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1900 Jahre alt

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Dieser freundlichen Seite stehen freilich tiefe Schattenseiten gegenüber. Dazu gehört: Die völlig ungleichmäßige Verteilung des Personals. In einer bestimmten Diözese Keralas, im Süden des Landes also, kommen auf einen Priester 542 NichtChristen; in einer Diözese des Nordens, in Uttar Pra-desh, kommen auf einen Priester 672.000 NichtChristen.

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Dieser freundlichen Seite stehen freilich tiefe Schattenseiten gegenüber. Dazu gehört: Die völlig ungleichmäßige Verteilung des Personals. In einer bestimmten Diözese Keralas, im Süden des Landes also, kommen auf einen Priester 542 NichtChristen; in einer Diözese des Nordens, in Uttar Pra-desh, kommen auf einen Priester 672.000 NichtChristen.

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Indien ist das größte Missionsland der katholischen Kirche, nachdem China verloren ist. Noch vor Ende dieses Jahrhunderts wird es — trotz aller Gegenmaßnahmen — die Tausend-Millionen-Grenze überschritten haben. Eine Milliarde Inder! Allein der jährliche Bevölkerungszuwachs von 12,5 Millionen übertrifft die Einwohnerzahl einer ganzen Reihe westlicher Staaten um ein Beträchtliches. Obwohl die größte Missionskirche der Welt, ist die indische doch eine apostolische Kirche. Sie führt ihren Ursprung auf den Apostel Thomas zurück; das Jahr 1972 ist dem 1900jährigen Jubiläum seines Märtyrertodes gewidmet.

Heute ist diese Kirche in ihr viertes Zeitalter eingetreten, in das Zeitalter, in dem sie sich als selbständige, aus eigener Lebenskraft ihre Sendung erfüllende Kirche vollenden muß oder in dem andernfalls die Grundlagen ihrer Existenz zerfallen werden. Weitgehend wird das künftige Schicksal der indischen Kirche vom politischen Schicksal des Subkontinentes abhängen. Eine einfache Formel lautet: China plus Indien oder China minus Indien? Wird Indien in den roten Osten eingeschlossen oder nicht?

• Das erste Zeitalter der indischen Kirche war das des heiligen Thomas und der syrischen Handelsleute, die den Grundstein legten, auf dem nachfolgende Wellen christlicher Einwanderer aufbauten. Diese syrische Kirche, die sich an der äußersten Südwestspitze Indiens, in Ke-rala, bildete, war nach dem Nahen Osten — Mesopotamien — orientiert, nicht nach Rom. Sie blieb auf die höheren Kasten beschränkt und verbreitete sich nicht außerhalb Keralas. Obwohl ausschließlich von Bischöfen und Priestern aus Mesopotamien abhängig, hielt sie sich doch inmitten von Hinduismus, vordringendem Islam und christlichen Häresien die Jahrhunderte hindurch intakt.

• Als zweites Zeitalter der indischen Kirche folgt die Padroado-Mission der Portugiesen im 16. und 17. Jahrhundert. Nach eineinhalbtausend Jahren, von denen wir wenig wissen, trat Indien erstmals in das Schwerefeld der gewaltigen westlichen Missionsbewegung, die in Franz Xaver ihren Höhepunkt erreicht und dem fernen Subkontinent den zweiten Apostel gibt. In ihr steht Himmlisches neben Irdischem, mischen sich die Interessen des Papstes und des Königs von Portugal, vermengen sich unentwirrbar politischer und missionarischer Ausdehnungsdrang.

Diese Padroado-Mission hat die Grundstrukturen der indischen Kirche aufgebaut, ihre Bastionen an der Westküste (Goa, Mangalore, Bassein-Bombay) geschaffen, neue Territorien an der Südküste in Tamil-nad gewonnen und in geringerem Maße christliche Stützpunkte an der Ostküste bis hinauf nach Hoogly (Kalkutta) gebildet. Die Padroado-Christen haben alle Bewährungsproben der Jahrhunderte überstanden.

Aber diese Missionswelle war kurzlebig. Nach eineinhalb Jahrhunderten brach sie, aufgebaut auf das kleine Portugal, zusammen. Die entscheidendsten, bis heute tief nachwirkenden Niederlagen erlitt die indische Kirche auf zwei Gebieten:

1. Die Spannungen mit den Syrern führten zum Bruch mit einem großen Teil der syrischen Kirche, der bis heute nicht geheilt ist und selbst in den mit Rom vereinten Syrern ein gewisses Trauma hinterlassen hat.

2. Auf dem Gebiet der Missionsstrategie unterlag De Nobilis kühner Versuch der „Akkomodation“ des westlichen Christentums an den ideengeschichtlichen und kulturellen Hintergrund Indiens im Streit der Geister. Was übrig blieb, war ein westlich geformtes Christentum, das einem kulturell überlegenen Osten gegenübertrat — und auf weitgehendste Ablehnung stieß. Dem Höhepunkt der Padroado-Mission folgte fast unvermittelt ein Tiefstand, der eineinhalb Jahrhunderte dauerte, bis er von einer neuen Missionswelle abgelöst wurde.

• Die dritte Epoche der indischen Kirche ist die Zeit der systematischen, in Rom zentralisierten Mission. Vor diesem Zeitpunkt war in den unendlichen Räumen Nordindiens nie mehr als ein Dutzend Missionare gewesen, die auf Ochsenkarren Entfernungen zurücklegten, für die selbst heute noch ein Düsenjet zwei Stunden braucht. Erstmals nun stieß die Kirche an die Nord-und Ost- und Westgrenze Indiens vor, und langsam bildeten sich aus den weißen Flächen der Missionskarte Apostolische Präfekturen und Vikariate heraus, die heute Bistümer und Erzbistümer sind.

Bis zum ersten Weltkrieg wurde diese Missionsbewegung von einem starken zivilisatorischen Sendungsbewußtsein des Westens getragen, der sich über die vollendeckte Erde auszudehnen suchte. Mit dem Glauben wollte man Erziehung, Gesundheit, Technik und was nicht alles den „unterentwickelten Ländern“ bringen. In Indien rannte sich diese Missionsbewegung bald fest. Sie hat unendlich viel Gutes getan, die besten Schulen, Krankenhäuser und technischen Anlagen gebaut und die Fundamente des modernen indischen Staates miterrichtet (75 Prozent der Gesetzgeber des ersten indischen Parlaments waren durch „Missionsschulen“ gegangen).

Auch in territorialer Hinsicht hat diese Missionsepoche zwei schöne Erfolge zu verzeichnen: Sie pflanzte die Kirche im Adivasi-Gürtel von Chota Nagpur (d. h. bei den Ureinwohnern des Ranchi-Gebietes, das heute ein modernes Stahlzentrum wird) und in Assam. Die Ranchi-Mission wurde der größte Erfolg nach Franz Xaver; die Zahl ihrer Katholiken dürfte die Millionengrenze überschritten haben.

Trotzdem ist der Durchbruch zum Kern des Problems nicht gelungen. Hindusimus und (in Pakistan) Islam verdrängten die christlichen Kirchen am Ende in eine Defensivhaltung, die in manchen Gegenden des Nordens an eine Existenzfrage herankommt. Im großen und ganzen jedoch hat die indische Kirche mit dem Unabhängigwerden des Landes ihre Bewährungsprobe besser überstanden, als man je zu hoffen gewagt hätte.

• Das vierte Zeitalter nun ist das einer indischen Kirche, die gestützt ist auf indisches Personal und indische Finanzen, geboren aus einer neuen Sicht ihrer Sendung und darum integriert in indische Kultur und indisches Denken und ausgerichtet auf den entscheidenden Aufbau der indischen Nation, den die Kirche als einen Bestandteil ihrer Mission betrachtet, „den ganzen Menschen in Christus zu erlösen“.

Viel Nachwuchs

Der erste Eindruck ist, daß die indische Kirche mit einer außerordentlich günstigen Personalsituation in die neue, rein indische Phase ihrer Geschichte eintritt. Die Anzeichen der im Westen allgegenwärtigen Berufskrise haben die indischen Küsten noch kaum erreicht, obwohl sich die Situation in fünf Jahren wesentlich ändern mag. Die letzten für die Periode von 1959 bis 1968 erhältlichen Zahlen zeigen einen Zuwachs auf allen Berufssektoren von nicht weniger als 50 Prozent an, bei den Schwestern sogar einen Rekordzuwachs 74 Prozent; der Diözesan-klerus ist um 49 Prozent gewachsen, die geistlichen Orden und Gesellschaften (in denen es gleichzeitig Priester und Brüder gibt) um 51,6 Prozent und die unabhängigen Brüderorden um 50 Prozent.

• Die prekäre Lage der ausländischen Missionare: Ihre Sanduhr läuft unweigerlich ab, und der Verlust von mehr als 1500 ausländischen Patres, Brüdern und Schwestern wird auf weite Sicht den erhofften Zuwachs an indischem Personal zunichte machen. Die psychologische Belastung und Unsicherheit, unter der viele dieser Missionare leben, ist vielleicht das schwerste Stück ihrer missionarischen Berufung.

• Die Abwesenheit der betrachtenden Orden: Diese Abwesenheit des kontemplativen Elements (nur 1 Prozent der Orden, meist Frauen) hat der Kirche in Indien, dem Mutterland der Kontemplation, eine Dimension genommen, die von größter Eindruckskraft auf die Hindus ist. Deshalb hat das „All India Semi-nary“ 1969 mit Nachdruck den Aufbau von „Ashrams“ gefordert — Stätten, die der Besinnung auf das Ewige geweiht sind und zugleich dem Dienst am Nächsten. Sie wollen die uralte Tradition des einfachen Lebens in enger Verbindung mit der Natur und den Menschen ringsum wieder aufnehmen und in den Dienst der Botschaft vom Himmelreich stellen.

• Das noch nicht neuorientierte Apo-_stolat: Der Einsatz konzentriert sich wie in keinem anderen Missionsland auf die Erziehung. Die christliche Minderheit (2,4 Prozent) hat in Indien nach dem Staat das größte Erziehungsnetz mit 46.000 Schulen aller Grade und jährlich 6 Millionen Schülern. Moderne Formen des spezialisierten Apostolates jedoch wie das der Massenmedien, der Heranbildung einer Laienführerschicht, der Sorge für die Studenten usw. liegen fast alle außerhalb eines organisierten Apostolates; das dafür eingesetzte Personal ist meist unter der 1-Prozent-Grenze. Seltsamerweise liegt im größten Missionsland der Kirche auch die eigentliche „missio ad paganos“ unter 3 Prozent, wenn man als Maßstab den Volleinsatz für diese Arbeit nimmt.

Eine Milliarde NichtChristen

Selbst unter sorgfältigster Ausnutzung aller Personalquellen wird die indische Kirche sich bald vor ein unlösbares Problem gestellt sehen: das astronomische Mißverhältnis zwischen der Aufgabe (1 Milliarde NichtChristen im Jahr 2000!) und den wenigen verfügbaren Kräften. Ohne einen Großeinsatz der christlichen Laien wird die indische Kirche nie und nimmer der Riesenaufgabe gerecht, die ihr die Zukunft bringt. Mit einem Minimum kirchlicher Strukturen, Personal und Finanzen, aber' mit einer Laienwelt, die ein apostolisches Sendungsbewußtsein hat, wird man vermutlich ganz andere Erfolge erzielen als mit der kostspieligen, schwerfälligen Maschinerie der „katholischen Missionen“, wie sie sich in den letzten Jahrhunderten entwickelt hat.

Finanzen sind — auch — in der indischen Kirche ein Geheimnis, das wie ein Beichtgeheimnis gehütet wird. Ein Wunder der Vorsehung war, daß diese Finanzen bisher immer kamen; die große Frage der Zukunft ist, ob dieses Wunder sich auch weiterhin so selbstverständlich wiederholen- wird. Auch könnte aus politischen Gründen die finanzielle Freiheit der Kirche beschnitten werden. Einige der grundlegendsten Folgerungen, die sich aus dieser Situation für die künftige Finanzpolitik der Kirche ergeben, sind daher:

1. Der Nachdruck muß von direkter Hilfeleistung auf langfristige Entwicklungsprojekte verschoben werden, die der Kirche und dem Land auf weite Sicht Hilfe bringen.

2. Es wird hohe Zeit, daß nicht alle einkommenden Gaben einfach in Hilfsaktionen und Projekte umgesetzt werden. Was dringend gebraucht wird, ist ein Reservefonds, eine finanzielle Rücklage, die hilft, die lebenswichtigsten Einrichtungen und Funktionen der Kirche — zum Beispiel die Seminare — zu erhalten, wenn Hilfe von außen langsam oder plötzlich gestoppt oder vermindert würde. Natürlich dürfte diese Reserve kein totes Kapital sein, sondern müßte Zinsen tragen.

3. Es sollte allen Ernstes vorausgeplant werden für eine Zeit, in der Erziehung, Gesundheits- und Sozialwesen logischerweise unter die Kontrolle des Staates fallen und nicht länger ein Privileg privater Organisationen wie der christlichen Kirchen sind.

4. Gerade der gewaltige Einsatz finanzieller Mittel für christliche Caritas hat in Indien in steigendem Maße zu Verdächtigungen der dahinter stehenden Motive geführt und wesentlich zu der gegenwärtigen Missionskrise beigetragen. Ein Aufklärungsfeldzug über die wirklichen Ziele dieser finanziellen Hilfe müßte deshalb gestartet werden. Er sollte aber auch die ausländischen Spenderorganisationen erfassen und ihnen zu Bewußtsein bringen, daß sich so manches in Indien ganz anders auswirkt, als man sich das vielleicht daheim gedacht hat.

Außer den äußeren Faktoren wie Personal und Finanzen wird vor allem die Vorstellung, die man von der Sendung der Kirche für das Indien von heute und morgen hat, die Zukunft der indischen Kirche mitbestimmen. Entscheidend ist die Antwort auf die beiden folgenden Fragen:

1. Wie läßt sich das Christentum nicht nur in die kulturelle, sondern vor allem in die religiöse Welt Indiens einbauen? Oder stehen sich Christentum und Hindusimus wie Tag und Nacht gegenüber? Hier werden theologische Probleme in einer Tiefe aufgerissen, die es nur selten im Lauf der 2000jährigen Geschichte des Christentums gab — vergleichsweise etwa, als es der griechischen Welt begegnete.

2. Wie läßt sich das Christentum zu einer Kraft umformen, die die Welt des neuen Indien mit aufbaut? Sehr zutreffend hat Mahatma Gandhi gesagt: „Es ist ein Sakrileg, einem verhungernden Menschen das Evangelium zu predigen.“

Noch werden diese Fragen nur von einem kleinen Kreis von Klerikern, Theoretikern, Fachleuten gestellt. Noch wühlen sie die indische Kirche nicht zutiefst auf. Noch lassen sie die Laienwelt zum großen Teil ganz und gar unberührt. Noch ist die Antwort nicht sichtbar geworden, die der Geist Christi in der Kirche Indiens und durch die Kirche Indiens auf die Lebensfragen gibt. Selbst wo die ersten charismatischen Anrufe hörbar werden — wie in Ordensgemeinschaften, die von den Straßen die Sterbenden und die weggeworfenen Kinder auflesen —, bleibt doch der ganze tragende Hintergrund wiederum so ganz un-indisch, einer fremden Welt entnommen. Trotzdem: Wo immer man heute durch Indien geht, spürt man: Es kommt. Etwas Neues, etwas Indisches. Vielleicht ist es die Frucht einer langen Evolution, vielleicht das Kind einer Revolution...

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