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Hilflose Begegnung
Westbahnhof. Es ist fast Mitternacht. Ich sitze und warte auf meinen Zug. Draußen scheint die Stadt bereits zu schlafen. Alles ist so seltsam still. Fast friedlich. Ich bin müde.
Zwei Putzmänner bemühen sich, die große, leere Halle zu säubern. Ein Polizist geht vorbei. Und dann, fast erschreckend plötzlich, Lärm.
Drei junge Burschen, grölend sich unterhakend, versuchen, aus einem Automaten etwas herauszuholen, was dieser anscheinend nicht geben will. Sie sind alle drei ziemlich betrunken. Einer der Burschen fällt zu Boden.
Wie alt mag er wohl sein? Fünfzehn*/ Vielleicht auch noch jünger. Er liegt da und keiner hilft ihm wieder auf. Seine Freunde sind längst weitergegangen. Sie haben ihn einfach vergessen.
Die Putzmänner haben mit ihrer Arbeit aufgehört. So wie ich schauen sie zu dem Erbarmungswürdigen. Gemeinsam sehen und erleben wir, wie dieser alles versucht, um wieder aufzustehen. Aber es gelingt ihm nicht.
Und dann, dann muß er sich plötzlich elendig übergeben. Dabei beschmutzt er sich.
Die Putzmänner lachen und kehren weiter. Keiner hilft. Sie nicht. Ich nicht. Warum helfe ich nicht? Gedanken, Zahlen fallen mir ein. Mehr als 54.000 Jugendliche in Österreich sind dem Alkohol verfallen.
Warum? Vielleicht weil ihnen keiner hilft, so wie ich?
Ich habe Angst. Mich ekelt und fröstelt zugleich. Wo ist der Polizist?
Der junge Mensch liegt noch immer auf dem Boden. Er grölt nicht mehr. Er liegt da, hilflos und hilfsbedürftig, schwach, abhängig geworden vom Alkohol, unserer Toleranz und unserer Hilfe, ohne Schutz, ausgesetzt und ausgeliefert dem Spott ebenso wie der voreiligen Verurteilung.
Mein Gott, warum gehe ich nicht hin und helfe? Ich sitze da und schaue, schaue und sitze.
Ein Bahnbeamter kommt. Er schaut auf den Betrunkenen, doch dann geht auch er weiter. Für ihn ist das wohl Alltag.
Betrunkene im Westbahnhof sind wie abfahrende Züge. Sie kommen an und sie gehen auch wieder.
Ich schäme mich.
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