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Das bedrohte Alter

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In unserer Wohlstandsgesellschaft spricht man nur ungern, am liebsten gar nicht über das Alter. Altsein ist ein Makel. Und doch: Das Altern betrifft uns alle, ebenso wie der Tod, den wir alle erleiden müssen. Das läßt sich nicht wegschieben. Oft geschieht es, daß Menschen die Unvermeidbarkeit des Alterns erkennen müssen, wenn sie zum Handeln schon zu krank, zu schwach sind.

Die Einsamkeit des Alters ist ein Produkt der modernen Industriegesellschaft, ein Ergebnis von Kleinfamilien, eine Auswirkung der Verleugnung des letzten Lebensabschnitts. Man kann geradezu von einer Umkehrung traditioneller Werte und Vorstellungen sprechen. Der Ältere verliert zunehmend an Autorität und sieht sich gleichzeitig durch die technischen Entwicklungen gezwungen, von den Jungen lernen zu müssen.

Die Frage, die ich oft von alten Menschen höre, „Was bin ich eigentlich noch wert?“, zeigt den Verlust an Status, Macht und Einfluß. Alte Menschen spüren in der letzten Phase ihres Lebens, daß sie für niemanden wichtig zu sein scheinen, nur mehr eine Belastung für die anderen.

Wie sehr das alte Leben bedroht ist, läßt sich gut mit dem Bild vom inneren und äußeren Feind beschreiben. Der Feind von außen, das sind die gesellschaftlichen Kräfte, die dem alten Menschen den Lebensraum wegnehmen, ihn, weil er schwach, krank, nicht mehr leistungsfähig ist, seiner Arbeit und Funktionen berauben.

Sie infantilisieren ihn in Institutionen, rauben ihm Würde, Freiheit und Selbstbestimmtheit. Der alte Mensch wird Rentenempfänger, das ist vom Almosenempfänger nicht weit entfernt.

Der Feind von innen, das sind die Bilder, die der alte Mensch von sich selbst hat: kränklich, unnütz, die sogenannte wohlverdiente Ruhe genießend. Jene Klischees also, die er selbst in jüngeren Jahren aufgenommen hat.

Die negativen Altersselbstbilder sind ein guter Verbündeter für den Feind von außen. Beide verstärken sich gegenseitig.

Fünf Säulen tragen die Identität des Menschen, an ihnen ist zu erkennen, wie und wo altes Leben bedroht ist.

Die Säule der Leiblichkeit: Jede Erkrankung bedroht die Identität. Wird ein Mensch durch einen Unfall entstellt, vielleicht gelähmt, oder verändert er sich durch Therapie (Haarausfall, dik-ker werden, Abmagerung et cetera), dann ist seine Identität bedroht.

Die Säule des sozialen Umfelds: Identität wird durch die Beziehung zu anderen Menschen bestimmt. Verliert man Familienmitglieder oder Freunde, so gerät die Identität ins Wanken. Wie das soziale Umfeld alter Menschen oft aussieht, soll ein konkretes Beispiel zeigen:

Ein alter Mensch lebt allein, er kann nicht mehr auf die Straße, nicht mehr einkaufen gehen, nicht ins Kaffeehaus, nicht in die Kirche. Er kommt überhaupt nicht mehr aus seiner Wohnung. Angenommen, er hat eine Heimhilfe.

Sie kommt fünfmal wöchentlich für eineinhalb Stunden. Vielleicht kommt einmal wöchentlich ein Besuchsdienst für zwei Stunden. Am Wochenende kommt niemand. Der alte Mensch ist, rechnet man die Zeit für Schlaf ab, mehr als hundert Stunden wöchentlich allein. Und das Woche für Woche, das ganze Jahr. Können Sie sich, für sich selber, diese Situation vorstellen?

Die Säule von Arbeit und Leistung: In der Arbeit, im Handeln gestaltet der Mensch seine Umwelt, er identifiziert sich mit dem, was er geschaffen und geleistet hat. Verlust der Arbeit durch Pensionierung bedeutet oft eine Einschränkung des Selbstwertgefühls, die Anerkennung durch andere bleibt aus, die Identität beginnt zu wanken.

Die Säule der materiellen Sicherheit: Entzug oder Verlust der materiellen Sicherheit kann die Identität angreifen. Wenn alte Menschen, etwa weil sich Verwandte um die pflegebedürftig Gewordenen nicht kümmern können, in ein Alters- oder Pflegeheim verlegt werden und ihre vertraute Wohnung verlassen müssen, verlieren sie oft den letzten Halt.

Die Säule der Werte: Werte, die man im Laufe des Lebens angenommen hat, machen einen Teil der Identität aus. Sie bleibt oft am längsten erhalten. So kann man bei vielen Menschen beobachten, daß sie im Sterben wieder stark auf ihre Werte (zum Beispiel Religion) zurückkommen, daß diese ihnen Halt geben.

Alle fünf Säulen sind im Alter mehr oder weniger angeschlagen. Dazu einige selbsterlebte Situationen:

Ein blinder alter Mann wird im Heim in ein geschlossenes Gitterbett gelegt und von der Schwester so lang sekkiert (ich sage das bewußt, denn ich weiß wohl genau, was die Schwestern leisten, aber leider gibt es auch solche — und nicht einmal selten), bis er so aggressiv und verwirrt wird, daß er auf die Psychiatrie verlegt werden muß.

Ein anderes Beispiel: Wenn jemand weinte, wurde er angebrüllt. Dann weinte er heimlich nachts oder am Klo, oder er erstarrte und wurde apathisch.

Noch ein Beispiel: Niemand bekommt einen Katheter. Die Wikkeitour wird so schneller, einfacher.

Ich könnte die Liste noch lange fortsetzen. Das Elend der alten Menschen verschärft sich in manchen Heimen zur Tortur. Würde man geriatrische Einrichtungen nach den Kriterien von Amnesty International über die Praxis der Folter und der Verletzung der Menschenrechte untersuchen (wie es vor einiger Zeit in Westdeutschland geschehen ist), so fänden sich jg einem großen Teil der Heime schwere Menschenrechtsverletzungen.

Es handelt sich nicht um Einzelfälle. Sie treten gehäuft auf!

Die Situation ist auch den politischen Entscheidungsträgern bekannt. Pflegesätze und Personalschlüssel, Mitarbeiterqualifikation und Bettenzahl pro Zimmer sind keine Geheimnisse.

Wohl kann man dem Argument „Man tut ohnedies sehr viel, viel mehr als früher“ mit der Frage begegnen: Würden Sie in diesem Pflegeheim liegen wollen? Mit 65, nach einem Schlaganfall, bei klarem Bewußtsein. Entspricht dies der Lebensqualität, die Sie sich vorstellen, wenn Sie einmal pflegebedürftig werden?

Humanisierung des Alters ist reale Notwendigkeit. Die demographische Entwicklung in den nächsten zwanzig Jahren wird das Problem noch verschärfen. Wir sind darauf weder auf sozialem, pädagogischem, therapeutischem noch auf f inanzpolitischem Gebiet vorbereitet.

Die Autorin ist Mitarbeiterin von „Pro Senectute Osterreich“.

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