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Die klassische Armut

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Idi hatte einmal — so fangen alle Erzählungen an derer, welche durch die überstürzenden Ereignisse der letzten Jahre alles verloren haben. Die Erzählungen verlieren sich dann in der immer schöner werdenden Vergangenheit und klingen unnötigerweise in ein lautes Wehklagen aus.

Auch ich wohnte einmal in einem Steinhaus in der goldenen Stadt Prag. Ein Aufzug zog mich über die Stiegen, ich ging über weiche, leuchtende Perserteppiche, andere kochten für mich das Essen, andere wuschen mir die Wäsche, nähten meine Kleider. All das hat man mir genommen und meine ganze Heimat dazu. Es ist aus, ist vorbei wie ein schönes Kino- oder Theaterstück. Geht man aus einem eindrucksvollen Theaterstück, so freut man sich um so mehr, je schöner es war. Niemand bedauert, daß es aus ist. Man denkt gerne daran zurück und erzählt davon. So soll man auch die Geschichte des sorglosen Reichtums in die schönen Erinnerungen einreihen. — Die Szene mit dem stolzen Haus ist vorbei und das Leben geht weiter.

Als ich einmal zur Zeugenaussage wegen eines Verkehrsunfalls bei Gericht vorgeladen war, irrte ich herum, bevor ich das Ver- hand’ungszimmer fand, und kam so auch bei den Gefängnissen vorbei. „Wie mag es sein, wenn man hinter Gittern sitzt?“ dachte ich mir. Als die Geschichte mit dem Reichtum am 9. Mai 1945 ein Ende mit Schrecken nahm, landete ich im Gefängnis. Man warf nämlich alles, was irgendwie deutsch war, nach Kriegsende in Prag ins Gefängnis. Waren es Urgroßmütter in biblisch hohem Alter oder wares ein eben Geborenes. Waren es alte Prager Deutsche, deren Familiengeschichte eng und ruhmreich mit der Geschichte Prags verbunden ist; waren es Flüchtlinge vor Bomben und Fronten aus allen Richtungen, die in der Nacht durch Prag kamen und die die Prager Burg — den Hradschin — nie sahen und nicht kannten.

Jetzt hatte ich nichts, gar nichts — nicht einmal die Freiheit. So saß ich hinter Gittern, hinter Schloß und Riegel und kam mir ungemein gefährlich vor. So ging der erste Tag des Friedens zur Neige. Die alten Leute saßen in der Zelle in stumpfer Verzweiflung, das Geschehene nicht begreifend. Die kleinen Kinder haben sich hungrig in den Schlaf geweint. Den größeren Kindern haben wir das gegeben, was eine Mutter noch geben kann, wenn sie kein Bett hat für ihr Kind, kaum einen Platz zum Liegen, nichts Warmes gegen die kühle Mainacht — kein Essen. Not wird erfinderisch! Kriegführende Staaten erfinden Waffen und Abwehrwaffen — die Mütter erfinden für die Kinder Geschichten und Märchen, die neuer sein müssen als die von Andersen und Grimm, die so schön sein müssen, daß die Kinder alles darüber vergessen: Hunger, Not, Angst, Kälte, die letzten Tage der Revolution, das Schießen, Erschießen und die brennenden Häuser. Und was gelingt nicht einer Mutter! — Als es dann ruhiger wurde in der Zelle und es dunkelte, da dachte ich mich weit fort, hinauf in die Loge eines Theaters und sah von dort auf das Bühnenbild des Jammers. Die gedrängten, geschlagenen, hungrigen Frauen, Kinder, Greisinnen. Im Hintergrund das kleine Fenster mit den Eisenstäben. Auf dem kleinen Stückchen Abendhimmel, das hereinschaute, sah man eine Rakete aufsteigen, denn zur Feier des Sieges wurde am ersten Tag des „Friedens“ auf der Moldau ein Feuerwerk veranstaltet. Und immer wieder stieg eine Rakete bis hinauf zu unserem Stückchen Himmel. Ist ein Theaterstück sehr ergreifend, so vergißt man, wo man ist und lebt im Stück mit. Und ist das Leben sehr ergreifend, so muß man sich herausdenken aus dem Leben, hinauf in die Loge eines Theaters und gelassen von dort alles betrachten. — Es wurde Nacht, das Lied, das eine Sängerin vom Prager Deutschen Theater in irgendeiner Zelle leise in der Sprache des Gesanges — italienisch — sang, verklang. Die Raketen am Himmel tanzten länger oder kürzer und fielen ab aus unserem Stückchen Himmel hinter Gitter. — Und so fiel auch die kleine Klappe in der großen, festen Zellentüre und man reichte uns so viel Nahrung, daß "man die Tage überleben konnte, hatte man einen guten Magen und konnte man den Kleinen einreden: „Rohe Erdäpfel ißt man wie Äpfel.“

Einmal muß man ja daraufkommen, daß Mütter, Kinder und Greisinnen keine gefährlichen Menschen sind, und das große

Pankrazer Gefängnis in Prag blieb hinter uns. Man brachte uns als Sklaven auf ein Gut bei Rakovnik. Als ich als Kind in der Schule unter der Bank Sklavengeschichten las, habe ich nicht geahnt, daß ich noch so was selbst erleben werde, einschließlich des Sklavenmarktes. Ja, wo waren die Zeiten, wo man nicht einmal Kartoffeln schälte — und jetzt mußte man sie stecken und ernten. „Aber auf der ganzen Welt muß jemand säen und ernten", war mein Trösten für die andern. „Aber nicht übermüdet und mit leerem Magen, barfuß und in Kleidern aus Papiersäcken“, waren die schwachen Einwände.

Als ich mich zehn Stunden täglich bücken mußte, dachte ich an die dicken Kurgäste in den sudetendeutschen Bädern, die sich bei dem bekannten Orthopäden Dr. Thun in der Gymnastikstunde um teures Geld nach Papierschnitzeln bücken mußten, die er ihnen ausgestreut hat, um Bewegung zu machen; dachte an die Damen, die bei dem berühmten Doktor „Hungermayer“ um teures Geld hungerten, um schlank zu werden, bis manche auf der Straße zusammenbrachen. Werden die Menschen nicht gequält, quälen sie sich selber.

Früher einmal saß ich auf einer gepflegten Schloßterrasse, um uns ein blühendes Gut. Ich aß manierlich, und waren meine Finger von saftigen Früchten befeuchtet, spülte ich die Fingerspitzen in kristallenen Fingerschalen ab. Äußerte ich den Wunsch, in den Stall .gehen zu dürfen, dann sagte die Schloßherrin: „Kind, da machst du dir nur deine Füße schmutzig.“ Jetzt aß man mit den Händen aus einer alten Konservenbüchse, saß und schlief auf dem Stroh am Boden, hatte keine Kleidersorgen, denn man legte sich schlafen, wie man aus der Arbeit kam, ging an die Arbeit, wie man geschlafen hatte. Zum Waschen hatte man keine Gefäße, keine Seife. „Die Deutschen sind eine reine Rasse", ließ uns der Gutsherr sagen, „die brauchen keine Seife.“ Man war froh, durfte man in den Stall; denn es war einem das Tier näher als die Menschen.

Monatelang standen wir auf den Feldern, gebeugt und dürstend oder schwere Lasten tragend; sahen die Sonne steigen, sahen sie erlösend sinken. Nur das Läuten der Glocke klang über die weiten Felder, kündete den Mittag und den Abend an, und wir begannen zu begreifen, was Kirchcnglocken bedeuten, zu was sie rufen — die Glocken, die man im Reichtum so gerne überhört.

Auch das Landleben ging zu Ende. Denke ich an das zurück, muß ich an die vielen Flüche denken, mit denen jeder tschechische Bauer, Aufseher, Landarbeiter, Gutsherr seine Arbeit beginnt. Jedem belanglosen Auftrag schickt er einen Fluch voran, bekräftigt das Ende mit einem Fluch, spricht er zu Mensch oder Tier. Vielleicht findet das Volk in dem fruchtbaren Böhmen so wenig Zufriedenheit, gleich, ob es unter der öster- reichisdten Krone stand, seine Selbständigkeit ausprobierte, unter Deutschland sich beugen mußte oder unter den Schatten der eisernen Flügel Rußlands geraten ist, weil täglich soviel Flüche von der guten schwarzen Erde zum blauen Himmel aufsteigen.

Der nächste Akt meiner Armut spielt in einer alten, abgewohnten Wohnung im Sudetengau. Aber ich war glücklich, konnte ich wieder auf einem Stuhl sitzen und mit den Füßen baumeln und nicht, am Boden sitzend, die Beine wie ein indischer Yogi oder ein Taschenmesser eingeschlagen. Ein Teller, ein Löffel, ein Stück Seife sind Freuden, die andere freudlos über sich ergehen lassen. Die allerschönsten Spielsachen für Kinder bekommt man in keinem Geschäft, sondern es ist dies eine alte Kommode, die sie nach Belieben zerlegen können, von der sie mit einem Bügelbrett hinunterrutschen dürfen, Wände, die sie beschmieren dürfen — das alles konnte ich meinen glücklichen Kindern bieten. Meine Mitbewohnerin war unglücklich über die schäbige Behausung. Aber wollte sie putzen, so redete ich ihr es aus, denn das Ruinenhafte war der einzige Schutz gegen eine Wohnungskommission. Ich fand meine Behausung künstlerisch schön, die Küche mit der beim Essen leise, sachte herabfallenden Decke, das morsche Fenster, die Aussicht auf Dächer, Kamine und Höfe. Schön, zum Malen schön. Erst was alt und häßlich ist, ist schön zum Malen. Ich habe das an preisgekrönten Kunstbeilagen alter Zeitschriften und in Wohnungen wohlhabender Leute studiert. Man hängt sich ein Bild auf mit einer alten Ruine, aber nicht mit einem frisch renovierten Schloß. Ein schiefes Bauernhaus mit Strohdach, an der Leine bunte zerrissene Wäsche — aber nicht einen blühenden Landsitz mit gestickten, weißen Wäschestücken an der Leine. Kinder mit hängenden Strümpfen und Holzpantoffeln, aber nicht gebügelte und gestriegelte. Ein sinkendes Segelschiff in schäumenden Wogen, aber nicht einen stolzen Dampfer, außer in der Auslage von einem Reisebüro. Warum ist auf Bildern alles kitschig, was sauber und neu?

Und wieder fiel ein Vorhang. Ich glaube, es war einer aus Eisen. Ich fand eine neue Heimat in dem lieblichsten Land der Erde, in den ewigen Kulissen des schönen Österreich, das durchwebt ist mit zarter Mozart- Musik, beschwingten Strauß-Tönen. Das Land, nach dem es die ganze Welt zieht, um dort einmal sorglos glücklich zu sein. Das singende, liebliche, sorgenvolle Österreich.

Wenn die Leute sehr reich sind und sehr verwöhnt, so bauen sie sich ein Weekendhäuschen oder eine Skihütte hoch im Gebirge, um das Leben wieder unbequemer und komfortloser zu haben. Eigentümlich, wie es den Menschen zur Einfachheit hinzieht! Ich wohne in einem entzückenden Weekendhaus; in einer ewigen Sommerfrische, einer gemütlichen Skihütte. Auf meiner Adresse muß ich das Wort „Baracke und Lager“ schreiben.

Das riecht nach Ungeziefer und keifenden, aneinandergedrängten Menschen. Aber ich lebe bequemer als int Herzen der Großstadt — hygienischer als zwischen Stofftapeten, orientalischen Teppichen, Gobelin polstern: friedlich unter Menschen, die alles verloren haben und mit nichts wieder aufbauen — Unmögliches möglich machen.

Kommen Sie zu mir auf Besuch, so bringt nicht ein Mädchen auf dem Tablett die Visitkarte, sondern Sie können schon durch das Fenster winken: „Ich bin da“ und brauchen nur achtgeben, daß Sie nicht die mit Liebe gezogenen Fensterblumen knicken. Sie brauchen nicht achtzugeben, daß Sie auf dem spiegelglatten Parkett ausgleiten, brauchen keine Sorge haben, daß beim Erzählen die Zigarettenasche auf das Tischtuch fällt und ein Loch brennt. Denn wir haben keines — oh doch, eins. Und-als ich es unlängst auflegte, sagte mein Jüngster: „Gib das weg, jetzt essen wir.“ Da bin ich erschrocken. Was wird aus den Kindern werden, die so primitiv aufwachsen, ohne Kultur; aber liagt die Kultur in den Tischtüchern, Teppichen, gekachelten Badezimmern? — Sicher nicht. Kultur ist etwas, was wir unseren Kindern für das Leben mitgeben können,- gleichgültig wo wir leben, wie wir leben. Kultur ist etwas, was wir von innen ausstrahlen müssen, die kann uns kein Feind, kein Krieg — niemand nehmen.

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