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Welt apostcl Weißenstein

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Europa im Jahre 1911! Goldener Sonnenuntergang einer Epoche, die uns heute wie ein Paradies erscheint, auch wenn sie zutiefst aufgewühlt war. Die Schlagzeilen der Zeitungen waren frei von Haß und Blutgeruch. Eine neue Oper, ein aufsehenerregendes Buch, eine neue, radikale Kunstauffassung — das waren die Dinge, die die Welt erregten. Die Sensationen des Tages bildeten damals noch nicht die Vernichtung und Versklavung von Millionen Menschen. Die düstern Psychosen, die heute „politische Ideologien“ genannt werden, füllten nur die romantischen, wenn auch ungekämmten Köpfe einsamer Träumer, Narren und dilettantischer Heilsprediger. Die grillenhatten Erlöser der Gesellschaft und der Völker wohnten damals noch nicht in Reichskanzleien, sondern in Obdachlosenheimen. Man stieß auf sie in den dunklen Schwemmen, wo Kleinbürger politisierten, oder in den Cafes, die der Rendezvousort der Intellektuellen waren. Diese Kaffeehäuser, in Paris, in Wien und Berlin unter dem Namen „Cafe Größenwahn“ verspottet, waren nicht nur die Brutstätten von Propheten der revolutionären Kunst, sondern auch die intellektuellen Hexenkessel, in denen der Nachtmahr der Zukunft geboren wurde, — ein Nachtmahr, der jetzt Wirklichkeit geworden ist.

Unsere Geschichte beginnt in einem jener Kaffeehäuser. Es lag an einer Straßenecke der mystischen Stadt Prag, der Stadt der vielen Türme, der gespenstischen Schatten und seltsam zusammengewürfelten Originale. Als ich jung war, liebte ich dieses Cafe. Die endlosen Debatten inmitten der Wolken von Zigarettenrauch übten eine faszinierende Wirkung auf mich aus. Es war eine gespannte Atmosphäre von Kameradschaft und Malice, von rührender Zuneigung und giftiger, arroganter Kritik. Jeder junge Künstler mußte diese Feuertaufe in einem solchen Cafe „Größenwahn“ über sich ergehen lassen. Von ihr hing es ab. ob er in dem kleinen, erwählten Kreis derjenigen aufgenommen wurde, welche „bürgerliche Vorurteile“ in sich überwunden hatten. In seltenen Augenblicken wurde das Cafe zu einem Fegefeuer des Ruhmes, obgleich auch der Ruhm in den Augen dieser literarischen Stammgäste ein unentschuldbarer Rückfall in die Bürgerlichkeit war.

In einer nebligen Dezembernacht saß ich mit meinen Freunden in diesem Cafe, obgleich ich damals Soldat war. Ich hatte soeben mein Freiwilligen-Jahr als Korporal in einem k. u. k. Artillerieregiment beendet. Einige Wochen vorher war mein Gedichtband „Der Weltfreund“ erschienen. Das kleine Buch hatte ein gewisses Aufsehen gemacht. In Prag, meiner Heimatstadt, pflegte man sich über die Veröffentlichung von Gedichten zu mokieren. Ich hatte einen Vorteil meinen Freunden gegenüber, ich war ein „gedruckter Autor“, den einige Zeitungen besprochen, andere aber sarkastisch abgetan hatten. Ich war das Zentrum der jugendlichen Tafelrunde. Ich erinnere mich, daß wir eines Nachts über Dostojewski sprachen. Hatte es überhaupt jemals eine Nacht gegeben, da wir nicht Dostojewski zum Gegenstande unserer Debatte machten? Er war der Schutzpatron unserer Generation. Wir mochten gerade über Dostojewskis „Idiot“ gesprochen haben, als ein Mann, der diesem Roman entsprungen sein konnte, sich unserem Ti'sch näherte. Es war ein kleiner Mann ein Gnom, ein Kobold verwitterten Aussehens, obgleich er offenbar noch jung war. Er hielt seine Hände in merkwürdiger Art über dem Bauch gefaltet. Sie hingen herab wie ungefaltete Blätter. Der Kopf des Gnomes neigte sich gegen die rechte Schulter. Es war ein riesiger Kopf, den man, um der Wahrheit die Ehre zu geben, mit dem medizinischen Ausdruck Hydrocephalus bezeichnen mußte, über dem gewaltigen Bogen seiner Stirn lag eine wirre schwarze Haarsträhne. Unter den dünnen Augenbrauen warfen seine schönen dunklen Augen einen erschrockenen Blick auf uns. Niemals seither — auch nicht bei stummen Tieren — habe ich einen solchen Ausdruck wahrgenommen, in dem Angst, Begierde und Trübsinn sich dermaßen mischten. In frappantem Gegensatz zu dem gigantischen Schade! und den traurigen Augen stand der abnorm kleine, in der sich lyrisches Pathos, undeutliche kirschrote, herzförmige Mund, der Mund Artikulation und eine Art von gewollter eines Kindes, obgleich er, wenn geöffnet, Selbsterniedrigung seltsam mischten, be-mehr Lücken als Zähne zeigte. Zweimal gann er seine Lebensgeschichte zu erumkreiste der Gnom unsern Tisch. Sein zählen. Trotz ihres tragischen Inhalts gewaltiger Kopf sank tiefer und tiefer brachen wir zeitweilig in grausames Ge-auf die rechte. Schulter. Offenkundig war lächter aus. Aber Weißenstein verübelte er zu schwer für den schwachen Hals, uns unsere Heiterkeit nicht im gering-Der kleine Mann trug einen schwarzen, sten. Er nahm sie dankbar als eine Art fadenscheinigen Gehrock, der ihn wie ein von Beifall hin. Der Kobold war, wie in formloser Sack umhüllte. Es schien, als einem Märchen, ein dreizehntes Kind, hätte der Zwerg das Kleidungsstück aus Seine Eltern besaßen eine Schnaps-der Garderobe eines Riesen bezogen, destillerie und einen Ausschank irgend-Plötzlich fühlte ich, daß der Gnom hinter wo in Südböhmen. Weil seine mißratene mich trat. Eine Flüsterstimme traf mein Figur den Spott seiner Brüder und Ohr mit dem Singsang, mit dem Kinder Schwestern, der betrunkenen Bauern und Gedichte aufsagen: .Retten Sie mich, Herr Geschäftsreisenden herausforderte, hatte Werfel“, bat das Männchen, .der Anar- er frühzeitig die teuflische Natur des chist Wohryzek trachtet mir nach dem Alkohols erkannt. Er haßte den Schnaps, Leben. Er will sich rächen. Schauen Sie so wie er seinen Vater, den Schnapswirt, nur, dort...“ verabscheute. Eines Tages — es war .Vor allem“, sagte ich, .setzen Sie sich gerade Wochenmarkt — sprang der nieder.“ Ich rückte zur Seite und machte halbwüchsige Knabe auf den Schanktisch ihm Platz, und der kleine Mann sank, an und hielt vor allen Gästen eine Brandallen Gliedern zitternd, auf dem Sessel rede gegen den Branntwein, der seiner neben mir nieder. Familie den Lebensunterhalt bot. In ver-

„Wer ist Wohryzek, der Anarchist, und was haben Sie mit ihm zu tun?“ fragte ihn einer von uns, ohne sein Lachen unterdrücken zu können. Der gehetzte Mann duckte sich und ließ seine Augen über den Raum schweifen. „Er hatte heute eine Versammlung in der Redoutenhalle. Hunderte von Arbeitern waren anwesend, durchwegs arme, anständige Menschen. Wohryzek sprach über die Emanzipation der Frauen. Aber er ist ein Lügner, ein Betrüger, ein Rohling, ein Alkoholiker, dieser Anarchist Wohryzek. Ich verlangte das Wort und sagte: .Wenn Sie, Herr Wohryzek, für die Emanzipation der Frauen sind — wie kommt es dann, daß Sie täglich Ihre Frau schlagen?' Es kam zu einem furchtbaren Tumult, und Wohryzek erklärte, er würde mich umbringen. Schauen Sie nur, dort sitzt er...“

An einem Tisch unweit des unsrigen war soeben ein Mann aufgestanden. Er war ein Anarchist wie aus dem Bilderbuch, mit rabenschwarzen Locken, mit fliegender Künstlerkrawatte und einem Knotenstock in der Hand. Er starrte zu uns herüber. Ich war keine besonders martialische Erscheinung, aber ich trug eine Uniform und einen breiten Kavalleriesäbel. Ich erhob mich und erwiderte seinen feindlichen Blick. Wohryzek spuckte auf den Boden, griff nach seinem Schlapphut und verließ den Schauplatz.

„Sie haben mein Leben gerettet. Ich bin Ihr untertäniger Diener.“

„Wer, zum Teufel, sind Sie denn?“

„Ich bin das dreizehnte Kind meiner Eltern“, sagte er. Mit singender Stimme, ständlicher Wut schlug ihn sein Vater halbtot. Als sich aber am nächsten Markttag diese Szene wiederholte, schnürte ihm sein Vater sein Reisebündel, drückte ihm eine kleine Summe Geld in die Hand und warf ihn auf die Straße. Niemals mehr durfte er das Elternhaus betreten. Weißenstein fand eine Beschäftigung im benachbarten Landstädtchen, aber er kam aus dem Regen in die Traufe. Das Wirtshaus, wo er als Kellner diente, war der bekannteste Versammlungsort des gesamten Bezirkes. Die gefährliche Rolle des Alkohols hatte hier die Politik übernommen. Bald beobachteten die scharfen Augen des wasserköpfigen Buben, daß die Po litiker, die hier das Wort ergriffen, anders handelten als sie predigten, und daß sie niemals sagten, was sie taten. Die Sozialisten spielten im Hinterstübchen Poker mit den Fabrikanten. Der Hofpächter zahlte seine Rechnungen aus dem allgemeinen Unterstützungsfonds für Ernte- und Feuerschäden. Der Knabe wurde Zeuge aller dieser Widersprüche. Arm und ohnmächtig wie er war, beobachtete er in aller Stille diese Hölle von Lügen. Aber dann wiederholte sich die Geschichte in der Schnapskneipe. Eine Tasse mit Biergläsern in der Hand, begann der Knabe plötzlich eine wilde Anklagerede zu halten. Aus dem herzförmigen Munde kamen Skorpionen und Schlangen der Wahrheit. Er erhielt eine Tracht Prügel und wurde hinausgeworfen.

Er wurde später noch hundertmal geprügelt und hundertmal hinausgeworfen. Aus den unglaublichsten Stellungen und Berufen. Im Herzen des dreizehnten Kindes bohrte das Verlangen nach „flammender Gerechtigkeit“. Die Lava war von beizendem Rauch begleitet, der uns leider immer wieder zum Lachen reizte. Obgleich Weißenstein klein und schwach war, kannte der Mut, mit dem er Lügen, Ungerechtigkeit und Ausnützung bekämpfte, keine Grenzen. Er zeigte uns die Wundmale, die seinen Kopf und Körper bedeckten, die Zeugen eines erstaunlichen Feldzuges.

Seit jener Stunde wurde der „Dreizehnte“ ein Mitglied unseres Kreises. Am frühen Morgen pflegte er in meiner Wohnung zu erscheinen, eine Zeitung in der zitternden Hand. Er war eine Wünschelrute, die jeden Unfug aufdeckte. Seine scharfen Augen erspähten jede verborgene Teufelei in den Lokalnachrichten. „Etwas muß für die unehelichen Mütter getan werden“, klagte er. „Wissen Sie, Herr Werfel, daß die Insassen der städtischen Irrenanstalt geschlagen werden? Sie sollten ein Gedicht darüber schreiben!“

Wir bemühten uns, für den „Dreizehnten“ eine ständige Beschäftigung zu finden. Er hatte das Goldschmiedehandwerk gelernt. „Gold ist Gold“, pflegte er zu sagen — „da ist ein Schmutz.“ Ein Juwelier nahm endlich Weißenstein als Gehilfe an, und er verschwand für einige Wochen. Als er wieder im Cafe erschien, ließ er seinen Kopf hängen und hatte gerötete Augen.

„Die Menschen sind schlecht. Der Juwelier klagt mich wegen Verleumdung.“

„Was ist diesmal passiert, Dreizehnter?“

„Nichts. Alles was ich zu ihm sagte, war: ,Meister, Ihre Frau ist eine Poty-phar'.“

„Weißenstein, Sie sind unverbesserlich unverschämt!“

„Aber es ist wahr. Und nun will der Juwelier mich klagen. Helfen Sie mir, ich muß diese verruchte Stadt verlassen. Ich möchte nach Wien.“ Wir brachten das Reisegeld auf und sandten ihn nach Wien, in der Hoffnung, daß die Hauptstadt dem Weltreformer eine Unterkunft bieten würde. Drei Monate später war er wieder zurück. Er begrüßte uns mit fremdartigem Murmeln. Als er seinen Mund öffnete, sahen wir, daß ihm seine letzten Zähne ausgeschlagen worden waren. Er erzählte mit Bitterkeit, was ihm geschehen war: „Ja, meine Herren, es ist wieder schief gegangen. Ich hatte Mißgeschick. Diesmal war es die Religion.“ Und dann folgte die Geschichte von Huhn und Lamm. Der Schauplatz war das Obdachlosenasyl in der Wur-litzergasse, das weltbekannt geworden ist durch die Biographie Hitlers, der dort zur selben Zeit hauste wie Weißenstein.

Lamm war ein Rabbinatskandidat und Weißensteins Bettnachbar. Was geschehen sollte, geschah. Der „Dreizehnte“ ertappte den Kandidaten, als dieser ein Schinkenbrot verzehrte. Er überfiel ihn in der Nacht und verprügelte ihn unter dem geschlossenen Beifall aller anderen Insassen. Die Polizei mußte herbeigerufen werden, und Weißenstein wurde als unerwünschter Vagant von Wien ausgewiesen.

Die Geschichten über den „Dreizehnten' sind Legion. Aber ich kann nicht alle erzählen. Selbst die Geschichte mit dem blinden Mädchen kann ich nur flüchtig erwähnen. Der Weltapostel hatte die Bekanntschaft dieses blinden Mädchens gemacht und wollte es heiraten. „Sie sieht nicht, daß ich ein häßliches Monstrum bin. Sie wird mich nicht betrügen. Wie wunderbar, ein armes Geschöpf zart und behutsam durch diese Welt zu führen, das völlig auf mich angewiesen ist.“ Bald stellte es sich heraus, daß das blinde Mädchen gelogen hatte; es war nur auf einem Auge blind und vermochte mit dem gesunden sehr wohl die verblüffende Erscheinung ihres merkwürdigen Bräutigams zu sehen. Der enttäuschte Mann verließ sie augenblicklich.

Ich bin in meinem Leben verschiedenen denkwürdigen Charakteren begegnet. Unter ihnen ist Weißenstein, der Weltapostel, gewiß nicht der wertvollste. Ich erinnere mich seiner als einer absonderlichen, kleinen Marionette in Gottes wundersamem Garten. Ich hätte nicht die Erinnerung an ihn wiedererweckt, hätte das Leben selbst seiner Geschichte nicht eine Wendung gegeben, wie sie kein Dichter erfinden kann.

Es kam der August 1914. Der Weltkrieg war ausgebrochen. Die Stammgäste des Cafes flatterten in alle Winde. Ich verbrachte mehrere Wochen als Soldat an der Ostfront. Allmählich hatte der Krieg alle Reserven an kampffähigen Männern erschöpft. Nun wurden Invalide, Kranke und selbst Krüppel mobilisiert. Diese bunte Masse, in Uniformen gekleidet, zog durch die Straßen der hungernden Städte. Während des letzten Kriegswinters wurde ich in offiziellem Auftrag nach Bodenbach geschickt, der Grenzstadt zwischen Deutschland und Böhmen, das damals noch zur k. u. k. Monarchie gehörte. Früh am Morgen verließ ich mein schäbiges Hotel, um über die Elbebrücke nach Tetschen zu gehen. Die schöne Eisenbrücke war fast menschenleer. Nur eine kleine Gruppe von Leuten bewegte sich vor mir. Voran zwei ausgemergelte Ochsen, hinter ihnen als Viehtreiber drei alte Soldaten, weißhaarig und vor Kälte zitternd, ohne Zweifel slowakische Bauern. Den Abschluß bildete ein Etwas in Uniform, eine lächerlich kleine Mütze auf dem Wasserkopf. Das Geschöpf schwang einen Stock in der Hand und krächzte: „Ihr wollt Soldaten sein? Elendes Gewürm seid ihr! Man sollte euch auspeitschen!“

Ich nahm ihn bei der Schulter: „Weißenstein — Sie — der Vorkämpfer für Humanität — Sie sind unter die Unterdrücker gegangen?“

„Ich bin verantwortlich für diesen Viehtransport“, erwiderte er stolz, „und dieser Abschaum da, das sind keine Menschen. Das sind Sklaven. Sie verdienen nichts anderes, als unterdrückt zu werden.“ Ich blieb wie angewurzelt stehen. Und das Lachen verging mir. Ich hatte den Geist der Zeit noch nicht verstanden. Ich blickte dem Viehtransport nach. Hinter den zwei Ochsen und den drei Sklaven schritt Weißenstein, der Weltapostel, jeder Zoll ein Diktator.

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