6831420-1974_41_08.jpg
Digital In Arbeit

Nach Gandhi die Sintflut

19451960198020002020

Ende August riß Indien die uneingeschränkte Kontrolle über das Himalaja-Königtum Sikkim an sich. Zur gleichen Zeit mit dieser neuen Grenzsicherung gegen China stieg in Indien die Inflationsrate dieses Jahres auf 28 Prozent und die Nahrungsmittelaufbringung fiel unter den Stand des Dürrejahres 1S73. Das alte Rezept — außenpolitische Machtausbreitung gegen wirtschaftliches Desaster —, funktioniert es in dieser Tiefenlagc noch?

19451960198020002020

Ende August riß Indien die uneingeschränkte Kontrolle über das Himalaja-Königtum Sikkim an sich. Zur gleichen Zeit mit dieser neuen Grenzsicherung gegen China stieg in Indien die Inflationsrate dieses Jahres auf 28 Prozent und die Nahrungsmittelaufbringung fiel unter den Stand des Dürrejahres 1S73. Das alte Rezept — außenpolitische Machtausbreitung gegen wirtschaftliches Desaster —, funktioniert es in dieser Tiefenlagc noch?

Werbung
Werbung
Werbung

Der Gegensatz zwischen dem künstlich hochgetriebenen Groß- machtbewußtsein undrder wirtschaftlichen Realität treibt den Mittelstand in explosive Spannungen. Nur ein Mensch ist noch imstande, das Pandämonium aufzuhalten. Indira Gandhi — noch immer unersetzlich — jagt von Stadt zu Stadt und predigt Patriotismus, politischen und wirtschaftlichen. Doch ihre alten Formeln der Reform wagt sie selbst nicht zu wiederholen. Und immer mehr Menschen, besonders unter den Gandhi-Schülern, erkennen, daß die verzweifelte Situation von heute zum Teil die Folge von siebenundzwanzig Jahren einer verfehlten Wirtschaftspolitik ist. Die Verwirklichung von Nehrus Konzept der Entwicklung einer Großmachtindustrie nach sowjetischem Muster hat dem zu mehr als 80 Prozent an die Landwirtschaft gebundenen Agrarland Indien seine ursprüngliche Basis genommen; und die industriellen Branchen sind mangelhaft aufgepfropft worden. Der Nahrungsmittelmangel ist permanent und die industrielle Blüte ist nicht gekommen. Schwarzes Geld, das sterile Spekulantenkapital, in Maharashtra um 50 Proznet des zirkulierenden Kapitals, brachte eine Inflation aüs der Mangelwirtschaft in einem Land des Durchschnittseinkommens von 500 S zustande; 500 S monatlich — pro Familie! In der Zange zwischen Nahrungsmittelmangel und Inflation zieht Indira wieder alle Register der Ablenkung: Indien in einer Welt der Feinde; die Sowjetunion und einige Blocklose natürlich ausgenommen. Der Akzent liegt wieder auf den „interventionistischen” USA. Und gegen China ist alles gerichtet, auch die „Demokratisierung” Sikkims. „Sie glaubt”, sagte mir der militante Sozialisten- und Gewerkschaftsführer Georges Fernandez in Bombay, „mit miltä- rischer Macht kann man auch den eigenen Hunger stillen”. Und er meint seine Erbfeindin Indira.

In Kalkutta stellite mir der Anwalt Sen Gupta die „bengalische Tagesfrage”: „Was wachs rapider, das indische Imperium im Ausland oder die indische Inflation im Inland?” Er nennt dann, voll Sarkasmus und doch mit heimlichem Triumph, Indien „das Land der Superlative”. In Asien habe Indien in die sem Dezennium die erfolgreichste Machtpolitik verfolgt. Von allen Staaten sei Indien mit der steilsten Inflationskurve ausgezeichnet (die dritte auf der Welt-Inflations-Liste und mit der größten Bevölkerungsvermehrung. „Die stärkste Militärmacht, die größte Menschenmasse in Asien” (er meinte natürlich das nichtkommunistische Asien) „und die weiteste Lohn-Preis-Schere. Das ist doch Macht — oder nicht?” Sen Gupta ist in Bengalen ein legendärer Anwalt. Herkulisch gebaut, aus bester Brahmanenfamilie, mit feurigem Kshatrya-Kriegertemperament hat er als erste Tat den Ärmelkanal durchschwommen, dann die bengalischen Proteste gegen das koloniale, später gegen das Kongreß-Indien geführt. Als sich die Studenten von Kalkutta in die maoistische Rebellion gegen die Regierung stürzten, konnte nur ein Sen Gupta die Naxalitenführer vom bitterem Ende abbringen. Und als aus Ostpakistan 10 Millionen auf der Flucht vor der westpakistanischen Armee nach Kalkutta kamen, führte Sen Gupta fast im Alleingang die bengalische Solidaritätsbewegung, so daß die Flüchtlinge “den Winter überlebten. Bengalen-N ationalist, Bengalen-Sozialist, hatte Sen Gupta damals einige Sekunden lang an die Befreier und an die Großmacht Indien geglaubt. „Die Befreier von damals sind später im eigenen Wirtschaftsmorast abgesackt”, sagt er heute.

„Ohne Bengalen gibt es kein Indien. Ohne Intelligenzia gibt es kein Bengalen. Und Bengalen mit seiner Intelligenzia wird von der Inflation vernichtet; ist es Indiras Unglück, oder steckt auch Indiras Absicht dahinter?” Bengalens Intellekt ist rebellisch. Bengalens Intel- ligemzia ist — gegen ihren Willen und ihr Eingeständnis — in Haßliebe teilanglisiert. Beides liebt Indira Gandhi nur an sich selbst. Und nach der Sikkim-Annexion sagt der Bengalenpatriot Sen Gupta erschüttert: „Ich wollte, ich könnte sie überzeugen”, (und er meint seine alte Feindin Indira) „daß der genialste Meisterplan der Außen- und Machtpolitik ohne Bengalenjugend und auf der Grundlage des indischen Hungers und der indischen Inflation ganz wertlos ist.”

Wo alle Wirtschafts- und Reformpläne schon an der Unermeßlichkeit des Planungsobjektes scheitern, hat Indira tatsächlich einen außenpolitischen Meisterplan zustande gebracht. Von der Geistigkeit ihres Vaters Nehru vollständig unbelastet, beschränkte sie ihre Aufmarschstrategie auf den Subkontinent und konzentrierte sich auf ein machtpolitisches Ziel: Hier muß Indien politisch und militärisch die dominierende Macht sein, der einzige Machtfaktor im strategischen Kalkül der Supermächte. Indira hat gerade dieses Ziel erreicht, und damit die weltpolitische Bedeutung ihres Staates von seiner innen- und wirtschafts- politischen Situation losgelöst. Mit der Befreiung von Bangladesh wurde Indien die große Befreiermacht Südasiens. Indiras Republik blieb ihrer politisch so profitablen (freilich wirtschaftlich eher belastenden) Rolle treu. Zweieinhalb Jahre nach dem Ostbengalen befreienden Sieg über Pakistan folgte Indien dem Ruf der Demokraten in Sikkim und „befreite” die 200.000 Bürger am Himalaja vom Chogyal, ihrem König. Zwischen den beiden Befreiungen wurde noch eine Atombombe entzündet, um dem Befreierstaat das scharfe Profil einer Atommacht zu geben. Welcher Staat in Asien kann noch mit? Wer kann die indische Vorherrschaft in Südasien bezweifeln? Endlich hat das Trauma aus dem widerstandslosen Einmarsch der chinesischen Armee anno 1962 zu einer politischen Realität geführt — die Moskau tief befriedigt.

Wie gut Indiens „Befreierrolle” in Sikkim dem Asienkonzept Moskaus bekommt! 1949 hatte Nehru den Vorschlag einer Einverleibung Sikkims in die indische Republik entrüstet abgewiesen. Damals gab es noch nicht, zumindest für Nehru, die chinesische Gefahr, die sowjetisch-chinesische Harmonie schien ziemlich ungetrübt. Nach 1962, Indien hatte die Demütigung durch China hinnehmen müssen, die indische Wirtschaftsentwicklung enttäuschte alte Unabhängigkeitshoffnungen und die beiden kommunistischen Großmächte lagen sich in den Haaren, begannen die beiden Asiengiganten, China und Indien, um den 200.000 Berg- bauem-Staat zu rivalisieren. Peking bemühte sich eher um den König und um seine amerikanische Königin, die Inder um die „demokratischen Massen”. Ethnische Konflikte wurden angeheizt und im Frühjahr dieses Jahres brach dann in der Hauptstadt Ganktok der „Volkssturm” los. Dem Chogyal wurde eine Konstitution aufgezwungen. Die war zeitgerecht in Delhi verfaßt worden. Jetzt liegt die Macht in den Händen des indischen Residenten in Gangtok, aus dem Planungsministerium des sowjetfreundlichsten Ministers in Delhi. Wie gut doch die Kongreßführer ihre Sachen von der alten Kolonialmacht gelernt haben! Sikkim ist heute de facto — nach der eher kritischen Presse in Delhi —der 22. Staat der Indischen Union.

Indien hat China auf dem Subkontinent zweimal ausmanövriert, in Bangladesh und in Sikkim, und Moskau die Behandlung als ebenbürtiger Bündnispartner abgerungen. Breschnjews asiatischer Sicherheitsplan, die Einkreisung Chinas durch asiatische Mächte, ist auf dem Abschnitt Südasien durch Indien verwirklicht!

Dem außenpolitischen Weg zur asiatischen Großmacht steht aber die wirtschaftliche Talfahrt in den Abgirund gegenüber. Indiras Glück, daß niemand sagen kann, wo in Indien der Abgrund beginnt, wo der Sturz unaufhaltbar wird, wie tief die Talsole eigentlich ist. Inflation, Nahrungsmittelmangel, Spekulation und Korruption sind die schwarzen Markierungen. Auf der ganzen (nicht- kommunistischen) Welt herrscht Inflation durch Geldüberhang. Paradox hingegen ist die Inflation in dem Land der 400 Millionen Paupers.

Hier gibt es keine Selbstanklagen eines Wohlstandsbürgertums, sondern nur die Massenklage gegen die Regierung und das verfehlte Wirtschaftssystem. Inflation und Nahrungsmittelmangel sind Zwillinge wirtschaftspolitischer Herkunft. Von Stalins Fünfjahresplänen geblendet, stellte Nehru Gandhis Dorfwirtschaftspläne in die Andenkenvitrine: die Schwerindustrie als politischer und wirtschaftlicher Kern einer dem Sozialismus zustrebenden Großmacht!

Die Landwirtschaft wurde vernachlässigt und in dem indischen Fünf jahresplan sinken die landwirtschaftlichen Investitionsposten. Doch die landwirtschaftlichen Stützen und Finanziers der Kongreßregierungen durften unter keinen Umständen vernachlässigt werden. So entzogen Nehru und seine Nachfolger der Landwirtschaft die naturgegebenen Prioritäten und versahen zum Ausgleich die Dorfbourgeoisie mit Privilegien. Die grundbesitzerfreundliche Manipulation der Bodenreform führte tatsächlich zu Landstrichen voll eines blühenden Agrarkapitalismus. Die Neuerungen der Grünen Revolution, die Asien dienen sollten, dienten im indischen Dorf nur den wenigen, die teures Saatgut kaufen und mit ihren Ernten auf die schwarzen Märkte fahren konnten. Rund um die Besitzungen der Dorfreichen und Kongreßveteranen wuchs das Ödland der Dorfarmen und der Pächter einer gewaltlosen Landnahme entgegen.

Ein konsequenter Agrarkapitalismus hätte, um 1970, die Selbsternährung Indiens — wenn auch nicht die Ernährung jedes Inders — erreichen können. Doch es fehlte diesem Landkoloß mit seinen 600 Millionen Menschen an Einheitlichkeit und an Konsequenz. Die Mißernten von 1972 und 1973 trieben das Horten und die Spekulation in die Höhe und drückten die Emteaufbringung weit unter jene von 1970. 108 Millionen Tonnen war 1970 die Ernte schwer; in diesem Jahr wird sie auf 95 Millionen Tonnen sinken. Die Devisenlage Indiens und die Weltlage der Landwirtschaft drosselt immer mehr die Importmöglichkeiten für Stickstoff und Nahrungsmittel.

Schmuggel, Korruption und der Schwarze Markt mit Schwarzem Geld versorgt die dünne Schicht der Privilegierten. Die gute Feldbewirtschaftung ist längst das Privileg der wohlhabenden Landwirte und Geldverleiher, die ausreichende Nahrungsmittelversorgung das Privileg einer dünnen Schicht wohlhabender Verbraucher. Das allgemeine Motto der Produktions- und Marktpolitik: Wenig Waren zu hohen Preisen und nur für die Besitzenden in der Stadt und auf dem Land.

Märkte, gesteuert von Spekulanten für Spekulanten, sperren die Masse der Armen und der Verarmenden aus. Das sind die Früchte des Traumes’ von der mächtigen Schwerindustrie als Kern der sozialistischen Großmacht Indien

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung