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Hat Wounded Knee Folgen?

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In Amerikas Indianern hat man im eigenen Land traditionell eine Art von Naturerscheinung gesehen, gewissermaßen wie Berge, Flüsse oder Büffel. Heute kommen sie jedoch vielen „ US-Bürgern wie ein Wehmut erweckender Anachronismus vor, ein Überbleibsel längst vergangener Tage, und das eine Element im amerikanischen Schmelztiegel, das sich hartnäckig der Verschmelzung entzogen hat.

Im Geist der Indianer ist die Vergangenheit nie wirklich tot. Wenn sie die kühnen Taten ihrer Vorfahren in Erinnerung rufen, sprechen sie in der Gegenwart. Land verehren sie als die Mutter Erde, als das Maß aller Dinge. Die Indianer teilen ihre Besitztümer untereinander; materialistisch gesinnte Menschen verachten sie als raffgierig. Zusammenarbeit und Gemeinwohl werden betont, nicht der Konkurrenzkampf. „Klassen“ gibt es nicht, dagegen gelten Würde und Freiheit des Individuums über alles.

Trotz dieses seelischen Reichtums gehören die Indianer zu den ärmsten Minderheiten in den USA. Bei der 1970 durchgeführten Volkszählung registrierte man 791.838 Indianer, dazu 35.253 Aleuten und Eskimos. Hievon lebten rund 350.000 nicht in den Reservaten, sondern in Städten und Dörfern, angelockt von der Hoffnung auf bessere Arbeitsplätze und höheres Einkommen.

Es gibt einleuchtende Gründe hiefür. Die 477.500 Indianer, die in den Reservaten geblieben sind, verdienen pro Kopf 950 Dollar im Jahr, verglichen mit den 3344 Dollar durchschnittlichen Jahresverdienstes aller anderen Amerikaner. Die Selbstmordquote der Indianer ist doppelt so hoch wie die der übrigen Bevölkerung; die Tuberkulosehäufigkeit unter ihnen siebenmal höher als irii-ÜS-Öurchschnitti Schulen be^ suchen Indianer im Durchschnitt um 2,2 Jahre kürzer als andere Amerikaner. Von den Bewohnern der Reservate sind 39 Prozent chronisch arbeitslos, weitere 19 Prozent finden nur vorübergehend Beschäftigung. Mehr als die Hälfte der Indianerbehausungen ist „substandard“.

An diesen bitteren statistischen Tatsachen hat sich bisher kaum etwas geändert, obwohl die Regierung derzeit über eine halbe Milliarde Dollar im Jahr ausgibt, um den Indianern zu helfen. Ursachen der indianischen Armut sind unfruchtbares Land, der Mangel an Arbeitsgelegenheiten, an Ausbildungsmöglichkeiten und Kapital.

In den USA gibt es über 300 Indianerstämme, die nicht weniger als 250 Dialekte der 50 bedeutenderen Indianersprachen sprechen. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist mehr als die Hälfte der Indianer in Städte gezogen, obwohl sie dadurch ihren Anspruch auf soziale und wirtschaftliche Hilfe durch die Bundesregierung verloren. Die übrigen leben nach wie vor in den Reservaten. Die junge, militante Generation verurteilt die Zustände in diesen in 27 Bundesstaaten bestehenden Gebieten ebenso wie die Isolierung der in die Städte übersiedelten Brüder und Schwestern. Die ältere Generation, stoisch nach Indianerart, schämt sich der heftigen Worte der Jungen.

Manche Indianer widersetzen sich entschieden der Assimilierung; andere wiederum sind der Meinung, daß sie ruhig im Establishment leben und dennoch ihre Eigenart bewahren könnten. Ein junger indianischer Dichter, David Martin Nez, drückt dies so aus:

„Wir werden mit allen Geräten des weißen Mannes umgehen lernen. Sein Werkzeug werden wir uns zu Diensten machen. Seine Maschinen, seine Erfindungen, seine Fertigkeiten, seine medizinischen Kenntnisse, seine Pläne werden wir uns aneignen. Wir werden aber unsere Schönheit behalten und noch immer Indianer sein.“

Fast die Hälfte der Bundesstaaten, Flüsse und Städte der USA tragen indianische Namen. Was Frauen-rechte betrifft, sind die Indianer weit

voraus gewesen, denn in den matriarchalischen Clans, die noch vor wenigen Generationen die Vorherrschaft in den Stämmen ausübten, waren Frauen die Familienoberhäupter und verkörperten faktisch die Regierungsmacht.

Eine der Hauptstützen der amerikanischen Demokratie geht auf die Indianer zurück, nämlich die Hochachtung vor dem Volkswillen. Thomas Jefferson, der Verfasser der Un-

abhängigkeitserklärung und der „Bill of Rights“, bekannte offen, wieviel er den Indianern verdankte. Der föderalistische Gedanke, die Haltung, in Führern Diener — nicht Beherrscher — des Volkes zu sehen, die trotz des Zusammenhalts der Gemeinschaft vorhandene Rücksichtnahme auf die naturgegebene Verschiedenheit der Menschen — all dies waren Indianerbegriffe, die der immer mächtiger werdende weiße Amerikaner übernahm oder auch links liegen ließ.

In einer Rede, die er 1970 vor dem Kongreß hielt, beklagte Präsident Nixon die Einstellung des weißen Amerikaners gegenüber seinem roten Mitbürger. Nixon sprach dabei von „häufigen Aggressionen, gebrochenen Verträgen, sporadischer Reue und anhaltendem Versagen“. Die Indianer hätten „Ausdauer, Überlebenswillen, Anpassungsfähigkeit und schöpferische Kraft trotz schier unüberwindlicher Hindernisse“ gezeigt und „gewaltige Beiträge zu diesem Land, seiner Kunst und Kultur, seiner Stärke und seinem Geist, seinem Sinn für Geschichte und seinem Sichselbstfinden“ geleistet.

Erst im Jahr 1924 hat der Kongreß die vollen Bürgerrechte (und Pflichten) auch jenen Indianern zuerkannt, die sie bis dahin nicht besessen hatten. Seither sind die Indianer wahlberechtigt und stel-lungspflichtig; sie können wie jeder andere Amerikaner als Geschworene aufgerufen werden und müssen außerhalb der Reservate alle Steuern zahlen.

1953 entschloß sich der Kongreß, der ebenso wohlmeinend wie kurzsichtig die Assimilierung der Indianer unentwegt gefördert hatte, diesen Aupassungsvorgang zu beschleunigen. In einer Resolution wurde die Entschlossenheit betont, die besonderen Beziehungen des Bundes zu den Indianern sobald wie möglich zu beenden und die Nachfahren der Ureinwohner sich selber vorwärtsbringen zu lassen — wie alle anderen Amerikaner auch.

An zwei Versuchsgruppen, dem Stamm der Menominees in Wisconsin und dem Stamm der Klamaths in Oregon, erwies sich bald die Un-tauglichkeit dieser Politik. Im September 1958 riß Eisenhower das Steuer herum und gab kund, daß von nun an kein Stamm gegen seinen eigenen Willen aus der Fürsorge des Bundes entlassen werden würde. Washington versprach, sich wieder um die Gesundheit, Ausbildung und wirtschaftliche Entwicklung der Indianer zu kümmern.

Diese Abkehr von der „Assimilierung auf eigene Faust“ war kenn-

zeichnend für die sechziger Jahre. Im Rahmen des von der Regierung Johnson geführten „Krieges gegen die Armut“ intensivierte das Amt für indianische Angelegenheiten die berufliche Ausbildung Erwachsener, förderte die Übersiedlung von Indianern an Arbeitsplätze in den Städten, schuf industrielle Betriebe in den Reservaten oder in deren Umgebung und setzte indianische Arbeitskräfte in erhöhtem Maß in

öffentlichen Versorgungsbetrieben ein.

Johnson war auch der erste amerikanische Präsident, der mit einer Sonderbotschaft über das Indianerproblem vor den Kongreß trat: „Unser Ziel muß ein Lebensstandard der Indianer sein, der dem des Landes in seiner Gesamtheit entspricht; die Freiheit der Wahl, das heißt die Ge-legehheit,' nach Wunsch in der Heimat zu bleiben und dabei nicht die Würde zu verlieren oder die Gelegenheit, nach Wunsch in Amerikas Städte 2U ziehen und dabei so ausgebildet zu sein, um in Freiheit und Würde zu leben; die volle Teilnahme am Leben des modernen Amerika, mit einem vollen Anteil an wirtschaftlichen Chancen und sozialer Gerechtigkeit.“

Präsident Nixon hat die Indianerpolitik seines Vorgängers übernommen und in manchen Punkten noch erweitert. Seine Regierung hat sich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, die Probleme der Nachfahren der Ureinwohner lösen zu helfen.

Seit 1964 gibt es das Schlagwort „Rote Macht“, eine Analogie zur Negerforderung nach „Schwarzer Macht“. Radikale Indianer mit Collegebildung bezichtigen die Regierung des gönnerhaften Kolonialismus und wollen ein für allemal Schluß mit einer Politik machen, die im Indianer gewissermaßen ein „Mündel“ der Bundesregierung sieht. Es erklingt auch der Ruf nach Anerkennung der einzelnen Indianerstämme als „souveräne Völker“. Die radikalen Indianer vereinigten sich 1968 in der Organisation AIM (American Indian Movement, amerikanische Indianerbewegung).

Bereits in seiner Kongreßrede im Juli 1970 hatte Präsident Nixon die Bereitschaft seiner Regierung betont, die Indianer anzuhören und auf ihre Vorstellungen einzugehen. Er schritt auch sofort zur Tat, indem er einen Gesetzesentwurf einbrachte, auf Grund dessen dem Stamm der Taos-Pueblo-Indianer in New Mexico 48.000 Morgen Land und der als heilig geltende Blaue See zurückgegeben wurden. Ähnliche Aktionen kamen anderen Stämmen zugute. Diese Praxis, den Indianern Land zurückzugeben, bedeutet eine bemerkenswerte Abkehr von der früheren Politik, sie mit Bargeld abzufinden.

Das Bundesamt für indianische Angelegenheiten hörte auf, eine Verwaltungsstelle zu sein, und verwandelte sich in eine Dienstleistungsorganisation. Von den 20 Spitzenangestellten sind allein 14 Indianer, und vom Gesamtpersonal ist die

Hälfte indianischer Herkunft. Das Budget des Amts erhöhte sich von 243 Millionen Dollar im Fiskaljahr 1968 auf über 530 Millionen im Fiskaljahr 1973. Andere mit Indianerangelegenheiten befaßte Bundesstellen hinzugerechnet, sind die Ausgaben in den letzten fünf Jahren von 455 Millionen Dollar auf 925 Millionen gestiegen. Wenn für die Berufsausbildung pro Kopf der amerikanischen Gesamtbevölkerung soviel Geld ausgegeben werden würde wie für die Ausbildung der Indianer, würden diese Kosten über 26 Milliarden Dollar im Jahr betragen. Tatsächlich ist der Aufwand für die Nichtindianer wesentlich geringer.

Trotz der Spannungen und des lautstarken Echos im Gefolge der Aktionen militanter Indianergrup-

pen bemüht sich die Bundesregierung immer wieder, den Indianern näherzukommen. In einer im März an das amerikanische Volk gerichteten Sonderbotschaft trat Innenminister Morton der Meinung entgegen, daß „die Bundesregierung eine Art von Ungeheuer ist, das sich auf dem Kriegspfad befindet, um die amerikanischen Eingeborenen zu Vernich* ten.“

Mit Bedauern sprach Morton von den in der Vergangenheit an den Ureinwohnern begangenen Untaten, aber er hält es für unsinnig, deshalb einen Schuldkomplex zu entwickeln, denn damit wäre niemandem geholfen: „Ich will nicht die Vergangenheit verteidigen... Aber weder ich noch irgendein anderer Minister kann das Geschehene ungeschehen machen. Wenn es falsch war, daß Europäer bis zu diesem Kontinent

vordrangen und ihn als Pioniere im Kampf besiedelten, so war dies eben falsch. Es ist aber nun einmal geschehen, und hier sind wir... Wenn wir als Volk uns einen Schuldkomplex anzüchten, wird nichts damit gewonnen werden.“

Morton unterscheidet zwischen gerechtfertigten Indianeranliegen und den „vagen und sich Tag für Tag ändernden“ Forderungen krimineller Extremisten. Unter Hinweis auf die gewalttätige Besetzung der in der Bucht von San Francisco gelegenen Alcatraz-Insel mit ihrem ausgedienten Gefängnis, das Eindringen militanter Indianer in Nike-Raketenstützpunkte, die Belagerung des Washingtoner Amtes für indianische Angelegenheiten und die Vorgänge in Wounded Knee sagte Morton: „Ihre Anstrengungen sind eher symbolisch als auf greifbare Ziele ausgerichtet. Sie sind keine organi-

sierte Gruppe, mit der die Regierung Verträge eingehen oder der sie dienen kann. Manche ihrer Anführer sind mit Selbstherrlichkeit geschlagen, manche von ihnen sind Renegaten, manche jugendliche Abenteurer, manche wurden wegen krimineller Delikte verurteilt... Sie preschen mit Freude vor, wenn es ums Wirbeln geht. Ansonsten sind sie nur lose organisiert und begeben sich unter dem Deckmantel eines falschen Idealismus von einem .Ereignis' zum anderen, Ereignisse, die die Steuerzahler teuer zu stehen kommen. Die blutige Vergangenheit ist die Farbe ihrer Fahne, und Aufsehen ist ihr Ziel.

Die Vergangenheit kann nicht wieder lebendig werden. Die Geschichte ist voll von Greueln. Man kann aus dem Teufelskreis der Armut nicht dadurch ausbrechen, daß man das Gemetzel unter den Sioux bei Wounded Knee in Erinnerung ruft.“

Als für Indianerangelegenheiten zuständiger Minister bestreitet Morton nicht die unbedingte Notwendigkeit, den Indianern zu ihrem Recht zu verhelfen und ein ganzes Spektrum von Fragen, die Wasserrechte, Grenzziehungen, Ansprüche an Boschätzen und die Diskriminierung betreffen, einer befriedigenden Lösung zuzuführen: Der Innenminister ist für zügige Arbeit, warnt aber im Hinblick auf die terroristischen Radikalen unter den Indianern:

„Erpressung führt zu nichts. Die Regierungsarbeit kann nicht geleistet und faire Lösungen können nicht gefunden werden, wenn ein Revolver gegen Ihre Schläfe oder gegen den Kopf einer Geisel gerichtet ist. Eine Behörde, die sich durch revolutionäre Taktiken, Erpressung oder Terror zu überstürzten Abmachungen zwingen ließe, taugt nichts. Wir haben es mit kriminellen Praktiken zu tun, denen entsprechend begegnet werden muß.“

In seinem Bericht drückt Morton eine große Hoffnung aus. „Ich setze meine großen Hoffnungen auf die Empfindungen, die der Indianer für sich selbst hegt... Ich bete, daß er bald an seinem Tisch sitzen und wahrhaftig für den.. Segen dieses Landes — seines Landes, unseres Landes — dankbar sein wird. In seinem Herzen soll das stolze Gefühl aufwallen, daß er ein Amerikaner ist und daß auch er einen amerikanischen Traum träumen kann. Er soll sein Erbe genießen und stolz auf seine Vorväter sein. Es soll ihm freistehen, nach Belieben seine alte Kultur zu pflegen; ebenso soll er sich aber auch der Kunst und den Werken seiner Zeitgenossen verbunden fühlen. Ich bete, daß er sich als Teil

des Geistes und der Stärke Amerikas und nicht als Bürde für Amerika betrachten möge.“

Morton glaubt an eine derartige Entwicklung, vorausgesetzt, daß die Behörden als wichtigste Vorbedingung „eine Stufenleiter in Form von Bundesprogrammen und Möglichkeiten“ bauen, „auf welcher der Indianer hochklettern und sich aus dem sozialen Kellerdasein befreien kann.“

Und Präsident Nixon ist zuversichtlich, daß die Indianer sich als durchaus befähigt erweisen werden, die Programme selbst durchzuführen. Die Zeit sei gekommen, meint Nixon, „radikal mit der Vergangenheit zu brechen und die Bedingungen für eine neue Ära zu schaffen, in der die Zukunft der Indianer durch indianische Taten und indianische Entschlüsse bestimmt werden wird.“

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