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Lernen im Weltmaßstab

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Unsere Generation hat erkannt, hat erkennen müssen, daß erstmals in der Menschheitsgeschichte neben die lokalen, nationalen, regionalen und internationalen Probleme auch globale treten. Die Welt wird als Einheit begriffen, deren wissenschaftliche Erfassung mit Mitteln der Systemanalyse unternommen wird; eine Einheit, deren Entwicklung in globalen Strategien geplant wird. Bevölkerungsentwicklung, Weltwirtschaftswachstum, Rohstoffe, Energie, Nahrung, Umwelt, Gesundheit, Friede sind Komponenten eines globalen Systems, dessen Grenzen erkennbar sind.

Als der „Club of Rome“ vor einem halben Jahrzehnt erstmals in seiner Studie „Grenzen des Wachstums“ diese Aspekte eines globalen Denkens in die Diskussion warf, ging diese Andeutung einer neuen kopernikani- schen Wende im Streit um die Prognose zur Entwicklung der Rohstoffe unserer Erde unter. Inzwischen hat diese lose Vereinigung von Gelehrten die Mißverständnisse um jene erste Analyse geklärt. Der zweite Bericht „Die Menschheit am Wendepunkt“, von Mesarovic und Pestei (1974), deutete die neue Richtung an, zwei weitere („Die Wiederherstellung der internationalen Ordnung“ und „Goals for Mankind“) führen zur Zeit die Diskussion fort.

Für 1978 steht nun bereits der fünfte Bericht auf der Tagesordnung, mit dem Stichwort „Lernen“ aus dem wirtschaftlich-politischen Bereich in den kulturellen weiterführend. In einem Arbeitsgespräch auf Schloß Leopoldskron bei Salzburg fanden sich kürzlich die Mitarbeiter dieses Berichts zur ersten Fühlungnahme zusammen, erstmals auch West und Ost, Nord und Süd an einem Tisch. Auch Österreich ist zum ersten Mal an einer Studie des Club of Rome beteiligt.

Gleichgültig, ob eines der bisher entwickelten Weltmodelle im einzelnen tauglich ist oder nicht, es zählt der Blick fürs Ganze, der durch neue wissenschaftliche Methoden ermöglicht wird, das globale Denken, die Sorge um die Menschheit, die - von unserer Generation an - Krisen gemeinsam bewältigen lernen und die Entwicklung organisch und umfassend planen muß. „Als wir 1968“, sagen Aurelio Peccei und Alexander King im Nachwort zu „Menschheit am Wende punkt“, „begannen, die ,Weltproblematik1 zu erörtern, waren wir von dem - auch heute p,pc}i - fast unerforschten Zusammenwirken der wesentlichen Menschheitsprobleme tief beeindruckt, ebenso von der Tatsache, daß in nahezu jeglicher politischen Planung und politisch-wirtschaftlichen Regierungstätigkeit solche Zusammenhänge weitgehend ignoriert werden.“

Die „Weltproblematik“ drängt zu einem historischen Vergleich: Im europäischen Zeitalter der Nationswer- dung ging es um die wissenschaftliche Frage, wie ein Staat überhaupt entstehen kann; der Sozialkontrakt war das analytische und normative Mittel zur Erfassung der Staatsgenese.

Wie anders könnte aber auch die vernünftige Welteinheit entstehen? Für eine Menschheit, die in einigen grundlegenden Fragen das Schicksal gemeinsam meistern wird müssen, die den „Naturzustand“ - den Kampf aller gegen alle -, die nationalen Souveränitäten aufgeben wird und unter dem Prinzip der Gleichheit einen Gesellschaftsvertrag neuer Art, eben für die globalen Probleme der Welt, schließen soll? Die globalen Probleme schaffen die neue Basis für eine solche Solidarität.

Das Internationale Institut für Arbeitsstudien in Genf spricht bereits von der Notwendigkeit, „Solidaritätspakte“ abzuschließen. Der Universalismus, eine Richtung praktischer Philosophie, die für die Anerkennung der Menschenrechte und der Gleichheit der Völker, für die internationale Zusammenarbeit verantwortlich ist, Völkerbund und Vereinte Nationen grundlegte -, idealistisch und utopisch noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts -, hat eine neue Spielart entwickelt, die an den Realitäten der Weltlage ausgerichtet ist, die „Weltproblematik“ als den „Kriegszustand“ erkennt. „To avoid this state of war (wherein there is no appeal but to heaven…) is one great reason of mens’ putting themselves into society, and quitting the state of nature“ (John Locke, Secound Treatise on Civil Government).

Die Doktrinen des Sozialtrakts fallen in das Zeitalter der europäischen Aufklärung. Bedarf es nicht auch heute einer „neuen Aufklärung“? Wel- . che Herausforderung stellen die glo-

balen Probleme der Menschheit an die Erziehung und Bildung? Die eine Anforderung ist das Lehren und Lernen der globalen Fragen, der Zusammenhänge, der Abhängigkeiten, das Erfassen des Weltsystems mit den wissenschaftlichen Methoden und Apparaten, die das Erfassen möglich machen, die Vermittlung globalen Denkens. Die andere Anforderung ist aber eine neue Art von Menschenbildung, damit die Menschen mit globalen Problemen leben lernen, sie bewältigen und den neuen Gesellschaftsvertrag erfüllen können. Es sind Menschen zu erziehen, die Wendepunkte der Menschheit und Grenzen des Wachstums verstehe!) und durch Kreativität verändern können.

Das Konzept der neuen Bildung darf nicht auf die formale (Schul)bildung beschränkt bleiben; sie müßte alle Menschen, während ihres gesamten Lebens, erreichen, sie müßte Verstand, Herz und Hände einschließen, umfassend sein, den ganzen Menschen entwickeln. Sie müßte ausgerichtet sein auf die Verminderung der Unsicherheit in der Welt.

Die Studie „Lernen“ wird in ihrem wissenschaftlichen Teil die Lernprozesse des Individuums und der Kollektive ins Auge fassen: als Ziel der Bildung wird nicht Adaption, sondern Antezipation postuliert; denn die Theorie der Sozialisation ist zu erweitern um die Aussage, daß für die Gesellschaft der Zukunft nicht das Lernen und Erfahren bestehender gesellschaftlicher Prinzipien und die gesellschaftliche Kontinuität, sondern - um die gesellschaftliche Kontinuität zu erzielen - das Lernen von Innovationen erforderlich ist. Die Studie soll erforschen, ob und wie Gruppen und Gesellschaften lernen, welche Lernprozesse in internationalen Organisationen ablaufen, ob auch für Kollektive Sozialisationsprozesse erkennbar sind. Sie wird versuchen, Fragen zu beantworten, wie etwa, ob die Lernfähigkeit von Individuen und Gruppen verbessert werden kann, welche Beziehungen zwischen ökonomischer Entwicklung und Bildungsstandard bestehen, welche zwischen Bildungsinvestitionen und Arbeitslosigkeit, Beruf und Bildung, wie der menschliche Trieb nach Bildung in menschliche Entwicklung transformiert werden kann, wie das Recht auf Bildung - ein Menschenrecht! - in aller Welt, in den industrialisierten Ländern und in den Entwicklungsländern, verwirklicht werden soll.

Es sind grundsätzliche Fragen! Gestellt von einer Gruppe zukunftsorientierter Denker und Wissenschafter, die in ihrer täglichen Arbeit gewohnt sind, interdisziplinär zu forschen und sich zu verhalten. Und doch liegt in dem Konzept, beinahe klingt’s nach romantischer Ironie, die Reflexion auf die „alten“ Bildungsideale. Die Erziehungswissenschaften haben heute eine stürmische Entwicklung abgeschlossen, sie besinnen sich auf neue Ausgangspunkte.

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