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Zur festlich-feierlichen Peinigung

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MEINE NEUNZEHN LEBENSLAUFE UND NEUN ANDERE GESCHICHTEN. Von Helmito von Doderer, fl Selten mit neunzehn Abbildungen. DM 14.80. — UNTER SCHWARZEN STERNEN. Erzählungen. Von Heimito von Doderer. 236 Selten. Leinen. DM 16.80. Beides Biederstein-Verlag, München.

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MEINE NEUNZEHN LEBENSLAUFE UND NEUN ANDERE GESCHICHTEN. Von Helmito von Doderer, fl Selten mit neunzehn Abbildungen. DM 14.80. — UNTER SCHWARZEN STERNEN. Erzählungen. Von Heimito von Doderer. 236 Selten. Leinen. DM 16.80. Beides Biederstein-Verlag, München.

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Der Meister deutscher Prosa, der Verfasser von sieben Romanen, zahlreichen Erzählungen und einer Fülle amüsant-tiefsinniger Betrachtungen, zugleich der allerösterreichischste und speziell wienerischste unserer Autoren, wird siebzig, und in den nächsten Tagen dürfte ein gewaltiges Rauschen durch den heimischen Blätterwald gehen. Der Leser mag sich freuen: er wird allerlei Interessantes über den so eigenwillig im Privaten verharrenden Autor erfahren. Sein verdienstvoll rühriger Verlag kündigt Neups an und hat dem Geburtstagskind zeitgerecht zwei Neuerscheinungen abgerungen. Aber wie sieht es der festlich Betroffene? Er meint: Zu den besonderen Peinigungen, denen ein Schriftsteller bei vorgerückten Jahren ausgesetzt ist, gehören neben der zunehmenden Sisyphusarbeit der sinnlosen Briefschreiberei die Forderungen nach autobiographischen Äußerungen, zu denen alle möglichen Leute ihn an- und verleiten möchten.

Doch was tut ein Autor, wenn sogar sein eigener Verlag, in normalen Zeiten sein Helfer und Kampfgefährte, ihm in den Rücken fällt? Und dies ausgerechnet dem Epiker geschieht, dem Romancier, der sein ganzes Leben lang auf Überwindung des Direkt-Autobiographischen bedacht war? Läßt er sich in seine Anfangsposition zurückwerfen oder gar breitschlagen, beginnt er zu plaudern und auszupacken? Nein, das tut er keineswegs, sondern er begegnet diesen Forderungen — wenn er Heimito von Doderer heißt — mit der gleichen Mischung von Schmiegsamkeit und kauziger Selbstbehauptung, die der Leser immer schon in den Werken dieses homme de lettres genossen hat, Eigenschaften, die seinen Stil und seine Sprache bis in die Wortwahl und die Syntax prägen. Denn: Was ist er nun eigentlich, dieser Herr von Doderer: ein Konservativer oder ein Neuerer? Diese — müßige, aber oft gestellte

— Frage läßt sich ebenso wenig beantworten, wie etwa bei Thomas Mann, dem „Großschriftsteller“. Daher zurück zu den für die Festschrift gelieferten „Lebensläufen“.

Es sind deren gleich 19, im Umfang von einer bis 15 Zeilen, jeweils auf einer Seite dargeboten, aber trotz ihrer Kürze „raumfüllend“. Etwa so: Lebenslauf Nummer 2: „Was ich an mir selbst gelitten habe, läßt dasjenige, was andere mir an Erniedrigung und Leiden zugefügt haben, in völlige Belanglosigkeit als Begleiterscheinung verschwinden!“ Oder etwa Nummer 7: „Wenn ich frage, woraus dieses Dasein bestand, so muß ich sagen: es gab darin mancherlei von mir vollkommen gemeisterte Situationen, viele, darin ich versagte, und zahllose Blamagen — alles aufgewogen von einer seltenen Hartnäckigkeit, die ich nicht ganz davon freizusprechen vermag, daß sie ihre erstaunlichen Kräfte aus der Hartnäckigkeit des Desperaten bezog.“ Aber ein Desperado, so fügt der ebenso vorsichtige wie ehrliche Autor hinzu, sei er nie so recht gewesen; einen Zipfel der Hoffnungsfahne habe er immer zwischen den Zähnen behalten, als Hungertuch gewissermaßen, an dem er nagt. — Der liebstė von den 19 Lebensläufen ist uns der erste, einzeilige, der eine Meditation lohnt: „Erst bricht man Fenster. Dann wird man selbst eines.“

Die folgenden Dokumente, Be- . Pachtungen und Histörchen mag der Leser selbst nachlesen: Wie der Autor, halb durch Zufall, halb durch Schicksalsfügung, seinen Verleger fand, was sich in seinem Geburtsjahr zugetragen, was er als Inspektor eines Brandschadenversicherungsinstitutes in Trethofen erlebte (das könnte von Kafka sein), wie er einen langgehegten Wunschtraum verwirklichte und ins Villenviertel umzog, was er sich über die Zusammenhänge zwischen Bett und Bart denkt, seine Erfahrung mit Halbstarken im Cafe Kratzki und anderes mehr. Die Geschichte vom vergrabenen Pfund, nicht gerade erhebend, aber allenfalls klärend, hat Schatzkästleinfor- mat. Wir meinen das Hebelsche, auf das wir noch zu sprechen kommen.

Die Geburtstagsschrift bietet aber auch noch einige Realien: einen Stammbaum des Dichters, der ihn als Urgroßneffen Lenaus ausweist, jedoch leider nur die Lebensdaten, nicht aber die jeweiligen Geburtsorte von Doderers Vorfahren nennt. Den Beschluß bilden eine spärliche Biographie und eine stattliche Bibliographie (wie sich das für einen echten Künstler gehört), in der auch die zahlreichen Übertragungen der Romane und Erzählungen Doderers in fremde Sprachen aufgezählt sind.

— Auf dem Titelblatt sind ferner

19 Photographien und eine Schallplatte angekündigt. Aber darüber können wir noch nichts berichten, weil uns — während diese Zeilen geschrieben werden — nur ein sogenanntes „Vorausexemplar“ in losen Bogen vorliegt. Hoffentlich gibt’s in der Festschrift auch einige Manuskriptseiten zu sehen, darauf wären wir besonders neugierig...

Als Titel der fünf Erzählungen nebst sieben Variationen über ein Thema von Johann Peter Hebel könnte auch stehen „Der Weg zurück“, denn sie beginnen mit der aus dem Jahre 1963 stammenden Titelgeschichte „Unter schwarzen Sternen“ und reichen bis ins Jahr 1926, also bis fast zu den allerersten schriftstellerischen Anfängen. Den Preis möchten wir ohne Zögern der Titelerzählung zuerkennen, die eine Begebenheit, mit allem Drum und Dran, aus der Zeit des zweiten Weltkriegs schildert, als Doderer, nach einem Jahr an der russischen Front (die er schon im ersten Weltkrieg kennen- gelemt hatte), als Prüfer und Gutachter in einer Dienststelle der Luftwaffe in Wien tätig war. Sie bestätigt das Wort Emst Jüngers: „Im Zentrum des Orkans herrscht Ruhe“, und hat eine Eigenschaft, die als die exzellierendste des Epikers gewertet werden sollte: Gerechtigkeit. Aber auch die anderen Geschichten haben es in sich. Die Variationen über ein Thema von Hebel entfernen sich, darin denen Regers über das süße Mozart-Thema nicht unähnlich, immer mehr von ihrem Ausgangspunkt. Am fernsten ist uns Doderer im historischen Kostüm, hier in „Das letzte Abenteuer“. Doch das ging uns mit der mittelalterlichen Interpolation in den „Dämonen“ auch schon so und ist letzten Endes Geschmackssache. Ebenso die Verwendung des Wortes „Tüte“, pag. 71 des besprochenen Erzählbandes, oder die Syntax des Satzes „Die Musiker gelang es frei zu kriegen“ (pag. 85). Doch schon auf der nächsten Seite finden wir, so mit der linken Hand bei passender Gelegenheit hingestreut, eine Maxime, die jedes Philosophen von Rang würdig ist: „Man verfällt immer wieder dem Aberglauben, das Leben nach eigenem Ermessen peri- odisieren zu können: durch äußere Arrangements und moralische Kanalisierungen. Man reißt sich also irgendwo heraus und fällt anderswo herein.“ Oder: „Schlichthin gesprochen: sehr gute Lebensverhältnisse können geradezu bedrückend wirken, wenn in der innersten Kammer des betreffenden Lebens die Tugend fehlt, sie auszufüllen und, schließlich, sie zu nutzen.“ — Um solcher Stellen willen schätzen und lieben wir unseren „Romancier“, den wir als Artisten vorbehaltlos bewundern.

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