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Hinter der schmucken Fassade herrscht Elend und große Not

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Wer mit dem Lande vertraut ist, kann in den langgestreckten Straßendörfern der Vojvodina - im Norden des jetzigen Serbien - hinter den Straßengräben, über die dort weidenden Gänse hinweg und durch die Allee der Nußbäume hindurch, anhand der Torformen hinter den kleinen Brücken, Bückschlüsse auf die Sprache ihrer Bewohner ziehen. Die Vielfalt verbirgt sich dem einfachen Blick.

Glockentürme geben Fingerzeige, tragen sie goldene Morgensterne, so rufen sie Beformierte ungarischer Sprache zum Gebet. Doch andere entziehen sich der Eindeutigkeit. Im Dörfchen Kisac, gelegen zwischen Subotica und Novi Sad, scheint ein hölzerner Glockenturm über einer breiten Toreinfahrt zu schweben. Die Gläubigen, die er sonntags zur Kirche ruft, teilen sich unter dem Torbogen, Katholiken sammeln sich im Saal rechterhand zur kroatischen Messe, linkerhand predigt die methodistische Pfarrerin auf slowakisch.

Die Seelen sind zerstört und zerbrochen

Auf den ersten Blick bietet die multiethnische Vojvodina in der Frühlingssonne eine Idylle. Ein Landstrich im ehemaligen Jugoslawien, den keine unmittelbaren Kriegsschäden getroffen haben, keine zerbombten Häuser, keine Minenfelder. Schmucke Fassaden mit Spitzenvorhängen prägen das Bild. Aber: „Hinter diesen schönen Fassaden hungern die Menschen", sagt Perica Mandic und deutet dabei aus dem Fenster seines Büros. Mandic ist Psychologe, 1992 floh er aus Tuzla, denn er wollte am Morden nicht teilhaben. Seit wenigen Monaten leitet er die Beratungsstelle des „Ökumenischen Hilfswerks Novi Sad". Mehr als hundert Menschen, Flüchtlinge, Vertriebene, aber auch Bürger Novi Sads drängen sich täglich, um medizinische und seelische Hilfe oder ganz einfach Ausgabescheine für die Suppenküchen des Hilfswerks zu bekommen.

Auf etwa zwei Millionen Einwohner der Vojvodina kommen mehrere hunderttausend Flüchtlinge. Offiziell registrieren ließen sich „nur" 200.000, aus Angst davor, daß die Listen dazu dienten, sie in ihre zerstör-

ten Dörfer zurückzuschicken. Ohne finanzielle Unterstützung, ohne Aussicht auf Arbeit, ohne Zukunftsperspektive sind die allermeisten bei weitschichtigen Verwandten untergekommen, die vor Jahrzehnten aus Bosnien in die reichere Vojvodina gezogen sind, um sich zu „verbessern".

Pero Sumar hat in Veternik ein Haus gebaut, „in den guten Zeiten", so sagt er. „Die guten Zeiten" - es klingt unwiederbringlich. Er war sieben Jahre Gastarbeiter in Düsseldorf, einer der glücklichen Hausbesitzer und Inhaber einer DM-Bente. Jetzt ist er ruiniert. Pero Sumar hat in den letzten vier Jahren insgesamt 25 Menschen bei sich aufgenommen und ernährt. Zuerst Flüchtlinge aus Westslawonien, dann aus Bosnien, zuletzt aus der Krajina. Das Embargo hat seine DM-Bente blockiert, sein Devisensparbuch hat die Begierung gesperrt. „Ich bin am Ende." In Veternik leben 9.000 Flüchtlinge unter 17.000 Einwohnern. Bei der Durchfahrt ist davon nichts zu bemerken. In Pero Sumars Vorgarten blühen die Narzissen.

„Warum sprechen Sie immer von Kriegszeiten, ich sehe keine zerschossenen Kirchen im Land?", so fragt durchaus empört der mitreisende Journalist den Bischof der Slowakischlutherischen Kirche. „Paulus bezeichnet die Menschen als Tempel. Die Kirchen der Seele, sie sind zerstört und zerbrochen", antwortet Bischof Bere-di fast unhörbar. Teil der slawischen Seele und Gastfreundschaft war immer, daß der „andere" gleichbedeutend mit Freund war. Ein und dasselbe Wort - nicht der Fremde, sondern der Freund - für immer zerbrochen?

Bischof Beredi lädt uns für den Abend des nächsten Tages zum Gottesdienst ein. Vom Augenschein her ein männerdominiertes Bitual, ernste, getragene lange Beden, alle in schwarz, kein Fest für kritische Christen. Seit 1991 treffen sie sich einmal in der Woche zum Friedensgebet. Katholiken, Beformierte, Lutheraner, Methodisten und Serbisch-Orthodoxe, oder anders gesagt Kroaten, Ungarn, Slowaken, Buthenen und Serben bitten gemeinsam um den Frieden. Das Gebet ist keine Woche ausgefallen. Der Präsident der jüdischen Gemeinde und der Imam der muslimischen Gemeinde gehören dazu.

Friedensgebet als Quelle der Kraft

Anna Bu hat sich auf die Empore gesetzt. Sie atmet sichtlich durch. Zwei Stunden Buhe während des Gebets. Anna ist die Seele des ökumenischen Hilfswerks, eines Gemeinschaftsprojekts der protestantischen Minderheitenkirchen und der Serbisch-Orthodoxen Kirche. Sie wurde 1946 in einem Vernichtungslager für Volksdeutsche geboren. Sie gehört also zur deutschsprachigen Minderheit, wobei sie die Frage nach ihrer Muttersprache und Nationalität merkwürdig findet.

Die Frage sei bis vor kurzem niemandem gegenüber üblich gewesen. Mit ihren Mitarbeiterinnen verteilt sie täglich 2.000 Essensrationen in den Suppenküchen der Stadt, vornehmlich an alte Menschen. Sie fällt die schwere Entscheidung, welche der Flüchtlinge prioritär einzustufen sind, denn nicht an alle können Pake-

te mit Grundnahrungsmitteln verteilt werden, organisiert die Versorgung der Familien mit Gartengeräten und Saatgut, um auf den Hinterhöfen Gemüse anbauen zu können, und teilt die freiwilligen Ärzte zu Ambulanzfahrten ein, um die Flüchtlingslager notdürftig zu versorgen. Anna geht die Arbeit nicht aus.

Anna ist nicht allein. Doch es sind zu wenige für geschätzte 600.000 bis 800.000 Flüchtlinge in Serbien, ihnen droht, vergessen zu werden.

Von der Beise zurück, berührt mich die Debatte um den Dichter Peter Handke. Erregt wehrten sich Journalisten gegen den Angriff, sie hätten nicht ausgewogen berichtet; verdächtig erregt und engagiert in eigener Sache.

Doch die Blindheit des Sehers hat niemand erkannt. Dem bloßen Augenschein verfallen, bleibt der Blick des Dichters leer.

Der Autor ist

evangelischer Pfarrer und Direktor der DIAKONIE-Osterreich Seit 199) unterstützt die DIAKONIE das Ökumenische Hilfswerk Novi Sad mit Grundnahrungsmitteln, Medikamenten und Zuwendungen zum Ankauf von Saatgut Spenden sind erbeten auf PSK2)1) 300.

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