten wir früher gerade über diese Kirche gehört. Sie sollte eine gräßliche Entartung, Entstellung des Christentums geben. Sie sollte eine Fratze sein, ein Wust von Aberglauben. Der größten Verlogenheiten, ja Verbrechen wurde sie beschuldigt. Aber Vertreter dieser Kirche, Priester, saßen vor uns, die wie wir über einen Verstand verfügten und realistisch, naturwissenschaftlich gebildet waren. Es sollte ihnen schwer fallen, uns zu überrumpeln. Nun, wir erlebten mit ihnen keine Teufelei. Es war etwas ganz anderes.

Das reiche, pompöse Äußere vieler katholischer Kirchen hatte man früher mit ästhetischem Interesse zur Kenntnis genommen, wie sich das für Gebildete gehört. Kirche und Religion war zu Kunst verblaßt. Jetzt ging es uns nicht um Kunst und um das herrliche Äußere. Wir traten in das Innere ein, und hier war Religion.

Die Priester entwickelten Paragraph nach Paragraph des Katechismus. Nicht alles verstand ich, nicht alles wurde durchsichtig und plausibel. Aber darauf kam es nicht an. Es konnte schon dies und jenes unklar bleiben und war dennoch nicht falsch. Ich war in ein uraltes, weitläufiges Gebäude eingetreten. Man führte mich durch Saal um Saal, durch viele Säle, über breite Treppen, durch hallende Korridore. Man öffnete diese Tür und jene. Ich blickte in neue, weitere Räume, helle und dunkle. Es war nicht nötig, daß ich das ganze Gebäude besichtigte und in jedes Zimmer eintrat. Für vieles wird sich noch Zeit finden. Die Gelegenheit wird es mit sich bringen.

Es war klar, wenn wir uns zu den Priestern aufmachten, daß wir nicht mehr zu einer Information, sondern zu einer Vorbereitung, zu einer Instruktion gingen; und daß wir mehr und mehr bereit waren, ja herzlich wünschten, zu dieser Gemeinschaft zu gehören, deren geistige Grundlagen diese waren, deren Mitglieder sich dieses Bild von der Welt, von unserer Existenz und unserem Geschick machten und deren Vertreter so waren und so sprachen wie die Jesuväter.

Es war uns nicht zweifelhaft, daß wir zu ihnen gehören wollten, ja schon zu ihnen gehörten. Denn die Begegnungen und Gespräche mit ihnen, das Nachdenken, Vorfühlen und Nachfühlen, das Aufnehmen der mitgeteilten Lehren erfüllte uns mit Freude, ja mit einer Seligkeit, wie wir sie nie empfunden hatten.

Der Finger Gottes! Das Zeichenl Nun wurde das Zeichen in dieser Form gegeben, in dem Glücksgefühl. Wie noch zweifeln, ob man auf dem rechten Weg war.

Wir zögerten nicht, den Weg zu gehen.

Au Alfred Döblin, „Schicksalsreise — Bericht und Bekenntnis“, Verlag Josef Knecht, Frankfurt am Main.

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