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Im Schatten der Ideologie

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Wie weit läßt sich aus einem derartigen Werk tatsächlich das Denken der dahinterstehenden politischen Persönlichkeit erkennen? Das ist die Frage, die mich bei ähnlichen sogenannten Selbstdarstellungen auch anderer Polit-Größen • beispielsweise seinerzeit Andrej Gromyko oder jetzt Ronald Reagan - beschäftigt.

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Wie weit läßt sich aus einem derartigen Werk tatsächlich das Denken der dahinterstehenden politischen Persönlichkeit erkennen? Das ist die Frage, die mich bei ähnlichen sogenannten Selbstdarstellungen auch anderer Polit-Größen • beispielsweise seinerzeit Andrej Gromyko oder jetzt Ronald Reagan - beschäftigt.

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Im Falle der drei dramatischen Tage des versuchten Staatsstreichs der Alten Garde ab 18. August in Moskau vermitteln die Erinnerungen Michail Gorbatschows vor allem dort Authentizität, wo er sich um seine Familie Sorgen macht: „Am besten von uns ertrug Anastassja, meine Enkeltochter, die Situation. Sie begriff Überhauptnichts, tollte herum, wollte sogar im Meer baden. Es blieb uns nichts anderes übrig, als sie hinzubringen. Aber dann war die Leibwache doch dagegen, es hätte ja sonstwas passieren können."

„Schonungslose Analyse"

Authentisch wirken auch jene Aussagen, wo Gorbatschow politisch philosophiert. So trocken und von der alten Apparatschik-Sprache geprägt kann nur der letzte Generalsekretär der KPdSU sprechen. Beispiel gefällig? „Wir müssen die Geschehnisse nüchtern beurteilen, müssen schonungslos in der Analyse sein und müssen, wenn wir alles realistisch einschätzen, erkennen, daß es Voraussetzungen gab, auf denen die Verschwörer ihre Pläne aufbauen konnten."

Bloß der in der alten Ära gehegten „Kultur" der Selbstkritik enthält sich Gorbatschow weitgehend. Das ist in den im Aufbau befindlichen neuen Strukturen offenbar nicht mehr nötig. Es ist psychologisch verständlich, wenn er nicht zur Kenntnis nehmen will, daß seine Sichtweise der wirtschaftlichen Umgestaltung mit den dadurch ausgelösten gesellschaftlichen Veränderungen nicht m%hr Schritt halten konnte. Blind wirkt Gorbatschow nach wie vor gegenüber jenen „Kräften", die - von ihm ausgesucht - mit und neben ihm wirkten, denen er vertraute und die dennoch nicht einmal mehr den Perestrojka-Prozeß unter sozialistischen Vorzeichen mittragen wollten, wie Gorbatschow dies plante.

Wieweit ist Gorbatschow - sofern das überhaupt noch von Wichtigkeit ist angesichts der rasenden Veränderungen in der ehemaligen Sowjetunion bereit, „sozialistische" Bedingungen aufzugeben? Immerhin erkennt er, daß tatsächlich eine neue Art von Leben in dem zerbrochenen Riesen-reich angebrochen ist.

Deswegen quälen den Staatspräsidenten doch Selbstzweifel. „Brauchte die Gesellschaft die Perestrojka oder ist das ein schicksalhafter Irrtum?" Mit der zweiten Frage gibt er sich fatalistisch: „Wie sind, da man sie nun einmal begonnen hat, die Ziele der Perestrojka zu erreichen?" Die Ziele der Gorbatschowschen Perestrojka konnten nicht erreicht werden, weil ein bißchen Marktwirtschaft, Demokratie ohne Parteien und parlamentarisches System, auf die sich das Volk verlassen kann, weil sie vom Volk legitimiert sind, nicht möglich ist.

Es ist bezeichnend, daß der Unionspolitiker, der bezüglich des Zieles der Perestrojka, aus der Sowjetunion einen kräftigen, lebensfähigen Staat sozialistischer Prägung innerhalb der Völkergemeinschaft zu machen, in seinen Ausführungen kaum auf Boris Jelzin und die Russische Republik zu sprechen kommt. So wird zumindest indirekt deutlich, wo die ärgsten Gegensätze der beiden Führungspersönlichkeiten liegen.

Zurück zur Eingangsfrage: Ich glaube, daß dieses Buch - im Gegensatz zu vielen ähnlichen der letzten Zeit -einen hohen Grad an Authentizität besitzt. Gorbatschows Denken wird klar, desgleichen auch die Tragik eines politischen Denkers, der im Rahmen einer bestimmten Ideologie, über deren Schatten er nie springen konnte, visionär sein wollte - und damit einen Prozeß ausgelöst hat, der über den Auslöser hinweggegangen ist.

DER STAATSSTREICH. Von Michail Gorbatschow. Bertelsmann Verlag, München 1991. 155 Seiten, öS 232,40.

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